Claus Otto Scharmer: Theorie U. Von der Zukunft her führen
Rezensiert von Prof. Dr. Heiko Kleve, 16.09.2009

Claus Otto Scharmer: Theorie U. Von der Zukunft her führen.
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2009.
494 Seiten.
ISBN 978-3-89670-679-9.
D: 49,00 EUR,
A: 50,40 EUR.
Reihe: Management. Originaltitel: Theory U.
Thema
„Wir leben in einer Zeit brodelnder Konflikte und massiven institutionellen Versagens. Einer Zeit des schmerzhaften Verfalls und des hoffnungsvollen Neubeginns. Es ist eine Zeit, die sich anfühlt, als würde sich etwas Grundsätzliches verlagern und sterben, während gleichzeitig etwas anderes geboren werden möchte. […] Wir leben auf einer dünnen Kruste aus Ordnung und Stabilität, die jederzeit auseinanderbrechen kann. Wir haben einen Augenblick erreicht, wo es gilt, innezuhalten und hinzuschauen, was da eigentlich beginnt, sich aus den Trümmern zu erheben. Die Krise unserer Zeit ist nicht einfach die Krise einer einzelnen Führungskraft, eines Landes oder einer Weltregion. Die Krise unserer Zeit offenbart das Sterben einer veralteten sozialen Struktur und einer bestimmten Art des Denkens, einer überkommenen Art der Institutionalisierung und des gemeinsam Hervorbringens von sozialen Formen“ (S. 22).
So beginnt C. Otto Scharmer sein umfangreiches Buch über eine neue von ihm entwickelte Theorie und Praxis von sozialen Veränderungsprozessen. Der Anspruch des Werkes ist groß: Es geht tatsächlich darum zu konstatieren, dass unsere klassischen Arten und Weisen, Veränderungsprozesse zu gestalten, inadäquat geworden sind, dass sie der heutigen sozialen Komplexität nicht gerecht werden und dass es diesbezüglich darauf ankommt, neue, passendere Denkweisen und Strategien zu entwickeln. Der Autor legt mit seiner Theorie U ein Konzept vor, das genau eine solche neue Denkweise und Strategie vermitteln und nicht nur im begrenzten Kontext von Managementprozessen relevant sein soll, sondern überall dort, wo in sozialen Systemen Prozesse des Wandels initiiert, gestaltet und moderiert werden, also nahezu überall – sowohl in unseren Lebenswelten als auch in den Organisationen, die unser Leben täglich begleiten.
Autor
Claus Otto Scharmer wurde im Bereich Ökonomie und Management an der Universität Witten/Herdecke promoviert. Er ist derzeit Senior Lecturer am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Gründer des Presencing Institute in Cambridge, MA. Außerdem lehrt er als Gastprofessor an der Helsinki School of Economics und ist Berater großer Unternehmen, internationaler Institutionen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in den USA, Europa, Afrika und Asien.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in drei Teile gegliedert:
Zunächst wird im Teil I eine „Begegnung mit dem blinden Fleck“ geboten. Hier zeigt der Autor auf, in welchen Hinsichten unsere traditionellen Theorien und Methoden, Veränderungsprozesse zu initiieren, zu gestalten und zu moderieren, blind sind. Eine solche Blindheit liege darin, dass nicht gesehen werde, dass die Haltung von Veränderungsagenten zentral ist. Die innere Haltung bestimme letztlich den Erfolg. Scharmer unterscheidet sieben Prozesse, die die Haltung beeinflussen und damit auch soziale Kommunikationsprozesse letztlich strukturieren:
- “Runterladen [Downloaden]: Muster der Vergangenheit wiederholen sich – die Welt wird mit den Augen gewohnheitsmäßigen Denkens betrachtet.
- Hinschauen [Seeing]: Ein mitgebrachtes Urteil loslassen und die Realität mit frischem Blick betrachten – das beobachtete System wird also von dem Beobachter getrennt wahrgenommen.
- Hinspüren [Sensing]: Sich mit dem Feld verbinden, eintauchen und die Situation aus dem Ganzen heraus betrachten – die Grenze zwischen Beobachter und Beobachteten verschwimmt, das System nimmt sich selber wahr.
- Anwesend werden [Gegenwärtigung bzw. Presencing]: sich mit dem Quellort – dem inneren Ort der Stille – verbinden, von dem aus die im Entstehen begriffene Zukunft wahrnehmbar werden kann.
- Verdichten [Kristallisieren] der Vision und Intention – Kristallisieren und Bewusstmachen der Intention und Vision, die aus der Verbindung zu diesem tieferen Quellort entstehen.
