Ilka Quindeau: Verführung und Begehren
Rezensiert von Prof. Dr. Margret Dörr, 14.05.2010
Ilka Quindeau: Verführung und Begehren. Die psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2008. 320 Seiten. ISBN 978-3-608-94486-0. 34,00 EUR. CH: 57,00 sFr.
Thema
Bisherige psychoanalytische Theorien gehen von einer starren Zweiteilung des Geschlechterverhältnisses aus und betonen die Unterschiede zwischen Mann und Frau. Auf der Basis einer konstruktiv-kritischen Auseinandersetzung mit Freuds Sexualtheorie sowie zahlreichen prominenten Neufassungen der psychoanalytischen Sexualtheorie formuliert Ilka Quindeau ein geschlechtsübergreifendes Modell menschlicher Sexualität. Mit ihrem Nachdenken versucht sie die fortschrittsoptimistische Erwartung auf eine neue, entspannte und weniger auf Abgrenzung bedachte Qualität des Geschlechterverhältnisses sexualtheoretisch einzufangen. Dabei berücksichtigt sie die gesellschaftlichen Transformationsprozesse – Stichworte: Enttraditionalisierung, Entstandardisierung, Pluralisierung, Säkularisierung – die auf sexuelle Lebensformen von Männern und Frauen in unserer heutigen Gesellschaft einen „in den Körper eingeschriebenen“ Einfluss haben.
Autorin
Dr. Ilka Quindeau ist habilitierte Soziologin und Psychoanalytikerin (DPV/IPV). Sie arbeitet als Professorin für Klinische Psychologie an der Fachhochschule Frankfurt, FB Soziale Arbeit und Gesundheit sowie in eigener psychoanalytischen Praxis.
Aufbau
Das vorliegende Buch ist in drei Hauptkapitel gegliedert: Das erste handelt von Ursprung und Entstehung der Sexualität; das zweite stellt die Frage nach dem Geschlechtsunterschied in den Mittelpunkt und untersucht männliche und weibliche Sexualität und im dritten Kapitel betrachtet Quindeau die sexuelle Orientierung unter den Stichworten Hetero-, Homosexualität und Perversionen. Gerahmt werden diese drei Hauptbereiche durch eine gehaltvolle Einleitung, mit der die Autorin ihre sexualtheoretischen Überlegungen in einen sozialkulturellen Horizont verortet und einen prägnanten Überblick über die Zielsetzung und Etappen ihrer Untersuchung bietet. Den Abschluss bildet eine Zusammenschau der entfalteten Argumentation und wirft Schlaglichter auf die psychoanalytische Sexualtheorie, die auch Relevanz für die klinische Praxis haben.
Inhalt
Im Kapitel I „Verführung, Begehren und Sexualität“ nimmt Ilka Quindeau die Leserin mit auf eine Entdeckungsreise durch die psychoanalytischen Theorien zur Sexualität. Dabei gibt sie einen Einblick in die Unentschiedenheit der Freudschen Überlegungen zum Ursprung der Sexualität. Mit einer detaillierten Betrachtung der Verführungstheorie in Freuds frühen Schriften sowie mit dezidierter Bezugnahme auf die Weiterentwicklung dieser Denkrichtung von Jean Laplanche und des Freudschen Konzepts der „Nachträglichkeit“ eröffnet sie das Panorama auf die interpersonale Beziehung. Damit ermöglicht sie den Einfluss des Anderen auf die Entstehung der Sexualität zu erkennen und die „Universalität der Verführung – Desideratus ergo sum“ als grundlegende Struktur menschlichen Daseins zu begreifen: Sexualität entsteht in einem sozialen Prozess als Antwort des Kindes auf das vorgängige Begehrtwerden durch die frühen Bezugspersonen. Dieser Prozess geschieht unbewusst, er ist vorsprachlich und beruht auf „senso-motorisch-organismische Interaktionsformen“. In dieser Perspektive wird das Begehren als materiale „Einschreibung“ in den Körper sichtbar (vgl. Lorenzer). Die Erfahrungen von Lust und Befriedigung erschaffen den sexuell erregbaren Körper und die Wünsche des Kindes nach Befriedigung sind an grundlegende Körperprozesse und -erfahrungen gebunden: Oralität, Analität, Phallizität sind verschiedene Ausdrucksformen