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Emil Angehrn, Joachim Küchenhoff (Hrsg.): Die Vermessung der Seele

Rezensiert von Prof. Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke, 11.11.2009

Emil Angehrn, Joachim Küchenhoff (Hrsg.): Die Vermessung der Seele. Konzepte des Selbst in Philosophie und Psychoanalyse. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2009. 300 Seiten. ISBN 978-3-938808-66-5. 29,90 EUR. CH: 49,90 sFr.

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Thema und Zielsetzung

Zentrales Thema des Buches von Emil Angehrn und Joachim Küchenhoff ist die Frage nach dem menschlichen Selbst. Die Subjektivitätsphilosophie mit ihrer Frage nach der Konstitution und den Grenzen des Selbst wird mit zwei Außenperspektiven konfrontiert: Die Beschäftigung der Philosophie und Psychoanalyse mit der Macht des Bewusstseins und darüber hinaus die Herausforderung dieses Plots in Philosophie und Psychoanalyse durch die modernen Neurowissenschaften.

Entstehungshintergrund

Die Beiträge des Buches beruhen auf Vorträgen einer interdisziplinären Tagung im September 2007 auf dem Landgut Castelen in Augst bei Basel (BL), auf dem sich die Autoren zu einer interdisziplinären wissenschaftlichen Tagung trafen.

Herausgeber und Autoren

Vermessen wurde die Seele von den Herausgebern Emil Angehrn und Joachim Küchenhoff und zahlreichen namhaften weiteren Autoren.

Prof. Dr. phil. Emil Angehrn studierte Philosophie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Löwen und Heidelberg, promovierte 1976 in Heidelberg und habilitierte mit einer Schrift über „Geschichte und Identität“ 1983 an der Freien Universität Berlin. 1989 bekam er eine Professur für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und erhielt 1991 einen Ruf nach Basel, wo er seitdem als Ordinarius für Geschichte der Philosophie und zeitweise als Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät und als Mitglied des Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds wirkte.

Prof. Dr. med. Joachim Küchenhoff studierte Medizin und Philosophie in Würzburg, Heidelberg und Glasgow. Seine Facharztausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und psychosomatische Medizin absolvierte er in Weinsberg und Heidelberg, wo er 1992 habilitierte. Er ist Psychoanalytiker, seit 1994 Leitender Arzt der Abteilung Psychotherapie der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel (BS) und seit 2007 Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Liestal (BL).

Beide veröffentlichten eine Vielzahl von wissenschaftlichen Aufsätzen, Buchbeiträgen und Monographien.

Aufbau und Inhalt

Die 300 Seiten des Buches bestehen aus Beiträgen zahlreicher namhafter Autoren aus Philosophie und Psychoanalyse. Das Werk ist in drei Teile aufgeteilt, von denen

  • der erste „Historische Positionen“ erkundet,
  • der zweite sich mit den „Herausforderungen für die Neurowissenschaften“ beschäftigt und
  • der dritte über mögliche „Konstruktionen des Selbst in Philosophie und Psychoanalyse“ informiert.

Nach einer übersichtlichen Einleitung beginnt Thomas Buchheim mit einem Kapitel über die Existenz und den Modus der Seele bei Aristoteles. Heraklit folgend („Grenzen der Seele könntest Du im Gehen nicht herausfinden…“) wird hier deutlich, dass die Seele für Aristoteles einen besonderen Stellenwert innehatte und alles in der Welt im innersten Kern „beseelt“. Bereits hier wird gefragt, ob sich die aristotelische Perspektive unter den Bedingungen der modernen Neurowissenschaften aufrechterhalten lässt.

Ursula Renz berichtet über „Rationalismus mit und ohne Grenzen. Zur Erklärbarkeit von Erfahrung bei Descartes, Hobbes und Spinoza. Sie zeigt auf, wie das Seelenkonzept nach Aristoteles in der frühen Neuzeit zunehmend von der Abgrenzung von Subjektivität und Objektivität sowie Materialismus und Rationalismus gespalten und neu spezifiziert wird. Hierzu führt sie „Descartes’ begrenzten Rationalismus“, „Hobbes’ reduktionistischen Naturalismus“ und „Spinozas Konzeption des Mentalen als Folge eines unbegrenzten Rationalismus an“.

Lore Hühn zeigt in ihrem Kapitel über „Die philosophische Entwirklichung des Selbst“ die Kritik Kirkegaards am spekulativen Subjektivitätsbegriff Hegels auf, wobei der Zwist zwischen Materialismus und Rationalismus erneut deutlich wird.

Darauf folgend widmet sich Rudolf Bernet dem Leib-Seele-Problem in der Phänomenologie Edmund Husserls und Henri Bergsons, dem bedeutenden Vordenker des Existentialismus. Bernet stellt seelisches und leibliches Bewusstsein zunächst getrennt voneinander dar, berichtet vom „Widersinn des psychophysischen Parallelismus“ und arbeitet die Interaktionalität von Leib und Seele bei Husserl und Bergson heraus.

