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Gabi dan Droste (Hrsg.): Theater von Anfang an!

Rezensiert von Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel, 06.07.2010

Cover Gabi dan Droste (Hrsg.): Theater von Anfang an! ISBN 978-3-8376-1180-9

Gabi dan Droste (Hrsg.): Theater von Anfang an! Bildung, Kunst und frühe Kindheit. transcript (Bielefeld) 2009. 256 Seiten. ISBN 978-3-8376-1180-9. 19,80 EUR. CH: 35,90 sFr.
Reihe: Theater - Band 11.

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Thema

„Theater von Anfang an!“ ist ein klug komponierter Bericht über ein Bündel von Modellversuchen, eine Einführung in eine bisher wenig bekannte und praktizierte Spiel- (und Theater-)form des Kindertheaters (bzw. der Theaterpädagogik), ist Arbeitsbuch und Selbstverständigungsergebnis einer engagiert arbeitenden, höchst kooperativen, international (teils formell, teils informell) vernetzten Gruppe, ein Buch, das Grundfragen von Spiel und Theater neu stellt, und nicht zuletzt eine Forderung: Theater von Anfang an!

Organisation und Herausgeberin

Das Projekt „Theater von Anfang an! Vernetzung, Modelle, Methoden: Impulse für das Feld frühkindlicher ästhetischer Bildung“ wurde vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland konzipiert und ausgerichtet; die Projektleiterin Gabi dan Droste, Spiel- und Theaterpädagogin, zeichnet als Herausgeberin der Publikation. In ihrem Vorwort führt sie ein in das tragende Netzwerk und die ästhetisch-pädagogische Problematik, erläutert die Anordnung der 20 relativ kurzen Beiträge (16 Artikel und 4 Interviews) und stellt deren Inhalte kurz, klar und verständlich vor.

Entstehungshintergrund

Das Projekt begann im September 2006 „an vier Orten der Bundesrepublik“ (Berlin, Mannheim, Hamm, Dresden) „in einer selbst zu bestimmenden Versuchsanordnung“. Jeweils in Zusammenarbeit zwischen einem Kindertheater und einer Kindertagesstätte wurde unter Beobachtung und Beratung von WissenschaftlerInnen „Theater für kleine Kinder und mit kleinen Kindern gemeinsam“ (S. 11) erforscht, gestaltet und erprobt.

„Als krönenden Abschluss“ gab es 2008 „das erste nationale Festival für die Allerkleinsten im Theater Junge Generation in Dresden mit neun deutschen Produktionen“ (12). Anregungen kamen unter anderem vom norwegischen (und internationalen) Projekt Glitterbird (Vorformen ab 1998, Hauptphase 2003-2006), vielfach aus Frankreich. Verständlich, dass das Figurentheater, das schon traditionell für ein jüngeres (und sehr junges) Publikum spielt, eine gewisse Vorreiterrolle einnahm; Silvia Brendenal von der Schaubude Berlin hatte „bereits 1999 das Festival ‚Unter dem Tisch‘ mit Inszenierungen für die Jüngsten ausgerichtet“ (104) „mit fast ausschließlich französischen Produktionen“ (107).

Aufbau und Inhalt

Das Buch versammelt zunächst „Kontexte“, die das „Diskussionsumfeld des Projektes wiedergeben und Zusammenhänge darlegen“ (13).

„Kontext: Bildung“ (S. 19 ff) untersucht „Theater im Kontext der Bildungsdiskussion“, „skizziert den Konflikt zwischen Kunst und Pädagogik“ und postuliert „Theater – sehen und spielen – ist Teil der ästhetischen Bildung“ (14).

In „Kontext: Kunst“ (85 ff) stellt Droste „Künstlerische Entwicklung und Diskurse in Europa“ vor und zeigt, wie wichtig auch in diesem Bereich der internationaler Austausch ist.

Darstellung und kritische Aufarbeitung des eigentlichen Modellversuchs werden in drei Schwerpunkte unterteilt: „Wahrnehmung“ (119 ff); „Wechselspiel zwischen Darstellern und Zuschauern“ (163 ff); „Eltern, Gemeinschaft und Fest“ (201 ff).

