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Christian Reutlinger: Jugend, Stadt und Raum

Rezensiert von Prof. Dr. Reinhold Knopp, 13.01.2004

Cover Christian Reutlinger: Jugend, Stadt und Raum ISBN 978-3-8100-3832-6

Christian Reutlinger: Jugend, Stadt und Raum. Sozialgeographische Grundlagen einer Sozialpädagogik des Jugendalters. Leske + Budrich (Leverkusen) 2003. 272 Seiten. ISBN 978-3-8100-3832-6. 24,90 EUR.
Reihe: Stadtforschung aktuell, Band 93.

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Einführung in das Thema

Mit der Verschärfung sozialer Gegensätze kommt dem Sozialraum immer größere Beachtung zu. Spaltungs- und Ausgrenzungstendenzen werden im Raum sicht- und wahrnehmbar, insbesondere in den Stadtteilen der größeren Städte, die als benachteiligte Quartiere bezeichnet oder mit dem Etikett "besonderer Erneuerungsbedarf" versehen werden. Entsprechend hat das Thema Sozialarbeit im sozialen Raum Konjunktur. Die Wortmeldungen in dieser Diskussion beinhalten dabei sehr unterschiedliche Zugänge: Thematisiert werden sowohl Möglichkeiten einer ressourcenorientierten Sozialarbeit in der Lebenswelt von Menschen in benachteiligten Lagen als auch Fragen nach Potentialen für Einsparungen durch effektivere Arbeitsansätze und nach besseren Kontrollmöglichkeiten sozialer Arbeit.

In zwei, sich zum Teil auch überlappenden, Praxisbereichen der sozialen Arbeit spielt der Sozialraum eine besondere Rolle: In der Stadtteilarbeit, die zwischen Stadtteilmanagement und Gemeinwesenarbeit zum Teil sehr unterschiedliche inhaltliche Ansätze beinhaltet, und in der sozialraumorientierten Jugendarbeit. In der Auseinandersetzung über die soziale Jugendarbeit wurde mit dem von Lothar Böhnisch und Richard Münchmeier 1990 herausgegebenen Buch "Pädagogik des Jugendraums" ein theoretisches Konzept für die Raum-Aneignungsstrategien von Jugendlichen vorgestellt, dass insbesondere von Ulrich Deinet (1996,1999) und von ihm in Zusammenarbeit mit Richard Krisch (2002) konkretisiert und weiterentwickelt wurde. Die Arbeit von Christian Reutlinger knüpft hier an und leistet einen eigenständigen Beitrag in dieser Diskussion.

Zum Hintergrund des Entstehens des Buches

Das Buch beinhaltet die Reflexion und teilweise Zusammenführung unterschiedlicher Theorieansätze im Kontext der aktuellen Diskussion um Sozialraumorientierung. Zugleich dokumentiert es die Erfahrungen, die in einem 8monatigen Forschungsprojekt zu den Lebens- und Überlebensstrategien von Jugendlichen in den Slums der spanischen Städte La Coruna, Madrid und Barcelona gewonnen werden konnten.

Aufbau und Inhalt

Gegenstand der Veröffentlichung ist die Aufarbeitung des Verhältnisses von Jugend, Stadt und Raum unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen, die mit der Entwicklung vom Industriekapitalismus zum "digitalen Kapitalismus" entstanden sind. Ausgangsthese ist hierbei, dass sich Aneignungsprozesse von Jugendlichen unter diesen neuen gesellschaftlichen Bedingungen anders vollziehen und auch soziale Arbeit andere Formen der Unterstützung entwickeln muss. Diese Überlegungen werden in der Einleitung theoriegestützt dargestellt.

