Irmela Wiemann: Adoptiv- und Pflegekindern ein Zuhause geben
Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 03.02.2010

Irmela Wiemann: Adoptiv- und Pflegekindern ein Zuhause geben. Informationen und Hilfen für Familien.
Balance Buch + Medien Verlag
(Köln) 2009.
232 Seiten.
ISBN 978-3-86739-050-7.
D: 15,95 EUR,
A: 16,40 EUR,
CH: 26,50 sFr.
Reihe: BALANCE Ratgeber - Jugend + Erziehung.
Autorin
Irmela Wiemann ist Psychotherapeutin und Familientherapeutin und eine Expertin in der Beratung und Begleitung von Adoptiv-, Pflege- und Herkunftsfamilien.
Thema
Pflege- und Adoptivkinder haben zwei Familien; sie müssen zwei Familien in ihr Leben einbauen. Zudem sind sie häufig durch frühe Verwundungen und Trennungen und Verabschiedungen geprägt worden. Diese Kinder und Jugendliche zu verstehen und ihnen dadurch besser zur Seite stehen zu können; dabei will dieser Ratgeber beitragen.
Aufbau und Inhalt
In den ersten beiden Kapiteln geht Irmela Wiemann auf die aufnehmende Pflege- oder Adoptivfamilie und die abgebende Familie ein. Sie beschreibt unterschiedliche Formen der Pflege- und Adoptivverhältnisse und charakterisiert die Besonderheiten dieser Familien, vor allem der Pflegefamilie als ein Stück weit „öffentliche“ Familie“. Sie unterscheidet vier Dimensionen der Elternschaft (leibliche Eltern, seelisch-soziale Eltern, rechtliche Eltern, zahlende Eltern). Aufnehmende sowie Herkunftseltern übernehmen jeweilig in unterschiedlichem Umfang die verschiedenen Aufgaben. Im Folgenden geht sie auf die Sorgen und Nöte der Herkunftsfamilie ein und mahnt eine Unterstützung für dies Familien an, die oft fehlt. Sie beklagt, dass abgebende Mütter als „Rabenmütter“ abgestempelt werden, Väter dagegen, die sich nicht um ihre Kindern kümmern können oder wollen, werden gesellschaftlich nicht wie die Mütter geächtet. Thematisiert wird auch die Einbindung in die aufnehmende Familie als „Besuchseltern“, die Übernahme der Verantwortung für die Weggabe des Kindes sowie, was die Kinder von den Herkunftseltern brauchen.
Die Kinder, deren Sorgen und Nöte, werden in den folgenden Kapiteln verdeutlicht. Die Autorin plädiert für eine frühzeitige Aufklärung der Kinder; die Bewältigung des Fortgegebenseins ist ein lebenslanger Prozess. Nach frühen Bindungs- und Verlusterfahrungen befürchten die Kinder erneute Verletzungen und Verluste; Trennungen und Zurückweisungen werden aus dem Bedürfnisse, die Kontrolle zu behalten, provoziert. Die Kinder fühlen sich zudem durch die Defizite der Herkunftsfamilie entwertet und in der Pflegefamilie nicht als vollwertiges Mitglied aufgenommen. Die Autorin verdeutlicht die Bedeutung des inneren Bildes der leiblichen Eltern für die Identitätsentwicklung des Kindes; dabei spielt für eine positive Entwicklung die innere Haltung der aufnehmenden Eltern, die innere Annahme der Herkunftseltern, eine entscheidende Rolle. Die Kinder zeigen häufig ein erhöhtes Autonomiestreben.
Anschließend beschreibt Irmela Wiemann die unterschiedlichen Intensitäten der sozialen Elternschaft in der Dimension von Kurzzeitpflege bis Adoption. Sie empfiehlt den aufnehmenden Eltern, dem Kind mehr Autonomie zu geben und sich von der Phantasie, dass das aufgenommene Kind ihrem Wunschkind ähneln sollte, zu verabschieden und sich eine innere Ambivalenz dem aufgenommenen Kind gegenüber zu erlauben.
Die Autorin schildert einfühlsam die Wirkung früher Stresserfahrung, die Auswirkungen dieser seelischen Verletzungen auf unterschiedliche Entwicklungsdimensionen, von der kognitiven Entwicklung, dem Umgang mit Gefühlen und Dingen, der Selbststeuerung, der Gewissensbildung, der veränderten Wahrnehmung der Welt, der Beziehung zu Gleichaltrigen bis hin zur offenen Frage, ob und welche Kinder überhaupt familienfähig sind. Hilfen für diese Kinder erwachsen aus der inneren Haltung der erwachsenen Bezugspersonen. Auf der Handlungsebene gibt sie Anregungen für Hilfen im Alltag. Sie setzt sich auch kritisch mit einer Medikamentengabe bei der Diagnose „Hyperaktivität“ dieser Kinder auseinander.