Abschließend gibt es kompakte Informationen zu Autorinnen und Autoren, zu Projektpartnern und assoziierten Partnern, zur Organisation und zu Stationen des Projekts. Beigelegt ist eine DVD mit Szenenausschnitten und ein bebildertes Programmheftchen.

Auch wenn in den Beiträgen immer wieder deutlich wird, wie sich hier eine lebendige Arbeitsgemeinschaft von Enthusiasten mit Hilfe von Texten untereinander verständigt und dabei immer wieder auf gemeinsame Erfahrungen (interne Arbeitstreffen, gemeinsame Fortbildungsreisen, Fachtagungen) und einen etablierten Diskussionszusammenhang zurückgreift, sind Berichte, Theoretisierungen und interne Auseinandersetzung so kommunikativ geführt, dass sich auch ein fremder Leser nicht ausgeschlossen fühlt – zumal die DVD auch die fehlende direkte Anschauung der Ergebnisse kompensiert.

Diskussion 1: Kind als Zuschauer

Herzstück des Theaters von Anfang an und damit im Zentrum der Aufmerksamkeit ist das kleineKind als Zuschauer. „Ab welchem Alter“ kann es zum Beispiel „die für das herkömmliche Theater geltende Grundsituation des Als-ob verstehen?“ (Droste 105). Gilt die Erfahrung des Theatermachers Dupont „Bis ein Kind sieben, acht Jahre alt ist, lässt sich seine Aufmerksamkeit von visuellen und klanglichen Formen erregen. Es braucht nicht unbedingt Erzählungen. Es sucht nicht nach dem WARUM. Es lässt sich beeindrucken“ (108)? Sicher scheint zu sein: „Die Grundsituation im Theater für die Allerkleinsten wird beispielsweise maßgeblich durch die Tatsache bestimmt, dass Kleinkinder über keinen Schutz ihrer Emotionen verfügen“ (Droste 112). Daraus folgt für Rieke Reiniger, Leiterin des Puppentheaters Dresden: „Wir haben Kinder als Publikum insofern mitgedacht, als dass wir nicht wollen, dass sie Angst haben und dass sie in der Aufführungszeit psychisch verletzt werden durch das, was wir machen. Deshalb ist die Inszenierung hell und sanft“ (84). Ähnlich die Beschreibung von Sinje Kuhn: Auch wenn es darum geht, „den jungen Aufführungsteilnehmern spezifische Erfahrungen zu ermöglichen“, so sind diese „eher nicht in den Bereichen von Verunsicherung und Irritation anzusiedeln, vielmehr sollen die Kinder am Theaterereignis partizipieren, sich dabei aber unbedingt wohlfühlen“ (188). „Die Musik erzeugt eine gemeinsame, angenehme Stimmung für alle Beteiligten. … Die Grundlage … bildet ein Metrum von 80 Schlägen pro Minute. Dies entspricht einem ruhigen, aber wachen Herzschlag“ (Wilma Haass u.a. 218) – so wird das „Baby Tanz Fest“ (Mannheim) charakterisiert. „Eine für Erwachsene extrem anmutende Langsamkeit ist für die Allerkleinsten wichtig … Neben Klängen und Tönen, bei denen man sieht, wer sie produziert und mit was, erzeugt die menschliche Stimme, die an die Kinder gerichtete Sprache, die größte und dauerhafteste Aufmerksamkeit“, beobachtet die begleitende Diplompädagogin (Petra Paula Marquardt 233) und konstatiert „für das Rezeptionsverhalten der Allerkleinsten … eine Art Fließgleichgewicht zwischen Spannung und Entspannung, zwischen neugierigem Erkunden und Sicherheitsbedürfnis, zwischen selbstentrücktem Staunen und motorischen, taktilen und verbalen Impulsen zur erneuten Selbstvergewisserung“ (Marquardt 229) – die Kleinen äußern sich also immer wieder lebhaft und direkt. Sie „übersetzen ihre ästhetischen Erfahrungen in eigenen Ausdruck“, wenn sie „etwa impulsiv aufstehen, sich rhythmisch bewegen, mitklatschen oder aber sich abwenden und bei den erwachsenen Begleitpersonen Schutz suchen. … Ihre Rezeptionshaltung ist also wahrhaftig nicht passiv, sondern über alle Maßen produktiv und so lässt sich mit dem Theater für die Jüngsten der untrennbare Zusammenhang von Beobachten und Gestalten deutlich beschreiben“ (Gerd Taube mit Hinweis auf Videodokumentationen von Bina Elisabeth Mohn und Geesche Wartemann, 43). „Faszinierend zu erleben, wie schnell und mühelos kleine Kinder zwischen zwei Wahrnehmungs- und Gestaltungsweisen hin und herschalten können: auf der einen Seite dem ‚pathischen‘ Aufgehen, sich fast Verlieren in der konkreten Erscheinung, der Materialität der Dinge und Phänomene und auf der anderen Seite dem mimetisch sich vollziehenden ‚gnostischen‘ Gebrauch derselben, entsprechend ihrer alltäglichen Funktion“, so bringt es Ute Pinkert mit Berufung auf Buytendijk auf den Begriff (123). Das aber heißt auch: „Ihr ungefiltertes Erleben, ihre unmittelbaren Reaktionen beeinflussen das Geschehen zwischen Darsteller und Zuschauer direkt“ (Droste 112).

