Herbert Renz-Polster: Kinder verstehen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.10.2009

Herbert Renz-Polster: Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägtMit einem Vorwort von Remo Largo. Kösel-Verlag (München) 2009. 512 Seiten. ISBN 978-3-466-30824-8. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 34,90 sFr.
Kinder erziehen – eine einfache und natürliche und gleichzeitig schwierige Herausforderung
Über Kindererziehung wird sicherlich nachgedacht, seit es Menschen gibt und die Evolution ihnen Verstand, Moral, Geschichts- und Existenzbewusstsein gegeben hat. Grundsätzlich haben die Menschen dabei vermutlich in den beiden Extremen gedacht und gehandelt: Erziehung „per Ordre Mufti“ und „Laissez-faire“; also Erziehung nach dem Willen der Erwachsenen oder so, wie die Natur es will und gibt, ohne dass die Erziehungsberechtigten dabei Einfluss nehmen. Beide Formen sind Endpunkte und damit nicht dem Wohl des Kindes geschuldet, sondern anderen Mächten und Lebensvorstellungen. Aristoteles hat in seiner Lehre über die Institutionen, die Menschen zu Menschen machen, richtigerweise die „paideia“ mit der Erziehung und Bildung gleichgesetzt. Dabei stellt er bereits die drei Fragen, die auch bei der heutigen Erziehung und Bildung der Menschen grundlegend sind: Soll man für die Aufgaben von Erziehung und Bildung feste Anordnungen treffen? Soll Erziehung und Bildung eine gemeinschaftliche und damit gesellschaftliche oder eine individuelle Aufgabe sein? Welche Art soll Erziehung und Bildung sein? (vgl. dazu: Ottfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 420). Die Auffassungen über hierarchische oder partnerschaftliche Erziehung bestimmen bis heute den Diskurs darüber, was die „richtige“ Erziehung sei. Erziehungsratgeber, von denen es leider nicht allzu viele wirklich brauchbare gibt (zu empfehlen ist dabei: Rudolf Dreikurs / Vicki Soltz, Kinder fordern uns href="/rezensionen/5966.php">www.socialnet.de/rezensionen/5966.php), versuchen dabei, Handlungsanweisungen für Eltern und ErzieherInnen zu vermitteln, die nicht Rezepte sind. Denn Erziehung ist die nicht leichte, aber einzig wahrhaftige Aufgabe, Kinder und Heranwachsende zu führen und wachsen zu lassen, wie dies der Erziehungswissenschaftler Theodor Litt 1952 als das pädagogische Grundproblem formuliert hat.
Autor und Thema
Der Kinderarzt und Universitätsdozent Herbert Renz-Polster denkt darüber nach, „wie die Entwicklung von Kindern mit Hilfe der Evolutionstheorie besser verstanden werden kann“. Was meint er damit? Es geht um die evolutionsbiologische Erkenntnis, dass „sich Lebewesen nicht nach einem Plan oder auf ein bestimmtes Ziel hin verändern, sondern dass sich Änderungen durch die beständige Reaktion auf die vorgefundenen Lebensbedingungen ergeben“; was bedeutet, dass die Evolution bei den Menschen, wie auch bei den anderen Lebewesen, als Wechselspiel zwischen Umwelt und Erbanlagen verstanden werden muss. Wenden wir also diese Einsicht auf die Erziehung von Kindern an, heißt das nichts anderes, als dass Begabung und Vererbung, Anpassung und Widerstand, Individualität und Gemeinsinn, Emotion und Intellekt Bausteine sind, die den Menschen zum Menschen machen. Der evolutionsbiologische Gedanke dabei ist faszinierend wie selbstverständlich zugleich: „Das ’Wirkprinzip’ der Evolution … hilft den Lebewesen, die stets wiederkehrenden Probleme, denen sie in ihrer Umgebung begegnen, immer besser zu lösen“. Der Mensch bildet hierbei keine Ausnahme, wiewohl er durch Intelligenz und kulturelle Leistungen das entwickeln kann, was als „Flexibilität“ bezeichnet wird.