Im ersten Kapitel steht "die Suche nach verschiedenen Zugängen zu einer Sozialgeografie des Jugendalters aus aktuellen sozialwissenschaftlichen Ansätzen" im Zentrum (14). Zunächst referiert der Autor die Ergebnisse aus dem Diskussionsumfeld der Stadtsoziologie, in der eine Entwicklung zur Spaltung der Stadt und zum Verlust ihrer gesellschaftlichen Integrationsfunktion verzeichnet wird. Die gespaltene Stadt beinhaltet nicht nur eine unterschiedliche Verteilung von sozialen Gruppen, Lebensgütern und Ressourcen im Raum sondern führt auch zum "Aufbau einer unsichtbaren Mauer", "die die Orte der 'insider' von denjenigen der 'outsider' abriegelt und trennt" (26). Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die Entwicklung des Lebensortes Stadt für Kinder und Jugendliche im 20. Jahrhundert und dessen theoretische Reflexion vorgestellt. Hierbei findet sich der Hinweis, dass seit den 80er Jahren eine Zunahme von kritischen Auseinandersetzungen mit den immer mehr eingeschränkten Entfaltungsmöglichkeiten im städtischen Raum zu verzeichnen ist (35). Ausführlich wird der "Aneignungsansatz" von Böhnisch/Münchmeier aus den 90er Jahren vorgestellt, der von einer entfremdeten Lebenswelt ausgeht, die sich auch in der Gestalt "Städten, Straßen und Parks" räumlich konkretisiert. Die "im Zuge der Modernisierung" im Kapitalinteresse funktionalisierte und strukturierte Stadt bietet Kindern und Jugendlichen keine Ansatzpunkte, ihre eigene Lebenswelt zu gestalten und verdrängt sie in verhäuslichte und institutionalisierte "Binnenräume" (41). Kinder und Jugendliche erleben solche Verriegelungen als gegen ihre Interessen gerichtet und reagieren darauf mit Aggression. Folglich ist ihr Aneignungshandeln in der entfremdeten Stadt durch "abweichendes" Verhalten und sich sichtbar Machen durch Normverletzungen gekennzeichnet. In der Schaffung von eigenen Räumen (Abenteuerspielplätzen, Kinderhäusern etc.) liegt eine Antwort der Sozialen Arbeit auf die daraus entstehenden Problemlagen (47ff.). Solche Aktions- und Reaktionsmuster sind nach Ansicht des Autors unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr angemessen. Anknüpfend an die Ausführungen zur Entwicklung von der entfremdeten zur gespaltenen Stadt folgert er: "Heute führt die gleiche Aneignungstätigkeit wie vielleicht die der Väter oder der älteren Brüder der heutigen Jugendlichen in ihrer Jugend nicht wie bei diesen zu ihrer Integration, sondern zu einer Verstärkung der (räumlichen und sozialen) Exklusion" (63). Das Sich-sichtbar-Machen von Jugendlichen ist nicht mehr provokant, sondern störend und wird ordnungspolitisch geahndet - Jugendliche werden in die Unsichtbarkeit gedrängt (66). Weiterhin referiert der Autor Ansätze aus der Sozialgeografie, insbesondere mit Bezug auf die Arbeiten von Benno Werlen, in denen der Focus nicht auf den Raum sondern auf das Handeln der Menschen im Raum gesetzt ist: "Demnach werden die in den sozialräumlichen Forschungen immer wieder thematisierten 'Raumprobleme' zu Problemen des Handelns. Es geht nicht um die Untersuchung des verbauten, entfremdeten oder zubetonierten 'Raumes', sondern um die aktuellen Aneignungsformen in der Kindheit oder im Jugendalter" (S.96f.). In Rückbezug auf die bereits dargestellte neue Verwertungslogik des Kapitals im "digitalisierten Kapitalismus" hinterfragt Reutlinger die im ersten Kapitel vorgestellten Ansätze kritisch. Für alle Jugendliche nimmt der Druck des Mithalten-könnens ständig zu und das bei permanenten Risiko herauszufallen. Zugleich fehlen ihnen Orientierungen für eine rationale Lebensplanung. Für die Jugendlichen aus der "abgehängten Stadt" stellt sich zusätzlich das Problem des Überflüssigwerdens, da sie nicht mehr als Reserve für den Arbeitsmarkt benötigt werden.

Im zweiten Kapitel beschäftigt sich der Autor mit der "Sozialgeografie des Jugendalters in gespaltenen Städten" und fragt nach den Möglichkeiten der Entwicklung und des Erhaltes von Handlungsfähigkeit von Jugendlichen. Mit Bezügen zum Anomiekonzept von Emile Durkheim geht er der Frage nach, wie sich eine "Entkoppelung von Struktur- und Handlungsebene" im digitalen Kapitalismus für das Bewältigungshandeln im Jugendalter auswirkt (119ff.). Da einerseits die Teilhabe an der Arbeitsgesellschaft noch die vorherrschende Form gesellschaftlicher Integration ist, andererseits diese Perspektive für Jugendliche immer brüchiger und unplanbarer wird, stellt sich für sie eine zunehmende Diskrepanz "zwischen gesellschaftlich vorgegebenen Zielen und den individuellen Möglichkeiten, diese zu erreichen" ein (119). Die Handlungen von Jugendlichen führen unter den Bedingungen von "Überflüssigkeit" nicht mehr zur Integration, sondern zu ordnungspolitischer Ahndung und damit zu Desintegration. Entsprechend hat sich die Formel "Handeln= Aneignung + Integration" umgewandelt in "Handeln = Aneignung - Integration" (120).