SpielerInnen müssen also reagieren können! Sie brauchen „eine besondere Sensibilität“, um „auf kleinste Stimmungsschwankungen im Publikum einzugehen und die Balance der Kommunikation wiederherzustellen“ (Taube 93). Ähnlich Marquardt: Sie „sollten über besonders große Sensibilität und Spontaneität für die Reaktionen des Publikums verfügen, über besondere Liebe zu den Kindern und über Authentizität und die Bereitschaft, sich räumlich und emotional auf deren Nähe einzulassen“ (228 f). Sie müssen „den Gefühlszustand der Eltern und Babys wahrnehmen, um festzustellen, wie es ihnen geht und wie sie am Geschehen teilhaben können„; sie müssen „andererseits sich auf sich selbst“ und ihre „künstlerischen Mittel konzentrieren, um sich mit Musik und Tanz“, mit Spiel und Sprache Eltern und kleinen Kindern „zuwenden zu können“ (Haass u.a. 219). Denn: „Babys und Eltern erleben und erschaffen gemeinsam„(222) und zusammen mit den SpielerInnen die Aufführung! „Künstler, Kinder und ihre Begleiter“, eine „Dreieckskommunikation“, so hieß der Titel des Vortrags von Elisa Priester beim Festival in Dresden (gedruckt als „Rollen und Funktionen des Begleiters innerhalb der theatralen Kommunikation“, 203 ff). Der „Begleiter des Kindes“ solle „sichern, führen, assistieren“. Denn: „Die Kinder benötigen für ihre kleinen Entdeckungsreisen die beruhigende Gewissheit eines ihnen vertrauten ‚Startplatzes‘, zu dem sie immer wieder zurückkehren können“ (so Lippitz, zitiert von Priester, 205). Zugleich sollen die Erwachsenen „als Vermittler theatraler Konventionen und Regeln“ fungieren; sie müssen, sollen, wollen aber auch, selbst wenn vielfach theater-ungewohnt, „der eigenen Rezeption der Aufführung Raum“ geben, ein anspruchsvoller, aber unbedingt notwendiger „Balanceakt“ (Priester 209). „Denn auch die Mütter und Väter machen dabei ästhetische Erfahrungen und darüber hinaus erleben sie ihre Kinder in außergewöhnlichen Situationen, die ihnen der Alltag sonst nicht bietet„; aus diesem Faktum leitet Gerd Taube seine Forderung ab: „Kulturelle und künstlerische Angebote für Kinder und ihre Eltern (!) sollten daher Grundlage ästhetischer Bildungskonzepte in der frühen Kindheit sein“ (38).