- Erproben [Prototyping] des Neuen in Prototypen, in denen die Zukunft durch praktisches Tun gemeinsam erkundet und entwickelt wird.
- Das Neue praktisch anwenden und institutionell verkörpern [in die Welt bringen bzw. Performing]: das Neue durch beispielsweise Infrastrukturen und Alltagspraktiken in eine Form bringen“ (S. 63).
Diese Prozesse werden mit unterschiedlichen und vielfältigen Beispielen vorgeführt und in den beiden weiteren Teilen des Buches wieder aufgegriffen und in zahlreichen Weisen vertieft.
Speziell
im Teil II: „Eintreten in das U-Feld“ taucht der
Autor in alle genannten Haltungsebenen ein und führt –
wieder an vielen Beispielen – intensiv vor, was er mit dem „U“
meint, nämlich einen Prozess, der sich vom oberflächlichen
„Runterladen“ zum intensiveren „Hinsehen“ und
„Hinspüren“ bis schließlich zum Scheitelpunkt
des „U“ hinunterbewegt: bis zum „Presencing“.
Von dort aus geht es dann wieder aufwärts in Richtung
„Verdichten“, „Erproben“ des Neuen, um es
schließlich nachhaltig „in die Welt zu bringen“.
Der
zentrale Punkt dieses Prozesses ist freilich das „Presencing“.
Aber was ist damit überhaupt gemeint? Scharmer nimmt
immer wieder neu Anlauf, um genau diese Frage zu beantworten. Knapp
gesagt geht es darum, Veränderungsprozesse von einer im
Entstehen begriffenen Zukunft her zu gestalten. Der Fokus der
Aufmerksamkeit wird dabei umgelenkt: von der Vergangenheit in
Richtung Zukunft, von der Problemwahrnehmung in Richtung Wahrnehmung
von Möglichkeiten, Chancen und zukünftigen Stärken und
Fähigkeiten.
Obwohl
Scharmer diesen Verweis nicht macht, liegt er für mich
sehr nahe: Der U-Prozess ist vergleichbar mit der Praxis der
Lösungsorientierung nach Steve de Shazer und Insoo Kim Berg. [1]
Auch hier geht es darum, den Fokus der Aufmerksamkeit umzulenken,
insbesondere mithilfe der lösungsorientierten Gesprächsführung
und ihren inzwischen vielfach bekannten Formen der „Wunderfrage“
und der „Frage nach Ausnahmen“.
Der Teil III des Buches: „Presencing – Eine soziale Technik für die Führung“ stellt schließlich dar, wie der U-Prozess sozialtheoretisch verstanden werden und wie er sich Bahn brechen kann im Denken, kommunikativen Handeln, in Organisationen und schließlich in gesamtgesellschaftlichen, ja globalen Prozessen. Scharmers Anspruch ist auch hier sehr hoch: Er plädiert dafür, derartige Veränderungsprozesse gesellschaftsweit zu gestalten, und zwar mittels einer „globalen[n] Aktionsforschungsuniversität“ (S. 445ff.).
Diskussion
Die Aktionsforschung nach Kurt Lewin ist auch der empirische Ansatz, mit dessen Hilfe Scharmer sein Konzept entwickelt hat: Die Theorie U ist geboren aus praktischem Handeln des Autors, insbesondere im Kontext ökonomischer Veränderungsprozesse in großen Firmen unterschiedlicher Branchen. Zudem hat der Autor seine eigenen Erfahrungen konfrontiert mit Aussagen zahlreicher Persönlichkeiten, die er für sein Buchprojekt interviewt hat. Wenn wir dabei dann etwa Namen lesen wie Fritjof Capra, Francisco Varela oder Eleanor Rosch können wir vermuten, dass sich Scharmer in einer geistigen Tradition bewegt, die – wie die genannten Personen – für ein neues Denken, ja für einen Paradigmenwechsel, für eine andere Art der Wahrnehmung, um nicht zu sagen für ein New Age eintreten. [2]
Scharmers Buch sprengt das klassische, eher nüchterne und distanzierte wissenschaftliche Betrachten zugunsten einer leidenschaftlichen und mit vielen Beispielen (auch aus seinem eigenen Leben) angereicherten Sprachform. Das Buch liest sich sehr gut. Es ist gekonnt geschrieben und ebenso vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Der Stil ist eingängig und liest sich passagenweise wie ein guter Roman. Es wird eine starke Spannung produziert, so dass ich als Leser die Lektüre kaum unterbrechen konnte, immer wissen wollte, wie es denn nun weiter geht.