Um handlungsfähig zu bleiben, benötigen Jugendliche "die Gewissheit, dass sich jemand mit ihnen auseinandersetzt." Dafür sind sie allerdings zunehmend auf die Gruppe von Gleichaltrigen verwiesen. Nur hier können sie in angemessener Weise die Bewältigungsdimensionen Orientierung, Zugehörigkeit und Anerkennung erfahren. Dies gilt zwar, wie vom Autor an mehreren Stellen dargestellt, für alle Jugendlichen aber insbesondere für Jugendliche aus benachteiligten Verhältnissen (143).

Im dritten Kapitel referiert der Autor die Ergebnisse seiner empirischen Forschung in den Slums spanischer Großstädte. Sein methodisches Vorgehen stellt er als "mitagierende Sozialforschung" vor, das er als ein Nachzeichnen der "unsichtbaren Bewältigungskarten" von Jugendlichen in gespaltenen Städten beschreibt: Das Mitagieren entspricht der Idee, "dass hinter den Bewältigungsformen von Jugendlichen im Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft eine Leistung steckt, die mit den herkömmlichen Forschungsmethoden in der Unsichtbarkeit liegt und erst einmal gesehen werden muss." Durch das Mitagieren findet der Sozialforscher überhaupt erst "einen Zugang zu den Jugendlichen und zu ihren Bewältigungskarten und beginnt damit wieder, die sozialräumlichen Probleme der Heranwachsenden zu sehen" (158). In der Darstellung von sehr anschaulichen Beispielen stellt Christian Reutlinger immer einen Bezug zu den von ihm vertretenen theoretischen Ansätzen her. Der Bau einer Hütte in einem Vorort von La Coruna beinhaltet für die Jugendclique nicht mehr einen "Ort des Experimentierverhaltens und der Möglichkeit des jugendkulturellen Konflikts mit Erwachsenen", sondern ist für sie als Lebensort wichtig und bietet ihnen einen "Ort der Ordnung, der Zuflucht und der Sicherheit" (162). Über Jugendgruppen aus dem gleichen Quartier berichtet Reutlinger, dass ihre Chancen, sich sichtbar zu machen, gering sind und dass sie "vielfach überhaupt nicht wahrgenommen" werden. Zudem sind ihre Möglichkeiten, im öffentlichen Raum zu agieren, stark eingeschränkt, da sie z.B. aus dem neuen "Supereinkaufszentrum 'Los Rosales' umgehend vom Wachpersonal entfernt werden (243).

In seinem Fazit verweist der Autor darauf, dass "eine zukünftige sozialpädagogische Jugendraumforschung" sich der Aufgabe zu stellen habe, Rückzugswelten von Jugendlichen "wieder in die Sichtbarkeit zu bringen und damit andere Formen der Integration" zu ermöglichen (250).

Fazit

Ein sehr spannendes Buch, im dem die Diskussion um die sozialräumlich orientierte Jugendarbeit auf dem Hintergrund veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen mit kenntnisreichen Theoriebezügen fortgesetzt wird. Besonders positiv ist die Verschränkung von Praxisbeobachtungen (in spanischen Großstädten) und Theorie. Hier schließt sich allerdings die Frage an, ob den nationalen Besonderheiten in Bezug auf die "Wahrnehmung" von Jugendlichen nicht doch eine größere eigenständige Bedeutung zukommt, wie sich dies in der Bundesrepublik z.B. durch die Zunahme von ordnungspolitischen Maßnahmen im Rahmen der Arbeitsförderung bzw. des Arbeitszwangs konkretisiert.

Rezension von
Prof. Dr. Reinhold Knopp
Professor für Stadt- und Kultursoziologie Hochschule Düsseldorf
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Es gibt 25 Rezensionen von Reinhold Knopp.

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ISSN 2190-9245