Diskussion 2: Konflikt zwischen Kunst und Pädagogik

Weisen wir wenigstens kurz hin auf den immer wieder lustvoll aufgegriffenen, eigentlich nutzlosen und seit langem auf der Stelle tretenden, auch in dieser Publikation notwendig zu behandelnden (?) „Konflikt zwischen Kunst und Pädagogik“ (Droste 14, Taube 38 ff). Bei diesem Konflikt geht es, so Taube, „offenkundig um die Frage der Gestaltungs- und Deutungshoheit“ (40), also um Machtfragen, aufgeladen durch den Rekurs auf persönliche, vielfach vorschnell oder falsch verallgemeinerte Erfahrungen und durch Statusfragen (die auch über Förderungsmöglichkeiten entscheiden – können). In „Theater von Anfang an!“ überwiegen jedoch die unaufgeregten Stimmen; etwa Silvia Brendenal: „Den Zugang zu den theatralischen Vorgängen schaffen sich die Künstler über die sie interessierenden Themen, Materialien, Objekte oder auch über ihre didaktischen Ambitionen. … Die konzeptionelle Absicht dieser Inszenierungen ist durchaus eine didaktische, immerhin unternimmt sie den Versuch, entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge zu erklären. Diese Absicht realisiert sich aber sehr spielerisch, nahezu beiläufig, ist auch hier Teil des ‚inszenierten Suchprozesses‘“ (197). Ähnlich Schnawwl, das Mannheimer Kinder- und Jugendtheater: „Grundlegender Gedanke des Konzeptes ist es, einerseits künstlerische Aspekte wie Bewegung, Musik und Tanz einzubringen, andererseits aber auch pädagogische Inhalte zu vermitteln und die Eltern-Kind-Bindung zu stärken sowie die Ausdrucksfähigkeit zu fördern; alle Bereiche sollen miteinander verknüpft werden.“ (Haass u.a. 216). Dem entspricht die spezielle Untersuchung zu „Kooperationen zwischen Künstlern und Pädagogen“ und zum „Zusammenspiel von Kunst und Pädagogik im Theater für die Allerkleinsten“ (Kirsten Winderlich 69).

Mit einer gelungenen Metapher nennt Christel Hoffmann diese beiden Komponenten ein „ungleiches Zwillingspaar“, dessenZusammenwirken sie präzise bestimmt: „durch die genaue Selbstbestimmung kommen beide Sphären der Bildung von Menschen (Kunst und Pädagogik) erst recht zum Zuge. … Also hier am Menschen bündelt sich, was man danach wieder getrennt denken darf„; so zitiert von Taube (41, 44), der abschließend noch einmal von den Gestaltern des Theaters für die Allerkleinsten her argumentiert: „Die Künstler dieses Theaters müssen ihren Kunstanspruch behaupten … Und sie müssen den Bildungsanspruch ihrer Kunst behaupten, denn nur so können sie ihrer sozialen Verantwortung als Künstler nachkommen und die gesellschaftliche Akzeptanz für diese Theaterform stärken“ (43) – das ist, wenn ich richtig sehe, nicht nur ein Argument pro domo, sondern die legitime Forderung nach der Übernahme von Verantwortung für die Gesellschaft, in der die Künstler arbeiten.

Diskussion 3: Formbestimmung und Terminologie

Hinter der (eigentlich nur vorgeschobenen) Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Pädagogik verbirgt sich die im Grunde wichtige Frage nach einer genaueren Formbestimmung, die eng verbunden mit Entscheidungen zur Terminologie (also wiederum mit Deutungshoheit und Macht) ist. Zunächst ist klar: es geht nicht um bürgerliches, um traditionelles Theater, nicht um bürgerliches Literaturtheater (etwa Pinkert 123, Heinemann 132). Als positive Bezeichnungen tauchen jedoch neben dem Allgemeinbegriff Theater (bzw. Theater von Anfang an) einige ungewöhnliche Benennungen auf, eher Verlegenheiten, terminologische Ausflüchte: „Babys und Eltern erleben und erschaffen gemeinsam ein Kulturereignis, das bei jeder Zusammenkunft aufs Neue und in seinem Verlauf immer wieder einzigartig entsteht“ (Haass u.a. 222). Marquardt wiederum betrachtet, mit Verweis auf Gadamer und seine „Aktualität des Schönen“, das „‚Theater von Anfang an‘ als schönes Erlebnis auf der Basis von spielerischer, symbolischer und festlicher Interaktion“ (232). „Le Jardin du possible“ wird als „Installation“ bezeichnet (189).

