Stefan Kutzner, Michael Nollert et al. (Hrsg.): Armut trotz Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Konrad Maier, 11.12.2009
Stefan Kutzner, Michael Nollert, Jean M. Bonvin, Monica Budowski, Pascale Gazareth et al. (Hrsg.): Armut trotz Arbeit. Die neue Arbeitswelt als Herausforderung für die Sozialpolitik.
Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG
(Zürich) 2009.
200 Seiten.
ISBN 978-3-03-777085-6.
26,00 EUR.
CH: 38,00 sFr.
Reihe: Schriften zur Sozialen Frage.
Hintergrund und Thema
Nach der Überwindung der Folgen des Zweiten Weltkrieges entwickelte sich in Deutschland und den entwickelten Industriestaaten Wohlfahrtsgesellschaften, die vielfach unter der Chiffre der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky) gedeutet wurden. Auch in der Sozialen Arbeit erfolgte eine Dethematisierung von Armut, Soziale Arbeit entwickelte sich zu einer „Sozialen Infrastruktur der Lebensbewältigung“ (Hering-Münchmeier 2000), es vollzog sich eine Verlagerung von randständigen Zielgruppen zum „Leistungsangebot für alle“ (Thiersch). – In den 1990er Jahren geriet der Wohlfahrtsstaat zunehmend in eine Krise, allenthalben wurde „Armut“ wieder entdeckt in Form von Einkommensarmut bzw. von Exklusion aus gesellschaftlichen Funktionssystemen, insbesondere der Erwerbsarbeit, der Bildung, der Wohnversorgung. Besonders alarmierend erscheint neben der zunehmenden Armut von Kindern und Jugendlichen das Phänomen der „Armut trotz Erwerbsarbeit“. Inzwischen ist ‚working poor‘ nicht mehr nur eine Erscheinung des US-amerikanischen Kapitalismus, sondern der entwickelten Industriegesellschaften insgesamt und ist inzwischen auch in der „reichen“ Schweiz angekommen.
Autoren und Adressaten
Im Oktober 2006 veranstalteten die Forschungskomitees „Soziale Probleme“ und „Wirtschaftssoziologie“ der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie (SGS) am Departement Sozialarbeit und Sozialpädagogik der Universität Fribourg eine Tagung zum Thema „Armut trotz Arbeit“, dessen Beiträge nun in einem zweihundertseitigen Reader vorliegen. Autoren sind Sozialwissenschaftler, ganz überwiegend aus der Schweiz, die sich mit Sozialen Fragen und Sozialer Arbeit beschäftigen. Der Band wendet sich deswegen zunächst an die scientific community der Sozialwissenschaft, die Beiträge sind jedoch überwiegend so verständlich geschrieben – teilweise allerdings in französischer Sprache –, dass sie für die an sozialen Fragen interessierte Öffentlichkeit und in diesem Bereich tätige SozialarbeiterInnen / SozialpädagogInnen durchaus interessant sind.
Inhalt
In dem einleitenden Beitrag geben Stefan Kutzner und Michael Nollert anhand des jüngsten OECD Armutsberichtes einen Überblick über die Armutsentwicklung in den entwickelten Staaten. Dabei ist nach allen Indikatoren eine deutliche Zunahme der Armutsquoten festzustellen, obwohl der Anteil der Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt unverändert hoch ist. Besonders alarmierend erscheint die Zunahme von Armut bei Kindern und Jugendlichen und bei Erwerbstätigen, deren Lohn die Armutsgrenze nicht überschreitet. Zunehmend werden die distributiven Sozialleistungen reduziert zugunsten einer „aktivierenden Sozialpolitik“ und die Etablierung von Rekommodifizierungsprogrammen. Das Konzept der Flexecurity, das insbesondere in den skandinavischen Staaten eingesetzt wird, kann langfristig nicht greifen, wenn die Erwerbsarbeit insgesamt abnimmt, wie es seit dreißig Jahren unter dem Stichwort „Krise der Arbeitsgesellschaft“ diskutiert wird. In dieser Situation sehen die Autoren einen beträchtlichen Forschungsbedarf, da es nicht mehr nur um die materielle Versorgung geht, sondern um die Abwehr der mit Armut verbundenen Anomien und den Erhalt der sozialen Kohäsion innerhalb des Gemeinwesens. Besonders wichtig erscheint dabei eine ethische Reflexion des gesellschaftlichen Bewertungsrahmens von Armut und des gesellschaftspolitischen Auftrags des modernen demokratischen Verfassungsstaates.
