Daniel Hechler, Axel Philipps (Hrsg.): Widerstand denken
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.09.2009
Daniel Hechler, Axel Philipps (Hrsg.): Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht.
transcript
(Bielefeld) 2008.
279 Seiten.
ISBN 978-3-89942-830-8.
26,80 EUR.
CH: 43,00 sFr.
Reihe: Sozialtheorie.
Macht ist überall
Diese nicht allzu überraschende Feststellung ist erst einmal eine Tatsache und dem Menschen zugehörig, also „normal“. Gleichzeitig aber ist Macht auch Herrschaftsausübung und unterliegt damit der Gefahr, zu Unrecht zu werden. Wenn aber Macht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht – so lautet eine ethische und politische Aufforderung an den Menschen, resistent zu werden gegen die Zumutungen, Verführungen und Wirkungen von Herrschaftsausübung, vor allem wenn es sich um abweichendes, ethisch, moralisch, gesellschaftlich und politisch verwerfliches Verhalten handelt. Der französische Philosoph, Michel Foucault (1926 – 1984) hat sich mit seiner Diskursanalyse auch mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit Macht auch Widerstand hervorruft, gewissermaßen Formen der Resistenz erzeugt, die sich in vielfältiger Weise ausdrücken und zu Tage treten - „mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände“. Foucaults vielfältiges Bemühen, politisches Denken und Handeln der Menschen in der Geschichte und Gegenwart aufzuspüren und zu analysieren, lässt sich im „plebejischen Moment“ erkennen, als „Wunsch, das Spezifische, das Gefährliche des gegenwärtigen Augenblicks in den herrschenden Machtbeziehungen, in der Normalität aufzufinden“.
Entstehungshintergrund und Herausgeber
Die Leipziger Forschungsgruppe „Soziales e.V.“, die im Geisteswissenschaftlichen Zentrum der Universität Leipzig beheimatet ist, hat im Februar 2007 eine Arbeitstagung zum Thema „Foucault und Widerstand. Die Kehrseite der Machtbeziehungen“ veranstaltet. Daniel Hechler vom Institut für Hochschulforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Heidelberger Sozialwissenschaftler Axel Philipps vom Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht, beide Mitglied der Leipziger Forschungsgruppe, legen den Tagungsband mit den wissenschaftlichen Beiträgen vor. Sie gliedern den Band in drei Bereiche: „Ansätze für Widerstandspotentiale“ – „Grenzen eines Widerstandsdenkens“ – „Analysen von Widerständigkeiten“.
Aufbau und Inhalt
Der Leipziger Ulrich Brieler setzt sich in seinem Beitrag „Foucault und 1968“ mit widerspenstigen Subjektivitäten, die sich als direktes und physisches Engagement äußern und mit präzisen und konkreten gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzen. Seine Sorge, „wie kann man es anstellen, nicht zu einem Faschisten zu werden, selbst wenn … man glaubt, ein Kämpfer für die Revolution zu sein?“, verbindet er mit der Foucaultschen Konstruktion einer „neuen Politik“, der Gouvernementalität, die ein neues Verhältnis von staatlicher Souveränität und individueller Selbstbestimmung begründet. „Wir müssen neu lernen, nein zu sagen, und lernen, neu nein zu sagen“. Das aber kann nur gelingen mit dem Bewusstsein, „ein anderer zu werden“. In dem lokalen wie globalen Diskurs heißt das ja nichts anderes, als einen „Perspektivenwechsel“ herbei zu führen und das zu verwirklichen, was die Weltkommission für Kultur und Entwicklung 1997 uns ins Stammbuch schreibt: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“.
Der Soziologe und Kulturhistoriker Jens Kastner fragt: „(Was heißt) Gegen-Verhalten im Neoliberalismus?“. Es ist nicht der Widerstand um des Widerstands Willen, sondern eine dem Gouvernementalitäten verpflichtete Desertion; und zwar als „Gegen-Verhalten“, das sich als individuelles Handeln ausdrückt, im Nicht-Befolgen von Befehlen, im Brechen von Normen, also der Verweigerung von Zustimmung und zivilem Ungehorsam. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Foucaultsche Überzeugung, dass „die Suche nach dem Gegen-Verhalten im Neoliberalismus … immer auch dessen Neubestimmung sein (muss)“. Das könne gelingen, indem sich der Mensch wie ein Krebs „seitwärts voran“ bewegt.
Der Frankfurter Foucault-Experte Bernd Heiter reflektiert über „juridische Formen, Hartz IV und Widerstandspraktiken“, angesichts der Foucaultschen Aussage: „… nicht dermaßen regiert zu werden“. Die Krise des Liberalismus sei, so der Autor, durch das „neoliberale Freiheitsdispositiv“ erkennbar, als eine produktive Machtform, die sich verdeutlicht als „neue gouvernementale Vernunft… und (sich) verpflichtet zur Herstellung von Freiheit im Inneren der Gesellschaft, während sie an deren Rändern mit Repression arbeitet“. Anhand einer Typologisierung von Machtpositionen zeigt er Widerstandsformen gegen Praktiken neoliberaler Gouvernementalität auf.