Neben diesen unüblichen Benennungen gibt es den Begriffsmix, wie ihn Stephan Hoffmann in seinem Beitrag „Theater für Zweijährige?“ (59 ff) versucht. Er schreibt von Theaterspielformen, Rollenspielformen, „traditionellem Rollenspiel mit Kostüm und Requisit“, Theateraktion, Spielaktion, Spiel aus der Phantasie, theaterpädagogischem Spiel, strukturiertem Phantasiespiel, Theaterspiel. „Das Theaterspiel der Kinder ist ja weniger ergebnis- als vielmehr erlebnisorientiert“ (62). Hoffmann beobachtet die Reaktion der Kinder: „In der Wahrnehmung der Zweijährigen können Theateraktionen eine besondere Situation mit besonderen Regeln darstellen“ (63). Nach diesen Beobachtungen scheint es ihm möglich, „die Theateraktionen in den Krippengruppen als strukturiertes und regelgeleitetes Phantasiespiel, in denen die Spieler ihre Phantasie bewusst einsetzen, zu beschreiben“ (63). Spiel also der treffende Terminus?

Wartemann konzentriert sich auf den Begriff Theater und fragt: „Wie wird das Theater für diese allerkleinsten Zuschauer überhaupt zum Theater?“ (177); „Wie werden Handlungen als Theater gerahmt?“ (178). Nach mehrfachen genauesten Beobachtungen, gestützt von Videoaufnahmen, beschreibt sie präzis und ausführlich eine Einlasssituation vor der Aufführung. „‘Wir gehen gleich da ins Theater‘. sagt Barbara Kölling“, die Regisseurin, zu den „ein erstes Mal ordentlich auf den Bänken“ im Foyer versammelten Kindern „und zeigt mit der Hand“ in Richtung „der geöffneten Bühnentür… Mit diesen sprachlichen Erklärungen wird das Geschehen im Bühnenraum explizit als Theater etikettiert … Gestus und Tonfall … können Vertrauen wecken und so dazu beitragen, dass sich die Kinder bereitwillig auf die ungewisse Situation, das Unbekannte namens Theater, einlassen“ (179).

Ähnlich häufig wie das „Etikett“ Theater wird, wie schon bei Hoffmann, der Begriff Spiel gebraucht, oft genauer spezifiziert. „Die Theaterschaffenden knüpfen dabei an das Kindern in der frühen Zeit eigene Spiel an, dessen Form mit Jean Chateau als ‚Neugierspiele‘ bezeichnet werden kann„; allgemeiner formuliert: „In den Stücken für die Allerkleinsten, so unterschiedlich sie auch sind, wird das frühkindliche Spiel, das gemeinsame Spielen inszeniert, das – sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen – in besonderer Weise an die eigene Erfahrung erinnert“ (Winderlich 73). „Die französische Installation… Le Jardin du possible“ lädt ein, „miteinander und mit den Materialien ins Spiel zu kommen. Den individuellen Interessen und Bedürfnissen folgend wählt dabei jeder Teilnehmer seinen ganz eigenen Weg von Aktion und Interaktion mit Menschen und Material. … Im nonverbalen Dialog von Erwachsenen und Kindern werden die Qualitäten von Material erforscht, spielerische Formen der Kommunikation erprobt“ (Kuhn 189, 190) – ein Experimentierfeld, eine „Installation, mit der man etwas nach eigenem Belieben tun“ kann (Kölling 181). Schließlich Taube. Er nennt es „auffällig …, dass man im Theater für die Jüngsten nicht von Darstellern spricht. In den Diskussionen der Künstler ist vom Spieler die Rede … In den Aufführungen wird in der Regel kein spezieller Anlass für das Auftreten des Spielers konstruiert, wie etwa in der Exposition des Dramas. Der Spieler ist da. Er ist im Bühnen- bzw. Spielraum (!) präsent. Und er soll, laut Aussagen der Künstler des Theaters für die Jüngsten selbst, ernsthaft, wahrhaftig, ehrlich und präsent sein“ (93).

