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Rüdiger Posth: Vom Urvertrauen zum Selbstvertrauen

Rezensiert von Prof. i.R. Dr. Peter Bünder, 16.03.2010

Cover Rüdiger Posth: Vom Urvertrauen zum Selbstvertrauen ISBN 978-3-8309-2155-4

Rüdiger Posth: Vom Urvertrauen zum Selbstvertrauen. Das Bindungskonzept in der emotionalen und psychosozialen Entwicklung des Kindes. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2009. 433 Seiten. ISBN 978-3-8309-2155-4. 29,90 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-8309-3130-0 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Autor

Dr. med. Rüdiger Posth ist niedergelassener Kinderarzt und approbierter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in Bergisch Gladbach.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in fünf große Kapitel unterteilt:

  1. Urangst und Schreien
  2. Fremdeln und Anhänglichkeit
  3. Loslösung, Trotz und Selbstbewusstsein
  4. Stolz, Scham und Sozialleben
  5. Grundzüge des Gewissens

Jedem dieser Kapitel ist eine kurze Fallgeschichte aus der Praxis des Autors vorangestellt, wodurch die theoretische Beschäftigung konkretisiert werden soll. Zusätzlich sind 13 Fallbeispiele zur Illustration in den Text eingeflossen.

Im ersten Kapitel stellt Posth anschaulich dar, dass der menschliche Säugling als besonders empfindsames Wesen auf Gedeih und Verderben darauf angewiesen ist, beständig einen wirksamen Sozialkontakt zu den Menschen herzustellen, die sein Überleben sicherstellen müssen. Er kann seine elementaren Bedürfnisse nur auf zwei Weisen kommunizieren: Auf animierende Art und Weise (Lächeln, glucksen, Arme strecken) oder auf eine mehr oder wenige intensive fordernde Art und Weise des Protests (Nörgeln bis exzessives Schreien). Weil hier Erwachsene oft nicht sensibel und angemessen reagieren bzw. bei Überforderung sogar überreagieren, widmet Posth dem Säuglingsschreien einen breiten Raum. Dabei hält er ein überzeugendes Plädoyer, das Schreien eines kleinen Säuglings nicht als Form früher Tyrannei misszuverstehen, sondern vielmehr als entschiedenes Rufsignal für die Bezugspersonen, weil grundlegende (körperliche und seelische) Bedürfnisse zu befriedigen sind. Speziell für relativ unerfahrene Eltern kann dieses Kapitel Orientierung und Sicherheit vermitteln, speziell, wenn sie mit der Problematik eines so genannten Schreibabys konfrontiert sind.

Das zweite Kapitel thematisiert die Phänomene Fremdeln und Anhängigkeit. Eingangs verweist Posth auf die Grundvoraussetzungen für diese Phänomene, nämlich die geistige Fähigkeit des Kindes, zu erkennen und zu unterscheiden. Auf dieser Basis werden im Folgenden die grundlegenden Prozesse von Bindungsverhalten erläutert, wie sie im Rahmen der Bindungstheorie von Bowlby, Ainsworth und Nachfolger/innen entwickelt wurden. Wiederum ist das Buch sehr praxisbezogen, wenn Posth detailliert den fremdelnden Säugling im Alltagsgeschehen beschreibt (S. 113 ff.).

Im dritten Kapitel, Loslösung, Trotz und Selbstbewusstsein, erweitert Posth die bisher favorisierte Fokussierung auf die Mutter-Kind-Dyade. Zum einen legt er nun einen Schwerpunkt auf das sich entwickelnde Selbst des jungen Kindes, welches zu Beginn einhergeht mit einer inneren Loslösung. Nicht zustimmen kann ich der Auffassung von Posth, das „die Loslösung bis heute noch keinen vergleichbaren Einzug in den Diskurs über frühkindliche Entwicklungsprinzipien gefunden“ hat (S. 150). Vielleicht liegt der Eindruck darin gegründet, dass im Gegensatz zur derzeitigen Renaissance der Bindungstheorie die bahnbrechenden Erkenntnisse eines Erik H. Erickson zur Frage der Loslösung noch nicht wieder im allgemeinen Aufmerksamkeitsfokus stehen. Ebenfalls wieder sehr anschaulich handelt der Autor die frühen Bedürfnisse, die Entwicklung des eigenen Willens und die Bildung von Entscheidungsfähigkeit ab. Dies schließt Gewöhnung und Rituale, Beharrlichkeit, Wut, Widerstand und Trotz ein. Einen breiten Raum nehmen dabei hilfreiche Hinweise für eine angemessene Elternhaltung und erste frühkindliche Erziehungsmaßnahmen ein.