Der Berliner Philosoph Christian Kupke diskutiert „Widerstand und Widerstandsrecht“, indem er seine Ausführungen auf Foucaults menschenrechtliches Engagement und seiner Idee des politischen Widerstands fokussiert. „Das Widerstandsrecht ist … ein Grundrecht, das sich diskursiv auf den Wesensgehalt anderer, ihm rechtstheoretisch vor-, aber demokratietheoretisch nachgeordneter Grundrechte bezieht bzw. gemäß unserer Verfassung von der Verletzung dieses Wesensgehaltes abhängt“.
Der Leipziger Politikwissenschaftler Ulrich Bröckling setzt sich in 14 Textcollagen mit den semantischen, polemischen, moralischen, konstruktiven und destruktiven Formen von „Kritik“ auseinander. Dadurch werden überraschende Bezüge und Entdeckungen sichtbar und Belehrungen dazu: „Kritik braucht keinen normativen Maßstab, aber sie wird ihn nicht los“. Literatur-, Gesellschafts- oder Sozialkritik – immer bleibt dabei die Foucaultsche Verzweiflung: „Das ganze Problem der kritischen gouvernementalen Vernunft wird sich um die Frage drehen, wie man es anstellt, nicht zu viel zu regieren“; aber auch die hoffnungsvolle und aufklärerische Hoffnung: Kritik ist das Gegenteil von Stillstand.
Wolfgang Fach zeigt mit einer Reihe von (Reflexions-)“Spielräumen“ Möglichkeiten und Grenzen auf, ob, im Sinne Foucaults, der gouvernementalen „Produktion des disziplinierten Subjekts“ ein Handlungsspielraum entgegengesetzt werden kann, der „mentale Exkursionen“ ermöglicht und damit aus einer sozialen Enge heraus führt.
Der Leipziger Kommunikationswissenschaftler Hagen Schölzel plädiert für einen „Mut zur Lücke“, indem er der Foucaultschen „Lücke im Herrschaftszustand“ und Anthony Giddens’ Strukturationstheorie nachspürt. Am Beispiel der Debatte um die Privatisierung von Gaz de France im französischen Parlament (2006) kommt er zu dem versöhnlichen und gleichzeitig irritierendem Fazit: „Reine Machtbeziehungen ohne Herrschaftseffekte und reine Herrschaftszustände ohne Lücken scheinen nicht möglich zu sein“. Der Philosoph referiert über „Widerstehen und Werden“, indem er Foucaults Einleitungstext seiner Antrittsvorlesung am College de France, am 2. Dezember 1970, zum Anlass nimmt, darüber nachzudenken, ob es Anlässe, Ereignisse oder Entdeckungen bei Foucault gibt, die ihm zu seinem Denken und Handeln zum „Widerstand“ gebracht haben. Es ist (zum Glück!) kein Blitz, der vom Himmel fuhr, sondern eine eher nüchterne Betrachtung: „Es ergibt sich, alles hat seine Ordnung“.
Im zweiten Teil, in dem es um „Grenzen des Widerstandsdenkens“ geht, bringt der Juniorprofessor am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal, Tobias Nikolaus Klass, „Anmerkungen zu einem Missverständnis“ an, indem er sich mit den Foucaultschen Paradigmen „Macht ist überall“ und „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand“ auseinandersetzt. Klass überraschende und den Denk-Geist beflügelnde Variante, die er zu bedenken gibt, lautet: Kann die Feststellung - „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand“ – nicht auch bedeuten: „Wo es Macht gibt, gibt es Gegen-Macht, die anderer Art ist als die erste Macht, auf deren Übergriff sie reagiert und zwar legitimerweise in sich“?
Die Wirtschaftssoziologin von der Technischen Universität Cottbus, Ines Langemeyer, analysiert Desintegrationsprozesse bei flexibilisierten und prekären Arbeits- und Lebensweisen und zeigt ihre Segregationsformen auf. Sie kommt dabei zum einen, angesichts der gegenwärtigen Individualisierungs-, Flexibilisierungs- und Prekarisierungstendenzen, zu der Erkenntnis, dass Foucault mit den sozialen Exklusionsformen wichtige Einsichten liefert, er andererseits jedoch daran scheitert, „weil er unterdrückende, ausbeutende oder unterwerfende Formen der Macht letztlich nicht von antiherrschaftlichen Formen kollektiver Handlungsfähigkeit analytisch unterscheiden kann“. Indem sie Foucaults Analysen mit denen von Pierre Bourdieus Habitus-Feld-Theorem vergleicht, in dem letzterer mit dem Problem ringt, „wie die Ausgegrenzten wieder gesellschaftliche Teilhabe erringen können“, eröffnet sie eine neue Denkrichtung, wie soziale Ungleichheiten unter Prekarisierungstendenzen analysiert werden können.
