Hanna Diederich: Melilla. [...] Europäische Abschottungspolitik [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Gazi Caglar, 20.03.2010
Hanna Diederich: Melilla. Transit oder Endstation. Europäische Abschottungspolitik und ihre Folgen für die Flüchtlinge.
Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2009.
192 Seiten.
ISBN 978-3-86099-616-4.
19,90 EUR.
CH: 35,90 sFr.
Reihe: Wissen & Praxis - 152.
Thema
In den vergangenen Jahren haben die Europäische Union, die nationalen südeuropäischen Küstenwachen sowie die EU-Grenzschutzagentur Frontex ihre Maßnahmen zur Abwehr unerwünschter Migrations- und Fluchtbewegungen in großem Stil ausgebaut und intensiviert. Militärische Maßnahmen, immer weiter spezialisiertes brutales Know-How und High-Tech zur Errichtung sichtbarer und unsichtbarer Mauern an den europäischen Grenzen, immer weitere Verschiebung des Lager- und Abschiebungssystems in die sog. Drittländer um die Europäische Union herum, Einsätze der europäischen Grenzschutzagentur Frontex usw. sorgen dafür, dass europäische Grenzen zu einem Jahr für Jahranwachsenden Massengrab werden. Allein für die spanischen und portugiesischen Außengrenzen gibt die Autorin die Zahl von jährlich 6000 bis 7000 Menschen, die ihr Leben bei dem Versuch lassen, die Europäische Union zu erreichen. Abschreckung, Mißhandlungen, Verletzung der Menschenrechte und ungesetzliche Zurückweisungen drohen den Migrierenden an diesen Außengrenzen und auch darüber hinaus innerhalb der EU. Sie wiederum haben ihre eigenen, subjektiven und autonomen Motive, Wünsche, Beweggründe und Strategien. Die Widersprüchlichkeit der europäischen Migrationspolitik, einerseits den größtmöglichen Nutzen am Einsatz von „fremden“ Arbeitskräften zu organisieren und andererseits legale Einwanderungsmöglichkeiten durch immer weitere Verschärfung der ohnehin restriktiven Gesetzgebungen abzuschneiden, bildet gemeinsam mit dem „subjektiv Erfahrenen“ durch die Migrierenden selbst den Fokus der vorliegenden Studie, deren empirischer Teil in Melilla, einem der Transitorte von Migrierenden in die Europäische Union durchgeführt wurde, der eine spanische Enklave an der Nordküste Marokkos ist. Dass vielfach die Geschichte der Orte, in denen eine rassistische Lagerhaltung von Menschen in der Migration organisiert wird, selbst faschistoide, kolonialistische und rassistisch-autoritäre Traditionen aufweist, läßt sich an den fundierten Beschreibungen der Autorin zur gegenwärtigen Struktur und Geschichte der Stadt Melilla gut demonstrieren. Insbesondere der Teil, der „als persönlicher Eindruck von Melilla“ beschrieben ist (S. 79), verweist auf die hohe humane Sensibilität der Autorin hin, die sich mit gutem literarischen Ausdruck paart.
Autorin
Hanna Diederich ist Dipl. Sozialarbeiterin /-pädagogin, arbeitete in einem marginalisierten Stadtteil in Quito/Ecuador, machte 2006/2007 ein Praktikum in der Asociacion Melilla Acoge/Spanien. Seit 2007 ist sie ehrenamtlich in der Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant/innen e. V. in Berlin tätig.
Aufbau und Inhalte
Die „globale Ungerechtigkeit“, die sich in Melilla verdichtet, einem „selbst erbauten Gefängnis“, in dem die Stimmung „bedrückend und schizophren“ ist (S. 79-80), wird über Gespräche mit den Flüchtenden und Migrierenden, die sich in dem umzäunten Lager C.E.T.I. in Melilla befinden, welche recht eigentlich zur Bewegungslosigkeit festgehalten werden, eingefangen und mit den globalen Strukturen von Migration und Flucht vermittelt. Was da im Kleinen an konkreten Erfahrungen Eingang in die Analyse findet, sind die durch die migrierenden Subjekte hindurch vermittelten globalen Strukturen von Ausbeutung, rassistischer Hierarchisierung der Arbeits- und „Lebenschancen“märkte und Gewaltsystemen einerseits und der immer wieder über sie hinausweisender subjektiver, lebendiger Hoffnungen und Utopien im Bloch‘schen Sinne andererseits. Der Kontext ist ein massenhaftes Leiden, das nicht durch falschverstandene Konzepte von Autonomie der Migration und Transnationalismus verschönert werden darf. Erst die schonungslose Entzifferung und Benennung dieses Leidens und der verantwortlichen Strukturen und ihre menschenrechtliche Bekämpfung kann Lichtblicke für Prozesse subjektiven Glücks eröffnen.
