Rita Braches-Chyrek, Kathrin Macke et al. (Hrsg.): Kindheit in Pflegefamilien
Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 24.01.2011

Rita Braches-Chyrek, Kathrin Macke, Ingrid Wölfel (Hrsg.): Kindheit in Pflegefamilien.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2010.
168 Seiten.
ISBN 978-3-86649-256-1.
D: 19,90 EUR,
A: 20,50 EUR,
CH: 35,90 sFr.
Schriftenreihe der Gilde Soziale Arbeit - 1.
Herausgeberinnen
Die Gilde Soziale Arbeit ist ein gemeinnütziger Verein, in dem Frauen und Männer aus der Praxis, Lehre und Wissenschaft zusammenarbeiten, die sich der Sozialen Arbeit verpflichtet wissen. Zweck des Vereins ist die Förderung der Jugendhilfe und Sozialen Arbeit sowie Sammlung und Verbreitung von Erkenntnissen über fortschrittliche, zeitgemäße Wege und Formen Sozialer Arbeit.
Dr. Rita Braches-Chyrek ist Mitarbeiterin der Arbeitseinheit Sozialpädagogik/Sozialpolitik der Bergischen Universität Wuppertal und Gildeamtssprecherin. Dr. Kathrin Macke war bis zu ihrem Tod 2009 Gildeamtssprecherin. Dr. Ingrid Wölfel ist Hochschullehrerin für Pädagogische Psychologie.
Thema
Die Herausgeberinnen stellen heraus, dass Kinderschutz in der aktuellen (fach-)politischen Diskussion zu einem hoch ideologisierten Feld geworden ist. Die Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien ist ein bewährtes, staatlich kontrolliertes System privat organisierter Erziehungsinstanzen, deren sich die Jugendhilfe gern bedient. Der Alltag der Kinder, der Verlauf und der Erfolg von Pflegeverhältnissen ist weitgehend unerforscht.
Ziel der Veröffentlichung ist es, die Problematiken im Spannungsverhältnis Pflegefamilie – Jugendhilfe – Kindeswohl zu benennen und zu diskutieren. Im Mittelpunkt steht die kindliche Perspektive.
Aufbau und Inhalt
Die Veröffentlichung umfasst 12 Beiträge.
Im ersten Kapitel beschäftigt sich Kathrin Macke mit den Anforderungen, Chancen und Grenzen einer Biografiearbeit mit Pflegekindern.
Ingrid Wölfel beschreibt die „Omnipräsenz“ des Jugendamtes im gesamten Verlauf eines Pflegeverhältnisses (bei der Herauslösung aus der Herkunftsfamilie, der Auswahl der Pflegeeltern, dem Eingewöhnungsprozess, in der Gestaltung des Umgangs mit der Herkunftsfamilie, im Hilfeplanverfahren, in Krisensituationen und als oberste Machtinstanz). Auch wenn alle Vorgehensweisen dem Kindeswohl dienen, erscheinen die unterschiedlichen Konzepte, Rollenverteilungen und Vorgehensweisen dem Kind wie ein „Chamäleon“. Schlussfolgernd werden Empfehlungen für die Arbeit des Jugendamtes erarbeitet.
Gaby Lenz beschäftigt sich mit der Komplexität des Beziehungsgefüges. Ausgehend von einer Fallvignette stellt sie die rechtlichen Grundlagen dar. Anschließend wird die Situation von Herkunftsfamilie, Pflegekind, Pflegefamilie sowie Jugendamt im Spannungsfeld unterschiedlicher Erwartungen und Konzepte (Ergänzungs- oder Ersatzfamilie) beleuchtet.
Kindeswohl ist schwer zu definieren. Karl-Michael Froning beleuchtet nach einer rechtlichen Einordnung und den Aussagen der UN-Kinderrechtskonvention auch psychologische und sozialpädagogische Aspekte (u.a. Bindung, Wert schätzen, Grenzen setzen, Identität, Autonomie).
Einen kritischen, frauenpolitisch orientierten Beitrag leistet Rita Braches-Chyrek. Sie diskutiert die Frage der „Mütterlichkeit“ in der Frauenbewegung und die Mütterlichkeitsideologie in der Familienpolitik und arbeitet dann die Paradoxien in Pflegeverhältnissen heraus.
Eine wichtige Ressource im Leben können die Geschwisterbeziehungen bilden. In der Jugendhilfe wird aber häufig nur die Bindung zu Eltern oder andere Erwachsen berücksichtigt, die Geschwister werden vergessen. Annegret Freiburg beleuchtet das Verhältnis bei getrennten Geschwistern und zu den leiblichen Kindern der Pflegefamilie und trägt Kriterien zusammen, unter welchen Bedingungen Geschwister zusammen und unter welchen Bedingungen Geschwister unbedingt getrennt untergebracht werden sollten.
Gerd Günther stellt in einem kurzen Abriss die Geschichte des Pflegekinderwesens in Deutschland mit besonderem Schwerpunkt Hamburg dar.
Für den nächsten Beitrag interviewten Eckart Günther und Marie-Luise Caspar den Präsidenten der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche Hans-Peter Strenge, Jahrgang 1948, der als Kind einer alleinerziehenden Mutter aufwuchs, über seine Erinnerung an seine Kindheit, vor allem an seine „Fremdversorgung“ in Kindertagesheim und Internat.
In einem theorie-orientierten Beitrag beschäftigen sich Rita Braches-Chyrek und Heinz Sünker mit Kindheitsforschung und der Analyse kindlicher Lebenslagen. Ausgehend vom Beck´schen Ansatz stellen sie den Spannungsbogen bar, dass Kinder einerseits ein Hindernis im Individualisierungsprozess, andererseits aber die letzte verbleibende, unaufkündbare und unaustauschbare Primärbeziehung darstellen.
Annegret Freiburg (für die verstorbene Kathrin Macke) beschäftigt sich mit einem häufig vernachlässigten Thema, Trennung und Abschiednehmen. Abschiednehmen gehört in unterschiedlichen Intensitäten (bis hin zum Tod) zum normalen Leben dazu; Kinder lernen sich zu verabschieden. Bei Pflegekindern gibt es einige einschneidende Trennungen, die gestaltet werden müssen, bei der Herausnahme aus der leiblichen Familie, Trennungen bei Besuchen, bei der Rückführung und bei der Verselbständigung.
Unterschiedliche Orientierungshilfen für die Unterbringung in Pflegefamilie und Heim werden von Annegret Freiburg und Kathrin Macke thematisiert; die Entscheidungen werden oft eher intuitiv getroffen; den Heimerzieherinnen jedoch mehr Professionalität zugesprochen, aber auch mehr Hilfen in Form von Supervision u. ä. zugestanden.
Das Buch endet mit einem kurzen Statement zur Qualifizierung von Pflegefamilien von Ingrid Wölfel.
Diskussion
Die Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie ist ein wichtiger Bestandteil im Katalog der Jugendhilfemaßnahmen. Sie wird häufig als die billigere Variante der Fremdunterbringung gesehen, zwar familienähnlicher als das Heim, dafür aber auch nicht so professionell.
In einer gelungenen Mischung aus theorieorientierten Beiträgen und ganz konkreten Praxisproblemen regt das Buch an, über Aspekte nachzudenken, die leicht übersehen werden. Sie tragen aber zum Gelingen der Hilfe (vor allem aus kindlicher Sicht) wesentlich bei.
Zielgruppe
Lehrende und Studierende der Sozialpädagogik, Fachkräfte im Bereich der Jugendhilfe
Fazit
Ein kleines Büchlein, das wichtige Themen anspricht
Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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