menschlicher Sexualität, die zu bestimmten Zeitpunkten entstehen und bestehen bleiben, auch wenn sie - zu einem Teil - im Laufe eines Lebens neuen Umschriften unterliegen können. Zudem eröffnet die Autorin mit dem Konzept der Nachträglichkeit ein Verständnis für die Sexualentwicklung von uns Menschen, die nicht einfach aus einer (quasi kausalen) linearen Zeitfolge hervorgeht. Sichtbar wird eine komplexe zeitliche Bewegung, die sowohl von der Gegenwart in die Vergangenheit wirkt als auch umgekehrt von der Vergangenheit in die Gegenwart hineingreift. Hierbei bilden die frühkindlichen Erfahrungen mit den verschiedenen Lust- und Befriedigungsmodalitäten den Rahmen, in dem sich die erwachsene Sexualität als Neu- und Umgestaltung im Sinne von Umschriften ausbildet. Den Abschluss dieses ersten Kapitels bildet die Diskussion um diverse Varianten infantiler Sexualität einschließlich einer Auseinandersetzung mit Konzeptionen über den (nicht linearen) Übergang zur Erwachsenensexualität.
Während der bisherige psychoanalytische Diskurs von einer starren Zweiteilung des Geschlechterverhältnisses ausgeht und die Unterschiede zwischen Männern und Frauen betont, hinterfragt Ilka Quindeau in Kapitel II Männlich – Weiblich diese binäre Kodierung der Geschlechterzugehörigkeit. Sie zeigt die Schwierigkeiten auf, männliche und weibliche Sexualität zu bestimmen und zeichnet kenntnisreich und anerkennend die vielgestaltigen Kontroversen zu Freuds Weiblichkeitskonzept nach. Dabei legt sie einen – durch Freuds Vorstellung der „konstitutionellen Bisexualität“ angeregten – gut durchdachten Pfad durch die Landschaft zahlreicher renommierter und einflussreicher psychoanalytischer Sexualtheorien, der auch für ein differenzierteres psychoanalytisches Verständnis der Phänomene Transsexualität sowie Intersexualität genutzt werden kann. Auf diesem Weg ist sie entschieden mit den bereits frühen und späteren Kritikerinnen des Freudschen „Phallozentrismus“ einig. Gleichwohl grenzt sie sich durch ihre konsequente Bezugnahme auf das Konzept der Bisexualität anschaulich und gut begründet von der inzwischen etablierten Vorstellung einer eigenständigen weiblichen und männlichen Sexualität ab. Damit wird der Geschlechtsunterschied nicht aufgehoben, aber er verliert seine scheinbare Eindeutigkeit und vor allem seine Totalität: Weder psychisch noch biologisch – so die Autorin – kann von einer reinen Männlichkeit oder Weiblichkeit gesprochen werden. Die Geschlechtsidentität von Frauen und Männern formt sich in einem lebenslangen Prozess. Geschlechtsidentität kann als eine Hülle gesehen werden, in der weibliche und männliche Anteile in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen aufbewahrt sind. Diese Vielfalt entsteht durch körperliche Faktoren ebenso wie durch Identifizierungen mit beiden Eltern. Im Prozess ihrer Argumentation, die sowohl aus der theoretischen als auch aus der therapeutischen Perspektive erfolgt, erörtert Quindeau, welche Bedeutung dem körperlichen Dimorphismus, der Generativität, den Phantasien (phallische und rezeptive Züge) und den Identifizierungen zukommt. Das Kapitel schließt mit einer dezidierten Kritik an der derzeitigen Tendenz zur Entsexualisierung des Geschlechterdiskurses und macht noch einmal auf die unaufhebbare Geschlechterspannung (in jedem einzelnen Subjekt) aufmerksam: Eine psychoanalytische Sexualtheorie, die ihre Prämisse des dynamischen Unbewussten ernst nimmt, kann Sexualität nur geschlechtsübergreifend im Sinne der Geschlechterspannung konzipieren. Im Unbewussten gibt es keine Negation, Widersprüche bestehen nebeneinander; insofern gibt es im Unbewussten auch keine dichotome Unterscheidung von Männlichkeit und Weiblichkeit.