Die Arbeit geht vom Allgemeinen ins Besondere, um durch das Einfangen der Erfahrungen im Besonderen einen kritischen Blick auf das Allgemeine zu ermöglichen, der dadurch konkreter wird. Von Theorien zur internationalen Migration als aktuellem wie historischem Normallfall geht die Autorin zu einer detaillierten Untersuchung der europäischen Migrationspolitik im Spannungsfeld zwischen nationalstaatlichen Kompetenzen und Europäisierung. Von hier zu den Flüchtlingen und Migrierenden in Melilla, zu dem Auffanglager C.E.T.I. Und recht eigentlich kreist die Untersuchung immer mehr auf Menschen zu, die Namen haben: Zu Rachid aus Tunesien, dessen größter Wunsch es ist, „Melilla verlassen zu können“ (S.87), zu Gomera aus Indien, dessen Fluchtweg über Algerien nach Marokko läuft und der die Hoffnungen seiner Familie in Indien auf ein besseres Leben verkörpert, zu Nasuma aus Kamerun, der den Trennungsschmerz täglich spürend in Melilla hängt, während Frau und Kinder in Madrid im Flüchtlingsheim von ihm getrennt sind, und zu Mariama, die von der Familie aufgrund ihres Mutes zur Scheidung verlassenen und bedroht wird und in Melilla auf ihre Chance auf ein gelingenderes Leben wartet, und zu den anderen, die in dem Buch zu Wort kommen… Im Angesicht ihrer subjektiven Geschichten wird schließlich die Theorie wieder ins Blickfeld genommen.
Eine weitere Stärke des Buches sind die Orientierungen, die die Autorin der Sozialen Arbeit ins Buch schreibt: Migrierende und Flüchtende als Akteure wahrnehmen, soziale Arbeit konsequent an sozialer Entwicklung orientieren, was auch heißt, globale soziale Zusammenhänge nicht auszublenden. Folglich endet das Buch mit einem „Kategorie Mensch“ überschriebenen kurzen Abschnitt, in dem die nationalstaatliche „Kategorisierung von Menschen in bestimmte Migrationsgruppen“ zurückgewiesen wird. Verweist die Überschrift wohlüberlegt und beunruhigend darauf, dass im Angesicht des in Melilla focussierten Leidens Menschsein in den Metropolen dieser Welt kategorisch kein gelingendes sein kann? Und dass jede/r von uns berufen ist, Bedingungen des Menschseins zu reflektieren und herzustellen zu helfen?…
Zielgruppe
Die Publikation ist für Studierende und Wissenschaftsschaffende, aber auch für das interessierte Publikum sicherlich bewegend. Empfohlen sei sie aber den Planern und Administratoren europäischer und nationalstaatlicher Migrationspolitik, die dadurch vielleicht über das Irrationale des bisherigen Migrationspolitischen lernen könnten.
Fazit
Kurz und bündig: Eine sehr gute Lektüre auf der Höhe kritischer Sozialwissenschaft!
Rezension von
Prof. Dr. Gazi Caglar
Professor an der Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit der HAWK Hildesheim / Holzminden / Göttingen
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Es gibt 13 Rezensionen von Gazi Caglar.
Zitiervorschlag
Gazi Caglar. Rezension vom 20.03.2010 zu:
Hanna Diederich: Melilla. Transit oder Endstation. Europäische Abschottungspolitik und ihre Folgen für die Flüchtlinge. Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2009.
ISBN 978-3-86099-616-4.
Reihe: Wissen & Praxis - 152.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8109.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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