Dennoch möchte ich auch meine Kritik nicht verschweigen: Die Ausführungen sind vom Inhalt her sehr redundant, immer wieder wird der U-Prozess präsentiert. Der Vorteil dabei ist freilich, dass es sich dem Leser gut einprägt, wobei es darum im Kern geht. Allerdings hätte das Buch hinsichtlich seiner Länge mit Sicherheit gestrafft werden können, ohne dass dabei Wesentliches verloren gegangen wäre. Weiterhin ist die soziologische Ebene tendenziell unterkomplex. Der Schritt von der kognitiv-psychischen Aufmerksamkeitsveränderung zu kommunikativ-sozialen wird nicht gründlich genug sozialtheoretisch erhellt. Interessant wäre es gewesen, wenn der Autor Niklas Luhmanns “Soziale Systeme“ (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984), diesen Grundriss einer allgemeinen soziologischen Systemtheorie nicht nur im Literaturverzeichnis mitgeführt, sondern auch genutzt hätte, um das Soziale in seiner von der Psyche unterschiedenen Komplexität eingehender zu erhellen.
Zusammenfassend lässt sich hervorheben, dass das Buch etwas bietet, das allen Veränderungsagenten, gerade auch jenen in der Sozialen Arbeit dringend angeraten werden kann: den Blick auf die Haltungen, die den Veränderungsprozessen vorausgehen und diese maßgeblich tangieren. Wer glaubt, dass er soziale Prozesse nach seinen Intentionen zielgerichtet steuern kann, der erlebt in der Praxis derartiger Veränderungsansinnen zumeist Enttäuschungen. Die Gründe für diese Enttäuschungen, für die Unmöglichkeit, soziale Systeme wie Maschinen zu steuern, werden von Scharmer offenbart – aber was noch entscheidender ist: Der Autor bietet Möglichkeiten an, wie es dennoch realisierbar ist, soziale Prozesse sinnvoll und ausgehend von den Interessen und Bedürfnissen der Akteure zu gestalten. Eine wesentliche Grundlage dafür ist die Veränderung der Aufmerksamkeitsfokussierung in psychischen Denk- und sozialen Kommunikationsprozessen.
Zielgruppe
Das Buch ist für all jene geschrieben, die in verantwortlicher Position Wandlungsprozesse initiieren und gestalten sollen oder wollen. Es bietet aber auch für Studierende, Praktiker und Wissenschaftlicher welcher Herkunft auch immer Anregungen, wie sie die sozialen Prozesse, in denen sie agieren, in neuer Wiese sehen und konstruktiv anregen können.
Fazit
C. Otto Scharmer hat ein Buch verfasst, das für nahezu alle Bereiche der Gesellschaft, in denen Wandel angestoßen und moderiert wird, Neues und Fruchtbares bieten kann. Besonders beachtlich ist, dass Scharmer eine praktische Strategie entwickelt, wie Veränderungsprozesse in konstruktiver und systemisch reflektierter Weise begleitet werden können. Gerade für die Soziale Arbeit, die in den letzten Jahren von immer wieder neuen Implementierungswellen ergriffen wird (zu denken ist etwa an die Neue Steuerung der öffentlichen Verwaltung, an die Sozialraumorientierung oder das Case Management), lässt sich das Werk sehr gut nutzen. Veränderungsagenten in den diversen sozialarbeiterischen Feldern finden passable Denkschablonen und Handlungsanregungen, um Gestaltungsprozesse sowohl leidenschaftlich als auch komplexitätssensibel, mithin engagiert und entspannt zugleich anzugehen.
[1] Siehe dazu etwa Peter De Jong, Insoo Kim Berg (2003): Lösungen (er-)finden. Das Werkstattbuch der lösungsorientierten Kurztherapie. Dortmund: modernes lernen; Steve de Shazer, Yvonne Dolan (2007): Mehr als an Wunder. Lösungsfokussierte Kurztherapie heute. Heidelberg: Carl-Auer (2008).
[2] Siehe dazu etwa Fritjof Capra (1987): Das neue Denken. Ein ganzheitliches Weltbild im Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaft und Mystik. Begegnungen und Reflexionen. München: dtv (1992); Francisco J. Varela, Evan Thompson, Eleanor Rosch (1991): Der Mittlere Weg der Erkenntnis. Der Brückenschlag zwischen Theorie und menschlicher Erfahrung. Bern/München/Wien: Scherz (1992).
Rezension von
Prof. Dr. Heiko Kleve
Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft, Department für Management und Unternehmertum, Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU)
Website
Mailformular
Es gibt 21 Rezensionen von Heiko Kleve.