Harald Steffens: Soziale Arbeit im Kontext der IT-Technologien
Rezensiert von Prof. Helmut Kreidenweis, 23.10.2009

Harald Steffens: Soziale Arbeit im Kontext der IT-Technologien. Anforderungen an eine Profession in der digitalisierten Welt. Shaker Verlag (Aachen) 2009. 114 Seiten. ISBN 978-3-86858-240-6. D: 15,90 EUR, A: 15,90 EUR, CH: 31,80 sFr.
Thema
Die tägliche Nutzung von Informationstechnologien (IT) in Einrichtungen und Diensten der Sozialen Arbeit ist längst selbstverständlich, die Diskussionen über das „Ja“ oder „Nein“ sind ein Thema für Historiker. Statt dessen geht es heute um die das „Wozu“ und wie „Wie“ des Technologie-Einsatzes: die adäquate Abbildung der Fachkonzepte und Arbeitsprozesse, Implementationsstrategien, geeignete Formen des IT-Managements oder die Ermittlung des Wertbeitrages der IT zur Produktion sozialer Dienstleistungen.
Die Ungleichzeitigkeiten in der Praxis sind freilich noch immer groß: während manche Träger noch immer ihre Daten in selbst gestrickten Excel-Tabellen führen, setzten andere integrierte Informationssysteme ein, die das gesamte Unternehmensgeschehen elektronisch abbilden. Ähnliches gilt für die Ausbildung: Die Hochschulen bewegen sich in Sachen Sozialinformatik auf einem sehr unterschiedlichem Niveau, das von der Vernachlässigung dieses Themas über erste Ansätze zur Ausbildungsintegration bis hin zu spezialisierten Studiengängen und Forschungsstellen reicht.
Aufbau und Inhalt
In der Einleitung (S. 17) formuliert der Autor die beiden zentrale Fragestellungen des Buches:
- „Wie ist das Verhältnis von Sozialarbeitern zu IT-Technologien?
- Inwieweit ist eine Vertiefung zu diesem Themenbereich in der Ausbildung und Praxis notwendig?“
Der erste Abschnitt befasst sich mit dem Arbeitsmarkt im Sozialen Sektor. Skizziert werden die Ökonomisierungs- und Liberalisierungstendenzen sowie die Auflösung der Normalarbeitsverhältnisse. Grundlagen zu Computer und Internet sowie Daten zur Technologienutzung in Deutschland bilden das nächste Kapitel, das überleitet zur Technologienutzung in der Sozialen Arbeit. Anhand von Literaturquellen, die überwiegend aus den Jahren 1997 bis 2001 stammen wird die zentrale Argumentation einer Technikdistanz der Sozialen Arbeit untermauert. Anschließend werden Erklärungsversuche dafür geliefert: Geschlechtliche Sozialisation, Wertekonflikte, Altersstruktur der Beschäftigten und mangelnde IT-Orientierung der Ausbildung. Zum letztgenannten Punkt führt der Autor aus: „Besonders im Studium des Sozialwesens ist aufgrund der ´Technikfeindlichkeit´ nicht damit zu rechnen, dass eine Nutzung von Computern forciert wird.“ Die angeführten Literaturbelege für diese These stammen aus den Jahren 1993 bis 2001.Die Sozialinformatik als neue Disziplin wird im Folgeabschnitt mit ihrem aktuellen Diskussionsstand umrissen und anhand von Web-Recherchen werden beispielhaft einige Implementationen der Sozialinformatik in die Lehre gezeigt. Die Ergänzung sozialer Dienstleistungen durch IT wird anhand der Online-Beratung erläutert und ein weiterer Abschnitt befasst sich mit der digitalen Spaltung der Gesellschaft.
„Das Netz als Zugewinn“ ist die Überschrift des Folgekapitels, das sich mit der Internet-Nutzung durch die Vertreter der Profession beschäftigt. Hier wird u.a. anhand von Quellen aus den Jahren 1996 und 1997 nochmals die These einer Rückständigkeit der Sozialen Arbeit proklamiert. Anschließend zeigt der Autor einige Beispiele für die Web-Nutzung wie Internetberatung, Stellenbörsen, Mailinglisten oder Newsgroups. Den Abschluss bilden schließlich kurze Beschreibungen von Anwendungsbeispielen abseits des Internets: Ein elektronischer Blindenstock, Computersteuerung durch Augenbewegung für stark mobilitätsbehinderte Menschen und die Anwendung der RFID-Technologie (Funkchips) in der Betreuung Demenzkranker.
Im Fazit beklagt der Autor erneut: „ein Großteil der Sozialarbeiter steht den IT-Technologien mit einer großen Distanz gegenüber“ und plädiert für eine aktive, aber auch kritische Beschäftigung mit diesen Themen.
Diskussion
Das Buch zeichnet über weite Strecken das Bild der renitenten Profession und Disziplin Sozialer Arbeit, die sich im Schulterschluss den modernen Informationstechnologien verweigern. Diese zentrale Ausgangsthese belegt der Autor jedoch mit Quellen, die schon reichlich angegraut sind und zudem kaum auf Empirie bauen.