Im III Kapitel Homosexualität, Heterosexualität, Perversion wendet sich Ilka Quindeau der „Objektwahl“ zu. Dazu konzipiert sie diese drei Sexualformen als verschiedene, aber psychisch gleichwertige Varianten der Objektwahl und vermeidet auf diese Weise die gängige normative Hierarchisierung der Sexualformen. Unter Bezugnahme auf neuere Ergebnisse sexualwissenschaftlicher Studien (eine Veränderung der sexuellen Orientierung ergeben sich im Prinzip in jedem Lebensalter) äußert sie ihre Zweifel am bisherigen Konsens im psychoanalytischen Diskurs. Dieser postuliert die Festlegung der sexuellen Geschlechtspartner-Orientierung im Kindesalter, spätestens in der Adoleszenz. Auch in diesem Abschnitt rekurriert die Autorin auf die frühen Schriften von Freud und hebt die für die Objektwahl wesentliche Rolle der Erinnerungsbilder aus frühesten Mutter-Kind-Interaktionen hervor. Über die Entzifferung sowohl des heterosexuellen- als auch des homosexuellen Begehrens kann sie die strukturellen Gemeinsamkeiten dieser Entwicklungsaufgaben kenntlich machen. Im Abschnitt zur Perversion greift die Autorin die derzeitigen Auswirkungen der dritten „sexuellen Revolution“ auf, durch die ehemals als anstößig geltende und durch pathologische Zuschreibungen begriffene Sexualformen „normalisiert“ wurden. Unter Bezugnahme auf konträre Konzeptionalisierungen von Perversionen (u.a Morgenthaler, McDougall, Chassequet-Smirgel, Stoller), einem Phänomen, an dem sich sowohl die kulturellen Veränderungen als auch die Vielgestaltigkeit von Sexualität am deutlichsten zeigt, lotet sie die Implikationen der jeweiligen Standpunkte für eine Weiterentwicklung/Neuformulierung psychoanalytischer Sexualtheorien aus. Schließlich setzt sich die Autorin mit der Umbenennung der Perversion in „Paraphilien“ im diagnostischen Manual der WHO auseinander. Daran hebt sie einerseits den Vorteil einer „Entstigmatisierung“ hervor, kritisiert aber andererseits begründet den damit einhergehenden Verlust zentraler sexueller Gehalte. Im Zuge ihrer vielfältigen Auseinandersetzungen mit bestehenden Konzeptionen führt die Autorin zudem aus, welche Konsequenzen ihre Reformulierung der psychoanalytischen Sexualtheorie für die klinische Praxis mit sich bringt.