Im ersten Teil des Bandes werden Schlüsselbegriffe der gegenwärtigen Armutsdebatte kritisch reflektiert:
- Klaus Kraemer präzisiert den Begriff der ‚Präkarisierung‘ in Anlehnung an Castel als „soziale Schwebelage zwischen Wohlfahrt und Armut“. Danach ist Prekarität begründet in prekären Beschäftigungsverhältnissen, in einem prekären Erwerbsverlauf und/oder in einer prekären Lebenslage (z.B. unvollständige Familie u.ä.), wobei diese Phänomene erst im Zusammenwirken Prekarität hervorrufen. Interessant ist die Unterscheidung zwischen „erlebter Prekarität“ (in den unteren Einkommensgruppen) und „gefühlter Prekarität“, die nicht so sehr an den prekären Rändern der Arbeitsgesellschaft, sondern in ihrer Mitte festzustellen ist und eine gesamtgesellschaftliche Verunsicherung bewirkt.
- Thomas Loer setzt sich kritisch mit Schlüsselbegriffen zur Deutung des Strukturwandels der Erwerbsarbeit auseinander. Er geht davon aus, dass seit den 1950er Jahren die standardisierbaren Tätigkeiten zunehmend an Bedeutung verlieren und immer mehr die „Bestimmung, Beratung und Lösung von nicht vorhergesehenen Problemen“ m.a.W. die „Krisenlösung“ zentrales Kennzeichen der Erwerbsarbeit wird. In diesem Zusammenhang kritisiert Loer einmal die von Budde entwickelte Kategorie der „Überflüssigen“, da zwar die standardisierbaren und automatisierbaren Tätigkeiten überflüssig werden, keineswegs jedoch die bis dahin damit befassten. Die Kategorie der „Überflüssigen“ reduziert in unzulässiger Weise den Menschen auf den Status des Erwerbstätigkeiten und negiert Bürgerstatus und die Chancen die in der Befreiung von routinierter Tätigkeit liegen. Zum anderen kritisiert er die von Pongratz und Voß postulierte Employability, die nur die Fähigkeit zur stets neuen Anpassung von Beschäftigungsverhältnissen meint, gefordert sei eine Fähigkeit, mit krisenhaften Situationen produktiv umzugehen. Diese Fähigkeit ist kaum durch Schulungen vermittelbar, es handelt sich um „Haltungen zur Welt“, die „Freiräume“ und „Zeit für Muße“ benötigt.
- Uli Mäder reflektiert den in der Armutsdiskussion dominierenden Dualismus von Integration und Ausschluss. Anhand der schweizerischen Armutsstudien zeigt er auf, dass Integration in das Erwerbsleben zwar für viele zu einer gesellschaftlichen Integration führt, dass aber auch häufig ein Ausschluss aus dem Erwerbssystem neue Formen gesellschaftlicher Teilhabe eröffnet. Anhand verschiedener sozialwissenschaftlicher Theorietraditionen zeigt er auf, dass Integration und Ausschluss in einem komplexen dialektischen Verhältnis zueinander stehen und eine Polarisierung im Sinne eines Entweder / Oder eine unzulässige Vereinfachung darstellt.
Die beiden folgenden Beiträge beschreiben die Entwicklung von „Armut“ auf der Basis des Schweizer Haushaltspanels.
- Malika Wyss, Pascale Gazaretz und Katia Iglesias beschreiben die Entgrenzung von Armut und zeigen auf, wie auch in der Schweiz durch die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse neue Armutspopulationen entstehen, die durchaus in das Erwerbsleben integriert sind.
- Maurizia Masia und Monica Budowski gehen der Frage nach, wie Erwerbsstatus und familiale Situation unter dem Gesichtspunkt des Armutsrisikos zusammenwirken. Die Folgen von Trennung und Scheidung sind für Frauen sehr viel gravierender als für Männer, das Armutsrisiko der Frauen erhöht sich, wenn sie Kinder versorgen und wenn sie wegen der Kinderbetreuung nicht oder nur marginal ins Erwerbsleben integriert waren, bzw. sind.
Die gegenwärtigen Instrumente zur Bekämpfung von working poor erscheinen wenig hilfreich:
- Christoph Maeder und Eva Nadai untersuchen der Umgang mit Employability und „Leistung“ in Wirtschaftsunternehmen und Qualifizierungsprogrammen. Dabei wird deutlich, dass die Grundannahmen bezüglich der Bestimmung von Leistung auch in Wirtschaftsunternehmen in hohem Maße widersprüchlich ist, dass es aber bei den Beschäftigungsprogrammen überhaupt nicht um die Förderung von Leistung, sondern nur einer diffusen Leistungsbereitschaft geht, um eine „Selbstinszenierungskompetenz“, die in keiner Weise mit Leistungsfähigkeit – wie immer sie definiert wird – übereinstimmt.
