Karin Bock, Ingrid Miethe (Hrsg.): Handbuch qualitative Methoden in der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Dipl.-Soz. Willy Klawe, 07.09.2010

Karin Bock, Ingrid Miethe (Hrsg.): Handbuch qualitative Methoden in der Sozialen Arbeit. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2009. 700 Seiten. ISBN 978-3-86649-255-4. D: 59,00 EUR, A: 60,70 EUR, CH: 100,00 sFr.
Anliegen
Die Herausgeberinnen betonen in ihrer Einleitung, dass sie vorliegenden Handbüchern zu qualitativen Forschungsmethoden nicht lediglich ein weiteres hinzufügen wollen. Vielmehr ergibt sich aus ihrer Sicht "die Begründung für ein eigenständiges Handbuch zu qualitativen Forschungsmethoden in der sozialen Arbeit (...) einerseits aus der Geschichte der sozialen Arbeit und dem damit transportierten Theorie- und Methodenkanon und andererseits aus dem spezifischen Auftrag und Anspruch der sozialen Arbeit, wissenschaftliche und professionelle Bezüge stets miteinander zu verknüpfen." (10). Konsequent sind dann auch die ersten beiden Teile des Handbuches professionsspezifischen Zugängen gewidmet.
Aufbau
Das vorliegende Handbuch enthält neben einer Einleitung insgesamt 60 Fachbeiträge, die sechs Abschnitten zugeordnet sind. Ein Gesamtliteraturverzeichnis mit Schlagwortindex sowie ein Autorenverzeichnis schließen das Buch ab.
1. Theoretische und empirische Traditionen
Teil 1 enthält sieben Beiträge und zeichnet geisteswissenschaftliche Traditionslinien (Michael Winkler), philosophische Traditionslinien (Wolfgang Nieke), psychoanalytische Traditionen (Christian Niemeyer) und Traditionen der Sozialarbeit (Walburga Hoff) nach. Der symbolische Interaktionismus (Birgit Griese/Hedwig Rosa Griesehop) werden ebenso beschrieben wie die eher pragmatischen Zugänge der Chicagoer Schule (Ingrid Miethe) und die Traditionen der Jugendforschung (Heinz-Hermann Krüger/Susanne Siebholz). Die Autorinnen weisen überzeugend nach, dass soziale Arbeit sich erst relativ spät auch als forschende Disziplin entwickelt hat, obwohl bereits klassische Meilensteine, wie etwa das Hull-House von Jane Addams, hier prägnante Zeichen gesetzt hatten, und führen dies auf die lange vorwiegend auf berufliche Qualifizierung angelegten Ausbildungsgänge an den Fachhochschulen zurück.
2. Theorieansätze und klassische Paradigmen
Die in Teil 2 beschriebenen zentralen Orientierungen der sozialen Arbeit, Lebenswelt (Klaus Grunwald/Hans Thiersch), Biographie (Andreas Hanses), Gesundheit (Hans-Günter Homfeldt), Bildung (Dirk Michel/Heinz Sünker), Geschlecht (Mechthild Bereswill/Gudrun Ehlert) und Diversity (Chantal Munsch) können zurecht als handlungsleitende Paradigmen der sozialen Arbeit gesehen werden. Mit den Beiträgen zur systemischen Forschung (Matthias Ochs/Jochen Schweitzer), rekonstruktiver Sozialpädagogik (Hans-Jürgen von Wensierski) und der Analyse professionellen Handelns (Gisela Jakob) werden dagegen zentrale etablierte Forschungszugänge und -ansätze beschrieben. Der abschließende Beitrag zur transnationalen sozialen Unterstützung (Wolfgang Schröer/Cornelia Schweppe) verweist auf ein relativ neues Forschungsgebiet.
Diese "bunte Mischung" ermöglicht dem Leser einerseits eine umfassende Orientierung im Hinblick auf handlungsleitende Paradigmen Sozialer Arbeit und/oder solche ihrer Erforschung. Diese Zweiteilung wird sich auch in den folgenden Teilen des Handbuches konsequent fortsetzen, indem der Versuch gemacht wird, zwischen Forschungs- und Handlungsmethoden deutlich zu unterscheiden.