Diskussion
Ilka Quindeau präsentiert in ihrer Monographie „Verführung und Begehren“ ein Modell einer „geschlechtsübergreifenden menschlichen Sexualität“ als Gegenentwurf zu den etablierten psychoanalytischen Sexualtheorien, die von einer eigenständigen weiblichen und männlichen Sexualentwicklung ausgehen. Sichtbar wird darin, dass sie keineswegs eine fundamentale Kritik an der Sexualtheorie Freuds formuliert, sondern hauptsächlich gegen die späteren InterpretInnen Freuds anschreibt. So betrachtet sie Sexualität nicht als etwas, das dem Körper ‚von Natur aus‘ anhaftet und sich in Reifungsprozessen lediglich entfaltet, sondern als leibliche Einschreibung lustvoller früher Erfahrungen. Indem sie den Freudschen Triebbegriff – wie bereits schon Alfred Lorenzer (1972), auf den sie sich allerdings allzu spärlich bezieht – in dieser Weise gut begründet reformuliert, gelingt es ihr, die soziale Konstruktion der Sexualität/des Begehrens und damit auch der Geschlechtsidentität in ihren unterschiedlichen Ausformungen zu begründen. Eine Argumentationslinie, die zudem eine deutliche inhaltliche Nähe zu dem Werk „Der Schatten des Anderen“ von Jessica Benjamin (2002) erkennen lässt. Mit dem – auch klinisch – gut begründeten Vorschlag für einen Blickwechsel in ihrer Disziplin vermag Quindeau meines Erachtens die tendenziell erstarrten Fronten diverser Sexual-Konzeptionen – insbesondere auch zu Phänomenen der „Perversion“ – aufzuweichen. In ihrer konsequenten Perspektive auf die unbewussten Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit finden die drei grundlegenden Dimensionen der Psychoanalyse: das Somatische, das Soziale und das dynamische Unbewusste gleichermaßen ihren Ort. In der Weise wird es der Autorin möglich, ein differenziertes Verständnis der Geschlechtsidentität aufzubereiten, der gleichermaßen Anschlüsse an den soziologischen Diskurs der Gender-Studies (soziale Konstruktion von Geschlecht) und der Psychoanalyse (mit ihrer Fokussierung auf unbewusste sexuelle Phantasien) berücksichtigt. Insgesamt imponiert das Buch durch den umfangreichen Forschungsüberblick, der gleichsam für soziologisch wie psychoanalytisch interessierte LeserInnen eine theoretische Fundgrube darstellt und neue Perspektiven für Forschung und Theoriebildung eröffnet.
Fazit
Mit der vorliegenden Monographie ist es Ilka Quindeau gelungen, ein umfassendes und relevantes Werk zu einer soziologisch aufgeklärten psychoanalytischen Sexualtheorie vorzulegen. Mit ihrer Infragestellung der Geschlechterdichotomie und der These, dass erst die Integration der andersgeschlechtlichen Anteile ein vertieftes lustvolles sexuelles Erleben ermöglicht, führt sie die LeserInnen zu der Erkenntnis, dass die konventionelle Einteilung einer männlichen und einer weiblichen Sexualität sich psychoanalytisch nicht begründen lässt. Mit ihrer systematischen Darstellung des aktuellen Theoriestandes, ihrer fundierten Auseinandersetzung vor allem mit zahlreichen Studien zur weiblichen Sexualität, vermag sie auch etwas Licht in die noch unbekannte Landschaft der Männlichkeit zu bringen. Wenngleich ein profundes Fachbuch auf hohem wissenschaftlichen Niveau ist die vorliegende Monographie Dank einer prägnanten, gut verständlichen Sprache auch für eine Leserschaft geeignet, die sich durch das Labyrinth von bisher etablierten soziologischen und psychoanalytischen Sexualtheorien führen lassen wollen. Ein Muss für alle, die in klinischer Praxis mit hetero-, homosexuellen und ‚perversen‘ Männern und Frauen arbeiten.
Rezension von
Prof. Dr. Margret Dörr
Professorin (i. R.) für Theorien Sozialer Arbeit, Gesundheitsförderung an der Katholischen Hochschule in Mainz, Fachbereich Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften.
Arbeitsschwerpunkte: Affektabstimmungsprozesse in der Sozialpsychiatrie (BMBF-Projekt)‚ Psychoanalytische (Sozial)Pädagogik, Gesundheitsförderung.
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Zitiervorschlag
Margret Dörr. Rezension vom 14.05.2010 zu:
Ilka Quindeau: Verführung und Begehren. Die psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2008.
ISBN 978-3-608-94486-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8055.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
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