Ich fasse zusammen: Für die meisten Aufführungen scheint der Begriff Spiel zutreffend. Etwas vorsichtiger formuliert Petra Paula Marquardt unter der Überschrift „Das Spiel„: „Über die Bezugnahme auf die kindlichen Spielformen, das Explorations-, Konstruktions-, Symbol-, Regel- und Rollenspiel können viele Motive bzw. Vorgänge auf der Bühne des Theaters für die Allerkleinsten beschrieben und zugleich in ihrer künstlerischen Transformation betrachtet werden“ (227). Künstlerische Transformationen – das heißt, dass diese Spiele sorglich zu- und vorbereitet sind: besonders akzentuiert, mit ungewöhnlichen, formschönen, attraktiven Materialien ausgestattet, mit Licht und Musik in eine nicht alltägliche Umgebung eingebettet, „ästhetisch hervorgehoben“, wie Caroline Heinemann in ihrer Analyse der „Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Erlebnisräume“ schreibt: „Die (sinnliche) Auseinandersetzung mit Gegenständen und Materialien ist für die Kinder ein vertrauter Vorgang, der im ‚Jardin du possible‘ eine ästhetische Hervorhebung erfährt“ (135). In diesem Zusammenhang problematisiert Ute Pinkert die „Einübung sinnlicher Wahrnehmungsweisen“ (121 ff) auch (theater-)historisch, fragt nach den Unterschieden ästhetischer „Erfahrung in Alltags- und Kunsträumen“ und arbeitet insbesondere die „Aufwertung des Tastsinns“ und die „Inszenierung von Atmosphären“ heraus (126 ff).

Diskussion 4: Legitimationen

Der Pädagoge Peter Cloos weist auf das „Bildungsprogramm der Arbeitgeber ‚Bessere Bildungschancen durch frühe Förderung‘“ hin und darin zitierte empirische Studien, die „zeigen, dass die Qualität des gesamten Bildungssystems entscheidend von der Qualität der frühkindlichen Entwicklung abhängt“ (21) – nicht ohne kritisch zu fragen, ob es eher „um die Steigerung der gesellschaftlichen Produktion von Humankapital“ geht (23) oder um „das Eigenrecht des Kindes auf .seine Entwicklung“ (25).

Dieses Eigenrecht des Kindes wird vielfach apostrophiert, so von Gerd E. Schäfer, der mit einem eigenen Beitrag „Alltagstheater“ (145 ff) vertreten ist, aber auch mehrfach zitiert wird. Mit Rekurs auf ihn konstatiert Caroline Heinemann, „dass Wahrnehmung immer ein konstruktiver Vorgang ist“ (133), d.h. „Die Konstitution von Wirklichkeit geschieht also immer unter Einbeziehung des Gedächtnisses und damit vor dem subjektiven Hintergrund der bereits gemachten Erfahrungen (vergl. Schäfer 2005)“ (134). Das bedeutet aber auch: „Bildung ist ein aktiver Prozess, in dem sich das Subjekt eigenständig und selbsttätig in Auseinandersetzung mit der sozialen, kulturellen und natürlichen Umwelt bildet“ (12. Kinder- und Jugendbericht). Also heißt es, „den Blick vom Adressaten (von Bildung, Erziehung und Betreuung) zum Akteur zu wenden“ (Cloos 26), den Adressaten also zum Akteur zu machen. Mit anderen Worten: „Im Zentrum steht die Entwicklung und Förderung der subjektiven Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen nach Maßgabe der subjektiven Interessen und Ausgangslagen – also nicht nach Maßgabe ‚objektiver‘ künstlerischer oder kultureller Qualität“ (Eckart Liebau 46), ist doch die „Bildung von Kindern, insbesondere in der frühen Zeit, … auf Selbstbildungsprozesse des Kindes bezogen, die von ihnen auf schöpferische Weise selbst organisiert und gesteuert werden“ (Kirsten Winderlich 72). Noch einmal Schäfer selbst: „Das Zentrum pädagogischen Handelns ist nicht Zielorientierung und Zumutung von erwachsenen Absichten, sondern liefert den Spielraum für das Denken und Handeln“. In diesem Spielraum „können Kinder ihre Handlungswege finden, sich Wirklichkeit zu eigen machen und sich selbst gleichzeitig dieser Wirklichkeit ein Stück weit annähern“ (155). Dafür benötigen Kinder „Orte, an welchen sie über ihre Geschichten nachdenken können, indem sie sich diese vor Augen führen, sie als Handlung inszenieren können. Bevor das Theater erfahrene Wirklichkeiten auf die Bühne bringt, brauchen Kinder vielfältige Gelegenheiten, ihre Erfahrungen als zusammenhängende Ereignisse zu erleben, in ihr Gedächtnis aufzunehmen, mit Hilfe vorhergehender Erfahrungen zu denken und in Handlungen mit den Geschichten anderer zu verbinden und schließlich in Bildern und Worten szenisch zu reflektieren“ (156)[1].