Der Leipziger Michael Schochow träumt. Er setzt sich auseinander mit Träumen und Utopien, und mit Programmen, die er aus Foucaults Werk über den Widerstand herausliest und dabei die Zukunft findet. Zwar als Traum und irgendwie unbestimmt, aber doch mit der Aufforderung verbunden, von der Theorie des Widerstandes zu träumen und davon, dass der Widerstand Wirklichkeit wird. Dabei vergleicht er die Foucaultschen „Träume“ mit dem „subversiven Widerstand“, wie ihn die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Judith Butler, die an der University of California in Berkeley lehrt, formuliert. Für sie ist „Widerstand … wesentlicher Bestandteil und Aufgabe des Subjekts“. Es sei notwendig, dass die Individuen den Widerstand zur Grundlage des eigenen und öffentlichen Lebens zu machen.
Der Politikwissenschaftler Robert Feustel unternimmt den Versuch, Foucault mit der Brille und den Denkwerkzeugen des französischen Philosophen Jean Baudrillard (1929 – 2007) zu lesen; vergeblich und doch gewinnbringend. Die Foucaultsche Frage, wie aus Wissen Macht wird, ist denn auch Ansatzpunkt für Baudrillards Kritik an Foucault mit seiner Provokation: Oublier Foucault (1983). Baudrillard deckt in der Tat eine Reihe von Schwachstellen in Foucaults Werk auf; aber „Foucault vergessen“, das ist nicht die Lösung der theoretischen Diskussion um den Macht-Wissenskomplex; weil sich „Form und Instanz der Wissensproduktion und –vermittlung … entscheidend geändert“ haben. Trotzdem: „Es bleibt nötig, Foucault auf der Rechnung zu haben“.
Im dritten Teil werden „Analysen von Widerständigkeiten“ diskutiert. Die Soziologin und Ethnologin an der australischen University of New South Wales, Ursula Rao, stellt „Überlegungen zum Begriff der Heterotopie“ an. Am Beispiel von (neuen, oft illegal entstehenden) Tempelbauten in Indien , nimmt sie Foucaults Begriff der Heterotopie, um danach zu fragen, ob solche Tempelbauten Macht und Widerstand in städtischen Räumen signalisieren.
Daniel Hechler reflektiert mit „Meine kleine Welt“ am Beispiel der Veränderung des Begriffs „Spießer“ gesellschaftliche Transformationen in den Auffassungen von Normalität und Abweichung. Dabei deckt er Mentalitätseinstellungen einer „neuen Bürgerlichkeit“ auf. Hier trifft er auf Foucault, denn „wenn Widerstand … sich in einer bestimmten Grenzhaltung artikuliert, in einer beständigen Kritik an der Gegenwart…, dann geht es vielleicht heute darum, diesen Impuls zu mobilisieren, um das neue Heldentum zurückzuweisen“.
Christian Driesen artikuliert „Schweigen“. Er fragt, indem er die Schreibe des Schriftstellers Gert Neumann heranzieht. Es müssen besondere Weisen des Sprechens und Schreibens sein, um das Schweigen zu erfahren. Widerstand sei, so Neumann, notwendig „von seinen Verpflichtungen auf sein ’Gegen’ zu trennen; denn „wo Widerstand außerhalb seiner Bindungen an die Sicherheiten eines ihm gegenüberstehenden anderen, nach Antwort über seine Rechte zu suchen hat“, da trifft der Schriftsteller auf Michel Foucault.
Axel Philipps schließlich beendet den Tagungsband mit einem Bild, indem er das Plebejische bei Foucault zum Anlass nimmt, danach zu fragen ob und inwieweit sich „Proteste und Resistenzen der Erwerbslosen“ in der Zeit der Arbeitsmarktreform Hartz IV regen. Dabei kommt er zu einer (gesellschaftlich beunruhigenden) Erkenntnis: Resistenzen zeigen sich in diesem Zusammenhang eher nicht als organisierte, systematische und kooperative Aktivitäten, sondern als unintendierte Widerstände, die sich der Vereinnahmung durch die herrschende Macht entzieht – und vom Rezensenten sorgenvoll hinzugefügt – sich in politischer Abstinenz, Gleichgültigkeit und unpolitischer (faschistischer und rassistischer) Radikalität ausdrückt.
Fazit
Sich mit Foucault auseinandersetzen, das zeigt der Tagungsband, ist hilfreich und notwendig, will man Widerstand nicht als „ungehörige“ Haltung missverstehen und auch nicht als willfähriges, unpolitisches Verhalten fördern. Denn eine Zivilgesellschaft braucht widerständiges Denken und Handeln, weil sie den mündigen, demokratisch aktiven Bürger benötigt. Dazu hat Foucault uns weiterhin viel zu sagen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 14.09.2009 zu:
Daniel Hechler, Axel Philipps (Hrsg.): Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht. transcript
(Bielefeld) 2008.
ISBN 978-3-89942-830-8.
Reihe: Sozialtheorie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8131.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
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