Zu fragen ist daher zunächst: in wie weit ist das hier entworfene Bild mit der heutigen Realität kompatibel? Keine Frage: Technikferne ist ein Phänomen, das in der Welt der Sozialen Arbeit existiert. Doch neuere Forschungen (vgl. Kreidenweis/Halfar: IT-Report für die Sozialwirtschaft 2007/2008 und 2008/2009) halten dem Autor hinsichtlich der Verbreitung dieses Phänomens empirische Fakten entgegen: Mit einem Anteil von mehr als 60% Computernutzern unter den Mitarbeitern steht die Sozialbranche heute auf Augenhöhe mit dem Durchschnitt aller Wirtschaftsbranchen in Deutschland. Jährlich investiert die Sozialwirtschaft ca. eine Milliarde Euro für Informations- und Kommunikationstechnologien. Einen Schwerpunkt unter den Investitionsvorhaben bilden Programme für die Planung, Dokumentation und Evaluation von Hilfen, die als Kernprozesse der Sozialen Arbeit gelten. Sicherlich beschreiben diese Fakten nicht die Psychodynamik von Sozialarbeitern, doch zeigen Sie das Bild eines Arbeitsfeldes, das sich in den vergangenen Jahren hinsichtlich seiner IT-Durchdringung enorm entwickelt hat und diesen Weg konsequent weitergeht.
Hier zeigt sich auch ein weiterer Knackpunkt dieses Buches: An keiner Stelle erwähnt es die mit Abstand wichtigste Form der IT-Nutzung in der Sozialen Arbeit: fachspezifische Software, in der Klientendaten und Leistungen verwaltet, Dienste geplant und zentrale fachliche Prozesse der oben beschriebenen Art abgebildet werden. Allein für Programme dieser Art geben die Träger Sozialer Arbeit hierzulande jährlich etwa 200 Millionen Euro aus, über 200 Anbieterfirmen mit mehreren tausend Mitarbeitern stellen sie her. Spannend wird es sicherlich bei der Frage, ob diese Software in den sozialen Diensten tatsächlich handwerklich und fachlich kompetent sowie im Sinne der Adressaten wertschöpfend eingesetzt wird. Doch zu dieser Ebene dringt Steffens erst gar nicht vor. Stattdessen listet er in rein deskriptiver Manier eine ganze Reihe von Internet-Anwendungsformen wie Online-Beratung oder Mailinglisten auf, die sich bereits seit vielen Jahren etabliert haben, aber nur ein vergleichsweise kleines Segment der Dienstleistungserbringung in der Sozialen Arbeit tangieren. Visionäre Nutzungsformen für neue Technologien etwa im Bereich der aktivierenden Selbsthilfe auf der Basis von social sites, lernende Sozial-Unternehmen auf der Basis von Wikies oder Telematik-Konzepte mit hybriden Dienstleistungen sind nicht erkennbar.
Irritierend ist überhaupt, dass die gesamte Welt des Web 2.0 nicht einmal andeutungsweise aufscheint. Wenn der Autor insbesondere auch den Studierenden der Sozialen Arbeit IT-Ferne attestiert, so verkennt er völlig, dass social sites wie StudiVZ, Facebook oder Lokalisten.de den Alltag der aktuellen Studierendengeneration sämtlicher Fachgebiete ganz wesentlich prägen und dass diese Generation heute während des Studiums bereits gelegentlich daran erinnert werden muss, dass es neben Wikipedia & Co. auch noch so etwas wie echte Bücher zum Anfassen gibt, die gegebenenfalls gesicherteres Wissen enthalten könnten.
Auch der Titel des Buches hinterlässt Fragezeichen: das redundante Akronym „IT-Technologien“ ausgeschrieben also: Informationstechnolgie-Technologien mutet seltsam an. Zwar erwähnt der Autor dies später im Buch selbst, verwendet diesen reichlich unglücklichen Begriff aber fleißig weiter.
Dieser Eindruck einer ausbaufähigen Durchdringung des Themenfeldes setzt sich an anderen Stellen fort: so lässt etwa die Linkliste sämtliche Einträge zu sozialinformatisch relevanten Websites vermissen und die zumeist in Fachzeitschriften geführte Sozialinformatik-Diskussion wird nur sehr vereinzelt aufgegriffen. Zu fragen ist schließlich auch, in welchen Welten sich die Hochschullehrer bewegen, die solche Arbeiten besprechen oder gar zur Publikation empfehlen. Sie wiederum scheinen die Kernthese dies Autors mindestens punktuell zu bestätigen.
Fazit
Ein wenig wirkt dieses Buch wie ein Edikt aus einer fernen Epoche. Wäre es am Ende des letzten Jahrhunderts erschienen, so hätte man es als visionäres Werk sicherlich uneingeschränkt empfehlen können. So aber stellt sich die Frage, welchen Nutzen es heute zu stiften vermag. Als Streitschrift für moderne Technologien in der Sozialen Arbeit gedacht, gerät es auf etwas tragische Weise selbst zum Beleg für die Distanz von Teilen der Profession zu einer qualitativ hochwertigen Auseinandersetzung mit aktuell relevanten IT-Themen.
Sinnvoller wäre sicherlich als Basis für eine derartige Arbeit eine überschaubare empirische Studie gewesen, die etwa die Einstellungen von Praktikern zur IT in einem konkreten Praxisfeld eruiert, um sich so eine differenziertere Betrachtung der postulierten Phänomene nähern zu können und gleichzeitig einen Mosaikstein zur empirischen Fundierung der Sozialinformatik zu leisten.
Abspann
Nicht nur die Soziale Arbeit, auch der Buchmarkt für die Disziplin wandelt sich: Seit einige Print-on-Demand-Verlage mit günstigen Publikationsangeboten aggressiv an Hochschulen auf Werbetour sind, kommen vermehr Qualifizierungsarbeiten auf den Markt, die mit dem gewohnten Niveau der Bücher aus den einschlägigen Fachverlagen nur schwerlich konkurrieren können. Vermehrt wird man also beim Buchkauf in Zukunft wohl auch auf das Verlagslogo blicken müssen.
Rezension von
Prof. Helmut Kreidenweis
Professor für Sozialinformatik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Gründer und Vorstand des Fachverbandes für IT in Sozialwirtschaft und Sozialverwaltung FINSOZ e.V., Inhaber der Beratungsfirma KI Consult.
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