3. Methoden als Forschungsmethoden
Der Teil 3 umreißt in insgesamt 18 Artikeln nahezu das gesamte Spektrum qualitativer Forschungsmethoden: Objektive Hermeneutik (Klaus Kraimer), Tiefenhermeneutik (Karl-Heinz Braun), die Analyse narrativer Interviews (Gerhard Riemann), biographische Fallrekonstruktion (Gabriele Rosenthal/Michaela Köttig), Familienrekonstruktion (Bruno Hildenbrand), dokumentarische Methoden (Ralf Bohnsack), Gruppendiskussionsverfahren (Iris Nentwig-Gesemann), Aktionsforschung (Sabine Hering), Grounded Theory (Sebastian Schröder/Heike Schulz), Ethnographie und Feldforschung (Roland Girtler), qualitative Inhaltsanalyse (Philipp Meyring/Silke Brigitta Gahleitner), Evaluationsforschung (Michael May), typenbildende Verfahren (Uwe Uhlendorff), Metaphernanalyse (Rudolf Schmitt), Videoanalyse (Wolfram Fischer), diskursanalytische Verfahren (Fabian Kessel), computergestützte Verfahren (Udo Kukartz./Stephan Rädiker) und historische Forschungsperspektiven und Methoden (Sabine Hering) werden detailliert und ausführlich in den einzelnen Beiträgen vorgestellt und in ihrer Anwendung erläutert.
Die Beiträge dieses Abschnitts bieten dem Leser einen prägnanten, knappen, aber differenzierten schnellen Überblick über die gängigen Forschungsmethoden, ihre theoretischen Implikationen, das forschungspraktische Vorgehen und angemessene Formen der Auswertung sowie eine kritische Einschätzung ihrer Reichweite.
4. Methoden als Handlungsmethoden
Teil 4 stellt den Forschungsmethoden die "Methoden als Handlungsmethoden" gegenüber. Acht der insgesamt neun Beiträge dieses Abschnittes geben ein breites Spektrum sozialpädagogischen Handelns wieder: Kasuistik (Reinhard Hörster), sozialpädagogische Diagnosen (Thomas Marthaler), Familienrekonstruktionen (Bruno Hildenbrand), Biographiearbeit (Dorothee Roer), narrativ-reflexive Beratung (Heidrun Schulze/Ulrike Loch), Narration in der Jugendhilfe (Regina Retz-Heinisch/Michaela Köttig), narrativ-biographische Diagnostik (Martina Goblirsch), computerunterstützte Netzwerkanalyse und Netzwerkarbeit (Thomas J. Feuerstein). Lediglich der Beitrag von Adrian Gärtner "Supervisionsforschung" fällt mit seinem Fokus auf "Forschung" aus dieser Systematik etwas heraus.
5. Qualitative Methoden in den Handlungsfeldern der sozialen Arbeit
Einen überzeugenden, völlig anderen Zugang bietet der Abschnitt 5 "Qualitative Methoden in den Handlungsfeldern der sozialen Arbeit". Er gibt dem Leser die Möglichkeit, einen thematischen Einstieg nicht über einzelne Handlungs- oder Forschungsmethoden zu wählen, sondern sich einen Überblick darüber zu verschaffen, welche methodischen Variationen bislang in den wichtigsten Handlungsfeldern der sozialen Arbeit Anwendung gefunden haben. So beschreibt Werner Thole Kinder und Jugendarbeit, Nicole Rosenbauer das Feld Hilfen zur Erziehung, Peter Cloos erläutert bisherige Forschungsansätze in der frühpädagogischen Forschung, Claudia Streblow leistet dies für Schulsozialarbeit und Silke Birgitta Gahleitner und Albert Mühlum für die klinische Sozialarbeit. Außerdem werden unter diesem Aspekt das Handlungsfeld soziale Altenarbeit (Ute Karl/Cornelia Schweppe), Mädchen- und Frauenarbeit (Maria Bitzan), Jungen- und Männerarbeit (Lothar Böhnisch), Kriminologie (Johannes Stehr), Behindertenhilfe (Wolfram Kulig/Georg Theunissen), Wohnungslose und durch Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen (Susanne Gerull) sowie interkulturelle Praxis (Cornelia Giebeler) unter diesen Aspekten vorgestellt.