- Anhand von Fallstudien zeigt Daniel Pakoci, dass die Sozialhilfe in der Schweiz weder nachhaltig die Arbeitsfähigkeit noch die persönliche Autonomie der Klienten fördert, sondern nur kurzfristig auf die Überwindung der Sozialhilfeabhängigkeit, also auf die finanzielle Autonomie ausgerichtet ist. Dies erfordert eine „professionelle Fallbearbeitung durch diagnostisch qualifizierte SozialarbeiterInnen“, die sich am langfristigen Ziel einer „persönlichen Autonomie“ orientieren.
Den Abschluss des Bandes bilden drei Beiträge zur Frage, wie die Umbrüche im Erwerbsbereich gesellschaftspolitisch bearbeitet werden können:
- Marc-Henry Soulet geht davon aus, dass das mit individualisierten Arbeitsverhältnissen verknüpfte Soziale Kohäsionsproblem zur entscheidenden Herausforderung für den modernen Sozialstaat wird. Er fordert vorab eine Reform der beschäftigungs- und generationenpolitischen Rahmenbedingungen, die dem sozialpolitischen Anspruch auf Solidarität gerecht wird.
- Rolf Küttel beschreibt drei grundlegende Veränderungen der bestehenden Arbeitsgesellschaft: Die Erosion der Vollzeitbeschäftigung, eine arbeitsmarktliche Flexibilisierung, sowie ein „Schwinden der Prägekraft der Erwerbsarbeit“. Seine Konsequenz: Armutsvermeidung lässt sich durchaus durch eine Sockelung der bestehenden sozialpolitischen Systeme erreichen, die Etablierung einer „effizienten, flexiblen Arbeitsgesellschaft“ erscheint jedoch nur möglich auf der Basis eines erwerbsunabhängigen Grundeinkommens.
- Sascha Liebermann begründet ein solches erwerbsunabhängiges Grundeinkommen aufgrund des Bürgerstatus: Er konstatiert einen Widerspruch „zwischen den konstitutiven Bestimmungen politischer Vergemeinschaftung im demokratischen Nationalstaat und Sicherungssystemen, die auf einer Gegenleistungsverpflichtung der Transferbezieher beruhen“. Spätestens, wenn der allgemeine materielle Wohlstand eine Einkommensgarantie „von der Wiege bis zur Bahre“ möglich macht, ist ein solches Grundeinkommen eine unabdingbare Voraussetzung für einen demokratischen Nationalstaat.
Zusammenfassung und Diskussion
Das Ergebnis des Sammelbandes lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die zunehmende Entgrenzung von Armut und die Zunahme von working poor ist auch in der durch ein hohes Lohnniveau gekennzeichneten Schweiz angekommen und die bestehenden sozialpolitischen Instrumente erweisen sich weithin als wenig geeignet. In verblüffender Übereinstimmung wird in einem bedingungslosen Grundeinkommen der angemessene Weg aus der Krise des Erwerbssystems gesehen. Bemerkenswert ist, dass die Armutsdiskussion in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen und die entsprechende Literatur fast nicht zitiert wird. Dementsprechend ist der in Deutschland favorisierte Ausweg aus der Krise im Sinne des Konzepts eines aktivierenden Staates und des Konzepts Forderns und Förderns kein Thema. Offensichtlich tritt in der Schweizer Diskussion die Erwerbsperson deutlich zurück zugunsten des eidgenössischen Bürgers und seinen Bürgerrechten.
Fazit
Der Sammelband gibt einen guten Überblick über die Entwicklung von Armut in den Ländern der OECD und beschreibt differenziert die Entwicklung von working poor in der Schweiz. Er dokumentiert ein von der deutschen Diskussion abweichendes gesellschaftspolitisches Denken, das nicht so sehr vom Erwerbsstatus, sondern von eidgenössischem Bürgerstatus geprägt ist.
Rezension von
Prof. Dr. Konrad Maier
Website
Es gibt 7 Rezensionen von Konrad Maier.
Zitiervorschlag
Konrad Maier. Rezension vom 11.12.2009 zu:
Stefan Kutzner, Michael Nollert, Jean M. Bonvin, Monica Budowski, Pascale Gazareth et al. (Hrsg.): Armut trotz Arbeit. Die neue Arbeitswelt als Herausforderung für die Sozialpolitik. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG
(Zürich) 2009.
ISBN 978-3-03-777085-6.
Reihe: Schriften zur Sozialen Frage.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8092.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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