Den zweiten Abschnitt des Buches über die „Herausforderungen für die Neurowissenschaften“ beginnt Daniel Hell mit einem Kapitel „Zur Naturalisierung der Subjektivität“. Plot ist die Zurückdrängung des genuinen seelischen Erlebens durch Erkenntnisgewinn in Medizin, Psychiatrie und Psychologie. Er weist auf die Gefahren der neurowissenschaftlichen Naturalisierung der Subjektivität hin, steigt in die Debatte der Materialisierung und Neurobiologisierung des (Ich-) Bewusstseins ein und betont den Primat des holistischen Menschseins.

Vom Nutzen der Neurobiologie für die Erforschung der Seele“ berichtet Peter Hennigsen als Gegengewicht zum Kapitel von Daniel Hell. Er informiert über neurobiologische Erkenntnisse zur Wahrnehmung von Selbst und Außenwelt anhand des motorischen Systems und der Schmerzwahrnehmung und interpretiert jüngste neurowissenschaftliche Erkenntnisse.

Michael Pauen schildert „Das Problem des Selbst in den Neurowissenschaften und der Philosophie des Geistes“. Nach einem kurzen historischen Abriss über Seelenvorstellungen beschreibt Pauen den Begriff und das Problem des Selbst. Nach einer Auseinandersetzung mit dem Selbst und dem Bewusstsein führt er empirische Erkenntnisse an.

Der dritte Abschnitt über „Konstruktionen des Selbst in Philosophie und Psychoanalyse“ wird von Emil Angehrn mit einem Kapitel über „Selbstsein und Selbstverständigung“ begonnen. Angehrn schildert, wie sich das reine Selbst über die Entwicklung einer Beschäftigung und Verständigung mit und über sich selbst herauskristallisiert; relevant ist demnach vor allem die theoretische und praktische Selbst-Reflexivität, die durch (Selbst-) Erkenntnis zu (Selbst-) Konstruktion und (Selbst-) Sein führt.

Das Kapitel von Brigitte Boothe über „Die narrative Mitteilung als Seelensprache“ schmiegt sich metaphysisch an das Vorangegangene an, indem es darstellt, wie der Modus der Narration durch Erinnern, Berichten, Erzählen, Urteilen und Handeln in einer Art Metamorphose nicht nur dem Selbst die Welt erschließt, sondern auch zum Selbst führt.

Peter Welsens Kapitel über „Die Figuration des Selbst im Spannungsfeld zwischen Kraft und Sinn“ schlägt mit Paul Ricoeur die Brücke von Philosophie zu Psychoanalyse, mithilfe der er eine bessere Möglichkeit des interpretierenden Zugangs zum Selbst sieht.

Im nächsten Kapitel zur „Konstruktion und Dekonstruktion des Selbst“ von Rolf-Peter Warsitz geht es um neuere philosophische, psychoanalytische, neurowissenschaftliche und soziologisch anmutende Wege zum Selbst. Hier finden zunächst vor allem neurowissenschaftliche Erkenntnisse viel hermeneutischen Raum.

Raymond Borens informiert anschließend über „Die Unabschließbarkeit der Subjektkonstitution“ und greift auf den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan zurück. Hier wird die Unbefriedigbarkeit und damit die Unabschließbarkeit des Selbst thematisiert und mithilfe der Fallgeschichte einer Patientin illustriert und analysiert.

Den Abschluss des dritten Abschnitts bildet ein Kapitel von Joachim Küchenhoff über „Die Grenzen des Selbst“. Hier wird dargestellt, dass das Selbst gerade nicht im Elfenbeinturm des geistigen Solipismus konstituiert wird, sondern zum einen im Bezug auf den eigenen Körper und zum anderen im Bezug auf Andere – die soziale Umwelt – konstituiert wird.

Zielgruppe

Das Buch spricht eine breite Leserschaft an. Es stellt Erkenntnisse aus Philosophie, Psychoanalyse und nicht zuletzt Neurowissenschaften dar und ist für Jedermann eine Bereicherung, der Interesse an einer hochaktuellen Thematik mit uralten Wurzeln zeigt, die im vorliegenden Werk keineswegs nur auf Philosophen und Psychoanalytiker zugeschnitten ist.

Fazit

Die von Emil Angehrn und Joachim Küchenhoff herausgegebene und mitgestaltete „Vermessung der Seele“ enthält Beiträge vieler namhafter Autoren aus Philosophie und Psychoanalyse und stellt die Frage nach dem menschlichen Selbst; eine uralte Thematik, die durch aktuelle neurowissenschaftliche Erkenntnisse in neuem Licht erscheint und durch die Autoren ausgewogen und gut verständlich behandelt wird.

Wenn auch hier die Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Selbst nicht abschließend gegeben werden kann, so liefern die Autoren doch einen aktuellen und gelungenen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage.

Rezension von
Prof. Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke
M.A. Professur für Medizin in Sozialer Arbeit, Bildung und Erziehung. Hochschule der Bundesagentur für Arbeit Mannheim
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Es gibt 74 Rezensionen von Andreas G. Franke.

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Zitiervorschlag
Andreas G. Franke. Rezension vom 11.11.2009 zu: Emil Angehrn, Joachim Küchenhoff (Hrsg.): Die Vermessung der Seele. Konzepte des Selbst in Philosophie und Psychoanalyse. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2009. ISBN 978-3-938808-66-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8046.php, Datum des Zugriffs 07.12.2024.


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