6. Qualitative Methoden in der professionellen Weiterentwicklung
Da das vorliegende Handbuch nicht nur zu "konkreter Forschungspraxis anregen, sondern auch die bereits länger andauernden Diskussionen über theoretische und methodologische Probleme einer Forschung in der sozialen Arbeit befördern soll" (17) widmet sich der letzte Abschnitt "Qualitative Methoden in der professionellen Weiterentwicklung" der Rolle von qualitativen Forschungskompetenzen und Methoden in der Ausbildung im Rahmen der Sozialen Arbeit. Gerhard Riemann stellt in seinem Beitrag Formen der Vermittlung fallanalytischer Forschungskompetenzen im Studium der Sozialen Arbeit vor, während Karin Böllert und Wolfgang Schröer dieses für das Kerncurriculum Erziehungswissenschaft leisten. Cornelia Kricheldorff stellt ein Curriculum vor, das sich speziell mit der Forschung in der sozialen Arbeit beschäftigt. Ingrid Miethe und Silke Brigitta Gahleitner schließlich widmen sich in ihrem Beitrag der Forschungsethik in der sozialen Arbeit und ordnen diese Ethik in den Rahmen einer Profession als Menschenrechtsprofession ein.
Das 110 Seiten umfassende Gesamtliteraturverzeichnis gibt dem Leser vielfältige Möglichkeiten der inhaltlichen Vertiefung und weiterführenden Lektüre, zur besseren Handhabung und einem schnellen Zugriff auf Einzelaspekte trägt ein umfassender Stichwort-Index bei.
Fazit
Das vorliegende Handbuch gibt einen umfassenden und prägnanten Eindruck vom aktuellen Stand qualitativer Handlungs- und Forschungsmethoden in der sozialen Arbeit. Es unterscheidet sich von anderen einschlägigen Werken durch seine überlegte, raffinierte Struktur, die mit ihren einzelnen Abschnitten gewissermaßen ein Koordinatensystem des Zugangs zum Thema bietet. So kann der Leser entscheiden, ob er über theoriegeleitete Traditionslinien, handlungsleitende Paradigmen oder über ihn interessierende Handlungsfelder die Relevanz qualitativer Methoden nachvollziehen oder aber diese unterschiedlichen Zugänge als einander ergänzende Perspektiven lesen und deuten will. Die Beiträge selbst sind mehrheitlich klar und prägnant abgefasst und bieten auf wenigen Seiten einen profunden, differenzierten Überblick über die jeweilige Methode. Die zahlreichen Verweise auf grundlegende oder weiterführende Literatur ermöglichen Leserinnen und Lesern vielfältige Möglichkeiten der inhaltlichen Vertiefung und Recherche.
Äußerst gelungen ist auch die Wahl der Autorinnen und Autoren, die neben den vertrauten Altmeistern und "üblichen Verdächtigen" auch einer neuen Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein Forum bietet. Die hier dargestellte Vielfalt der Themen und Zugänge und das Bemühen Forschungsmethoden und Handlungsmethoden darzustellen, lässt gelegentlich allerdings diese kategoriale Unterscheidung verschwinden und es ist nicht immer durchgängig klar, ob es den Herausgebern eigentlich in erster Linie nicht doch vorwiegend und in erster Linie um Forschungsmethoden geht. So bleibt auch der Titel des Handbuches einigermaßen verwirrend, "Handbuch qualitative Methoden in der sozialen Arbeit". Was wären denn im Gegensatz dazu eigentlich quantitative (Handlungs-)Methoden in der sozialen Arbeit?
Rezension von
Dipl.-Soz. Willy Klawe
war bis März 2015 Hochschullehrer an der Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg. Jetzt Wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Instituts für Interkulturelle Pädagogik (HIIP, www.hiip-hamburg.de)
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