Der Kontakt zu den leiblichen Eltern ist ein umstrittenes Thema. Wichtig dabei ist wiederum die innere Haltung der aufnehmenden Eltern. Es werden Hilfen für das Kind bis hin zur Frage der Kontaktsperre und begleiteten Umgangs diskutiert, sowie, was dahinter stecken kann, wenn das Kind keinen Kontakt will.
Ebenso umstritten ist die Frage, ob Geschwister gemeinsam oder getrennt untergebracht werden sollten. Die Autorin sieht überwiegend Vorteile einer gemeinsamen Unterbringung, außer sie hatten in der Herkunftsfamilie schon geringen Zugang zueinander, und diskutiert die Argumente der Gegner. Sie geht auch auf die Beziehung zu leiblichen Geschwister, die in der Herkunftsfamilie verbleiben, und auf die leiblichen Kinder der aufnehmenden Familie ein.
Von zunehmender Bedeutung sind Kinder aus anderen Regionen der Erde, z.B. das aus dem Ausland adoptierte Kind, deren Integration für das Kind eine große Kraftanstrengung erfordert, das etwa wegen seines anderen Aussehens Probleme in der Identitätsentwicklung hat, oder das Pflegekind aus einer Familie mit Migrationshintergrund, das vielen (kulturellen) Widersprüchen ausgesetzt ist.
Die Jugendzeit und das Erwachsenwerden ist eine aufregende Zeit, sowohl für Pflege- und Adoptiveltern wie für die Kinder. Es stellen sich neue Anforderungen, neue Identitätsfragen bis hin zur Suche und dem Wiederfinden der Herkunftsfamilie.
Diskussion
Der Ratgeber spricht alle wichtigen psychologischen Fragen bei Adoption und Inpflegenahme an. Die Besonderheiten der Adoptiv- und Pflegefamilie und die (anderen) Bedürfnisse der Kinder, die für eine gelingende Entwicklung verstanden werden müssen, werden einfühlsam herausgearbeitet. In allen Kapiteln wird immer wieder der inneren Haltung der aufnehmenden Eltern eine bedeutsame Rolle zugesprochen. Um diese zu erlangen bzw. auch umsetzen zu können, bedürfen sie der Unterstützung und der Beratung.
Die Leserin / der Leser findet viele Fallbeispiele, in denen hilfreiche Vorschläge der Unterstützung entwickelt werden, z.B. wie spreche ich mit dem Kind. In vielen Varianten können Briefe verwendet werden, etwa an die abgebende Mutter oder als „Lebensbrief“ an das Kind.
Sehr positiv finde ich, dass an einer Stelle auch die Bedeutung der Bindungsrepräsentation der aufnehmenden Eltern angesprochen wird, die ihre Verhaltensweisen mit beeinflussen.
Irmela Wiemann stellt bei kontrovers diskutierten Sachverhalten ihre Position dar. So benennt sie deutlich das Programm „Triple P“ als kontraindiziert bei traumatisierten Kindern und positioniert sich hinsichtlich der gemeinsamen Aufnahme von Geschwistern und den Kontakten zur Herkunftsfamilie klar. Ich denke, die Argumente des Für und Wider müssen im Einzelfall kritisch abgewogen werden.
Zielgruppen
(Zukünftige) Pflege- und Adoptiveltern; Herkunftseltern; Soziale Fachkräfte der Jugendhilfe; alle die fachlich mit Adoptiv- und Pflegekinder in Berührung kommen: z.B. Fachkräfte aus Kindergarten, Schulen, Heimen, Psychiatrie und Therapeuten
Fazit
In den 12 Kapiteln des Buches werden die Themen fundiert und gut verständlich angesprochen; die Problematik, aber auch Möglichkeiten des Umgehens damit, werden deutlich. Das Ziel, dazu beizutragen, diese Kinder und Jugendliche zu verstehen und ihnen dadurch besser zur Seite stehen können, wird in vollem Umfang erfüllt.
Alle in der Zielgruppe angesprochenen Personen können dieses Buch mit Gewinn lesen. Herkunftseltern kommen häufig aus bildungsferneren Schichten; nach meinen Erfahrungen gibt es aber sicher auch etliche, die von diesem Buch profitieren können.
Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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