Carla Wesselmann: Biografische Verläufe und Handlungsmuster wohnungsloser Frauen
Rezensiert von Prof. Dr. Susanne Gerull, 02.12.2009

Carla Wesselmann: Biografische Verläufe und Handlungsmuster wohnungsloser Frauen im Kontext extrem asymmetrischer Machtbalancen.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2009.
330 Seiten.
ISBN 978-3-86649-276-9.
D: 33,00 EUR,
A: 34,00 EUR,
CH: 56,50 sFr.
Reihe: Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit - 8.
Autorin und Thema
Carla Wesselmann ist Sozialarbeiterin mit langjähriger Erfahrung u. a. in der Wohnungslosenarbeit, die mit diesem Buch ihre (etwas gekürzte) Dissertation vorlegt. Damit reiht sie sich ein in die immer mehr werdenden Sozialwissenschaftler/-innen, die ihren beruflichen Ursprung in der Praxis Sozialer Arbeit haben. Diese sind dadurch zu Expert(inn)en geworden, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit den vielfältigen Fragen und Problemstellungen aus der Handlungspraxis Sozialer Arbeit beschäftigen. So hat sich auch die Autorin der vorliegenden Publikation bereits als Sozialarbeiterin mit dem Zugang zu wohnungslosen Frauen beschäftigt und hat festgestellt, dass ein narrativ-biografischer Gesprächsansatz das Verstehen eher fördert als die klassische, problemzentrierte Sozialanamnese. Ihr in diesem Buch dargelegtes aktuelles wissenschaftliches Interesse liegt auf dem wechselseitigen Zusammenhang zwischen strukturellen Gegebenheiten, lebensgeschichtlichen Erfahrungen und den Handlungsstrukturen von wohnungslosen Frauen. Dabei fragt sie, wie sich der subjektive Sinn (im Sinne von Alfred Schütz) der Betroffenen in ihrem Handeln konstituiert und äußert und wie dieser subjektive Sinn von Sozialarbeiter(inne)n verstanden werden kann. Zur Beantwortung dieser Fragen führte sie biografische Interviews mit wohnungslosen Frauen, die sie in einem rekonstruktiven Verfahren auswertete.
Bei der Darstellung ihrer Ergebnisse geht Carla Wesselmann eher untypisch vor: Statt der klassischen Struktur – Theorie/Empirie/Diskussion der Ergebnisse - werden diese Stränge mehrfach miteinander verzahnt. Dies macht das Buch durchweg spannender und (vor allem für Nicht-Wissenschaftler/-innen) lesbarer als klassische Forschungsberichte.
Aufbau
- In ihrem ersten Kapitel nach der Einleitung stellt die Autorin den Forschungsstand zu wohnungslosen Frauen dar. Sie deckt auf, dass bisherige Forschungen zu diesem Thema bisher nicht ausreichend miteinander verknüpft wurden, wobei ihre z. T. nachdrücklich geäußerte Kritik an bisher als einschlägig angesehenen Studien als lässliche „Sünde“ einer engagierten Qualifikationsarbeit bewertet werden kann. In diesem Kapitel geht es auch um die Dimensionen Gewalt und Armut im Kontext der Wohnungslosigkeit von Frauen und das Konzept der Lebenslage als theoretischem Bezugsrahmen ihrer Forschung.
- Im zweiten Kapitel werden das methodische Vorgehen sowie die methodologische Verortung der Studie im Rahmen der soziologischen Biografie- und rekonstruktiven Sozialarbeitsforschung beschrieben. Das methodische Vorgehen – narrative, biografische Interviews und die biografische Fallrekonstruktion nach Gabriele Rosenthal – wird detailliert beschrieben und (selbst)kritisch reflektiert.