Diskussion 5: Theater neu denken

Theater für die Allerkleinsten ist gleichsam Theater in statu nascendi. Wenn in einer Gruppe von Spielenden ein Mitspieler zum Spieler (zum Vorspieler, vielleicht zum Schauspieler) wird, die anderen zum Publikum – nach kürzerer oder längerer Zeit sich aber wieder ein gemeinsames Spiel herstellt – dann sind wir gleichsam zur Ursprungssituation von Theater zurückgekehrt, in der sich aus Handlungen Reden und Geschichten entwickeln (können), in der sich die Spielenden zeitweilig als Schauende und Zeigende unterscheiden, der Spielraum für Augenblicke zum Schauraum (wörtlich übersetzt: zum Theater) wird.

In diesem Sinne geht es im Theater von Anfang an um „Die Wiederentdeckung des Theaters aus dem Geist des Kinderspiels“ (Kirstin Hess im Gespräch mit Gabi dan Droste 159 ff); zugleich ist das „Theater für so kleine Leute wie eine wunderbare Nach-Schauspielschulen-Schule‘ für Schauspieler“ (161) – nicht zuletzt deshalb, weil die kleinen Leute direkt und spontan reagieren und „nicht auf … Konventionen konditioniert“ sind (Taube 87).

Also werden nolens volens im Theater von Anfang an Basiserfahrungen von Theater neu buchstabiert – etwa die Atmosphäre, die Sinne, das Spiel mit den Reaktionen der Zuschauenden.

Fazit

Der Band, entstanden aus einem überaus lebendigen Diskussionszusammenhang (ablesbar an vielen Querverweisen und Bezugnahmen) ist insgesamt das Musterbeispiel einer unvoreingenommenen, erfahrungsgesättigten „theaterpraktischern Empirie“ (Pinkert 121), begleitet von unterschiedlichen Wissenschaften, getragen von ansteckendem Enthusiasmus und einer unbändigen Experimentierlust, die noch lange nicht zufrieden ist (Gerd Taube spricht bescheiden von einer notwendigen „Zwischenbilanz“, 88) und zur Weiterarbeit drängt (z.B. der „Herausgabe einer Spielesammlung“, 67).

Die vorzüglich aufbereitete Sammlung der Beiträge ist wichtig für Praktiker und Theoretikerinnen aus den Bereichen Früherziehung, Theater, Pädagogik, Spiel – und Politik, denn: „Ein Grundübel bei uns ist es, dass auf die erste Erziehung zu wenig gewandt wird. In dieser aber liegt größtenteils der ganze Charakter, das ganze Sein des künftigen Menschen“, so Goethe an Knebel im Mai 1810.(vor 200 Jahren!).


[1] Schäfer gibt seinem Artikel (freundlicher Weise?) die Überschrift „Alltagstheater„; im eigentlichen Sinne aber geht es bei ihm um Spiel (Rollenspiel) des Kindes, nicht um Theater.

Rezension von
Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel
Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin
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Zitiervorschlag
Hans Wolfgang Nickel. Rezension vom 06.07.2010 zu: Gabi dan Droste (Hrsg.): Theater von Anfang an! Bildung, Kunst und frühe Kindheit. transcript (Bielefeld) 2009. ISBN 978-3-8376-1180-9. Reihe: Theater - Band 11. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8173.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.


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