Das vierte Kapitel fokussiert auf die Entwicklung des frühen Selbst. Als theoretische Stützpfeiler dienen Posth dabei die bereits angeführte Bindungstheorie, die Selbstentstehungskonzept in den Grundzügen von Kohut und Kernberg sowie die von ihm selbst auf der Basis der Bindungstheorie und den Arbeiten von Winnicott und Mahler empirisch entwickelte Emotionenintegrationstheorie (EIT) (S. 69 ff.). Ausgehend von den primären Daseinsempfindungen Begehren und Ablehnung (Lust und Unlust) gibt sich Posth daran, die Verbindungsglieder von Emotionen und Handlungen, d.h. die Trias Fühlen, Denken und Handeln in der Verbindung von Gefühl und Verhalten abzuhandeln. Für ihn sind die beiden Kerngefühle dieser Entwicklungsphase Stolz und Scham. Wie auch den vorangegangenen Kapiteln orientiert sich der Autor auch hier an klassischen psychoanalytischen Konzepten. Auf der Ebene der praktischen Anwendung fokussiert Posth hier auf die Bedeutung von Aggressionen beim verstärkten Trotz gegen die Elternmacht, Fragen zur frühkindlichen Sexualität sowie zur Sauberkeitsentwicklung (S. 278 ff.)

Im fünften Kapitel behandelt Posth die Herausbildung des Gewissens. In der Tradition psychoanalytischer Vorstellung geht er von einer Relation von Über-Ich, Ich-Ideal und Gewissen aus (S. 329 ff.). Einen breiten Raum nehmen dabei die „Balance“ von Scham und Stolz sowie das schlechte und gute Gewissen ein. Erneut argumentiert der Autor auch hier wieder sehr praxisbezogen und bietet damit vor allem Eltern wertvolle Denkanstösse. Im Weiteren stellt er defensive und offensive Persönlichkeitsmerkmale im Sozialverhalten von Kleinkindern dar, unter anderem die Aspekte Aggressivität, Schüchternheit, das elterliche Vorbild sowie die sich entwickelnden Gefühle von Recht, Unrecht und Gerechtigkeit. Einen breiten Raum nimmt dabei die Bedeutung des elterlichen Modellverhaltens ein sowie Fragen zur Disziplin.

Den Abschluss des Buches bildet eine „Nachbemerkung und sozialpolitische Ausblick“, welche knapp zehn Seiten umfasst (S. 417 ff.). Posth referiert hier sehr verkürzt seine sozialpolitischen Vorstellungen, die zusammengefasst lauten, dass a) den Entwicklungsbedürfnissen eines kleinen Kindes unbedingt Rechnung getragen werden muss und dass b) die Kernfamilie als natürlicher Hort von Entwicklung gesellschaftlich mehr Unterstützung erfahren müsste.

Zielgruppen

Der Autor wendet sich an Kinderpsychologinnen und –psychologen, Vertreter/innen der Erziehungswissenschaft sowie an interessierte Eltern und Laien. Letztere müssen jedoch über ein gutes Maß an Bildung verfügen, um das Angebot des Buches erschließen zu können.

Fazit

Es ist ein informatives und lesenswertes Buch, welches sich vor allem durch einen großen Praxisbezug auszeichnet. Der Schwerpunkt des Buches liegt alleine auf der emotionalen und sozialen Entwicklung des Kindes. Die kognitive Entwicklung und damit Aspekte des Lernens, des Spiels und der Intteligenz bleiebn weitgehend unberücksichtigt. Dies schmälert aber nichz den Wert des Buches, welches mit dieser sinnvollen Eingrenzung eine dichte Beschäftigung mit der gewählten Themenstellung leisten kann. Etwas problematisch erscheint der Versuch, sowohl spezialisierten Fachkräften als auch Laien gleichermaßen ansprechen zu wollen. Für die Letztgenannten bietet das Buch – eine entsprechende Allgemeinbildung unterstellt – eine harte aber ansprechende Kost für die Gehirnzellen. Fachkräfte hingegen werden wohl in dem einen oder anderen Aspekt eine mehr in die Tiefe gehende Erörterung vermissen. Während Bowlby relativ ausführlich angeführt wird, ist dies bei Piaget deutlich weniger und noch weniger bei Erickson der Fall. Insgesamt gilt aber, dass es in einer verständlichen Sprache geschrieben wurde und einen guten Einblick in die psychosoziale Entwicklung der ersten Lebensjahre eines Menschen bietet. Bei Anerkennung des hohen ethischen Standpunktes des Autors in seiner Nachbemerkung ist doch zu fragen, ob es nach rund 400 inhaltlichen Seiten noch angemessen ist, auf kleinstem Raum ein so anspruchsvolles Thema wie eine komplexe sozialpolitische Erörterung anzuhängen, die mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet.

Rezension von
Prof. i.R. Dr. Peter Bünder
Vormals Hochschule - University of Applied Sciences - Düsseldorf, Lehrgebiet Erziehungswissenschaft am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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Es gibt 92 Rezensionen von Peter Bünder.

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ISSN 2190-9245