- Das „Herzstück“ des Buches sind vier Fallrekonstruktionen über rund 150 Seiten, die so spannend geschrieben sind, dass man das Buch spätestens an dieser Stelle nicht mehr aus der Hand legen kann. Sorgsam arbeitet die Forscherin heraus, wie sich die (destruktiven und konstruktiven) Handlungsmuster und Bewältigungsstrategien der interviewten Frauen bereits in früher Kindheit entwickeln. Es wird deutlich, dass die Soziale Arbeit scheitern muss, wenn sie nicht an diesen internalisierten Strukturen ansetzt – und sie im Sinne einer Ressourcenorientierung nutzbar macht.
- Im vierten Kapitel nimmt die Autorin einen kontrastiven Vergleich der geschilderten Fälle vor und entwickelt eine Typologie auf Basis des machttheoretischen Konzepts von Elias. So müssen ihre interviewten Frauen erlebte Machtungleichheiten permanent ausbalancieren und sind dabei häufig von Ambivalenzen wie z. B. dem gleichzeitigen Streben nach Autonomie und der Suche nach Beziehungen (einer von drei entwickelten Typen) gekennzeichnet.
- Das fünfte Kapitel stellt den Bezug zur Sozialen Arbeit her: Welche Bedeutung haben diese Ambivalenzen und der Rückbezug auf vertraute Handlungsmuster für die Unterstützungsarbeit? Wie kann das biografische Ambivalenzmanagement der wohnungslosen Frauen verstanden und für die Praxis genutzt werden? „Implikationen für die Praxis Sozialer Arbeit“ heißt dabei nicht, dass die Autorin konkrete und pragmatische Lösungsvorschläge macht. Vielmehr plädiert sie dafür, die Herausforderung anzunehmen, sich mit den Handlungsmustern und Bewältigungsstrategien der Klientel verstehend auseinanderzusetzen und sie prozessorientiert bei der Ausbalancierung ihrer Ambivalenzen zu begleiten.
Diskussion
Das einzig Missliche, das mir zu diesem Buch einfällt, sind die vielen Flüchtigkeitsfehler, die ein abschließendes Korrekturlesen verhindert hätte. Ansonsten ist Carla Wesselmann exzellent der Spagat gelungen, eine (empirisch gestützte) theoriegenerierende Publikation zu verfassen, die für Wissenschaftler/-innen und Praktiker/-innen der Sozialen Arbeit gleichermaßen interessant ist. Sie hat deutlich herausgestellt, dass sie mit ihrer Studie einen Beitrag zu einer ambivalenz-reflexiven Theorie Sozialer Arbeit leisten möchte, und so müssen sich die Praktiker/-innen eben auch mit Theorien der Sozialen Ungleichheit, Macht- und Systemtheorien auseinandersetzen (oder gleich zu den spannenden Falldarstellungen übergehen!). Theorie- und Forschungsinteressierte finden auf der anderen Seite eventuell einen Zugang zur Zielgruppe wohnungslose Frauen, die – wie wohnungslose Menschen generell – eher ein Nischendasein im wissenschaftlichen Diskurs führen.
Fazit
Die vorliegende Studie ist ein äußerst gelungener Beweis dafür, wie wissenschaftliche Konzepte und Methoden für die Praxis Sozialer Arbeit nutzbar gemacht werden können: Hilfesuchende eben nicht mehr auf den biografischen Ausschnitt zu reduzieren, der aufgrund von Zuständigkeiten im Hilfesystem entsteht (die Zeit der Wohnungslosigkeit, die Zeit der Suchterkrankung, die Zeit der Überschuldung), sondern ganzheitlich verstehen zu lernen. So wünsche ich diesem Buch viele Leser/-innen aus ganz unterschiedlichen professionellen Zusammenhängen, denn es taucht nicht nur tief in die Lebenswelten der Interviewten ein und fordert zum Bruch gewohnter Handlungsroutinen in der Sozialen Arbeit auf, sondern verdeutlicht auch, wie sehr Theorie und Praxis miteinander verzahnt werden müssen (und können!), um deren Erkenntnisse für die Klientel Sozialer Arbeit nutzbar zu machen.
Rezension von
Prof. Dr. Susanne Gerull
Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit mit den Schwerpunkten Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und niedrigschwellige Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin
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