Inhalt
Der Autor geht nun bei seinen Reflexionen über Erziehung nicht den Weg, der sich erst einmal anbieten würde; nämlich der Frage, was den Kindern fehlt und wie dies im Erziehungs- und Bildungsprozess hergestellt werden könnte, sondern er stellt die Vorteile heraus, die ein bestimmtes (gewünschtes) Verhalten bieten. Sein evolutionärer Ansatz kristallisiert sich dabei in den folgenden Kernpunkten heraus:
- „Kinder leben mit einem Fuß in der Steinzeit“, was bedeutet, das Geschichtliche des Menschseins im Blick zu haben; was freilich nicht bedeutet, „wieder auf die Bäume zurück zu wollen“; aber bestimmte, erst einmal für Erwachsene überraschende Verhaltensweisen von Kindern einordnen zu können und sie nicht mit Erwachsenenerwartungen zu überfordern.
- „Kinder bringen Stärken mit“, was heißt, dass ein Kind fähig und bereit ist zu lernen, sich auf neue Bedürfnisse einzustellen und sogar fähig ist, seine Erziehung ein gutes Stück weit selbst in die Hand zu nehmen und zu organisieren.
- „Kinder sind Teil unseres Systems“ und unseres „Selbst“. Wie Kinder sich entwickeln, hängt auch davon ab, wie wir Erwachsene sind. Dabei kommt es nicht in erster Linie auf raffinierte und klug ausgedachte Erziehungstechniken und –ratschläge an, sondern auf das, was uns selbst, in unserem individuellen und gesellschaftlichen Leben Kraft und Rückendeckung gibt.
Weil nicht wenige Eltern und Erziehungsberechtigte ihre Kinder aber nach der Vorstellung erziehen, ihnen möglichst viele Steine und vermeintliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen, sie sogar versuchen, „in Watte zu packen“, mit den Vorstellungen, dass die „Kinder es einmal besser haben sollen, als man es selbst hat(te)“ – deshalb macht Renz-Polster auf einige Missverständnisse aufmerksam, die Erziehungsverhalten bestimmen können:
- Das erste Missverständnis bestehe darin zu meinen, dass die Natur schon den „richtigen“ Weg bei der Erziehung der Kinder aufzeige. Vielmehr müssen wir selbst entscheiden, was wir richtig finden und es dann auch durchsetzen.
- Zweitens: Nicht das vermeintlich Intuitive ist es, was Erziehung ausmacht; vielmehr muss der oft mühsame Umgang mit Kindern erlernt werden; ein erziehender Vater oder eine „natürliche“ Mutter fallen nicht vom Himmel!
- Drittens, und das hängt eng mit dem vorher Genannten zusammen, die Vorstellung, es käme vor allem auf die Gefühle an. Sie sind natürlich im Erziehungsprozess wichtig, aber sie reichen nicht aus – vielmehr bedarf es einer Kompetenz zur Erziehung.
- Viertens: Evolutionäre Erziehung sei eine Einbahnstraße, bei der nur das Kind die Richtung vorgebe. Es gibt keinen „perfekten“ Weg der Erziehung; er ist vielmehr immer gepflastert mit Kompromissen.
- Fünftens schließlich, dass die Evolution alles erkläre und bestimme. Evolutionäres Denken könne zwar bestimmte (universelle) Verhaltensmuster deuten, aber es liefere keine Gebrauchsanweisung für eine gute Erziehung.
Der Autor benutzt dafür das schöne Bild einer „Brücke“ und nicht das eines Rezeptbuchs: „Wenn wir ihre Erwartungen besser verstehen, wenn wir erklären können, warum sie weinen, warum sie sich unwohl fühlen, dann können wir Eltern das unsere tun, um ihnen eine Brücke in die heutige Welt zu bauen“. Damit die Brücke auch trägt, bringt Renz-Polster in seinem umfangreichen, mit „Leit“-Bildern ausgestatteten Buch, in den insgesamt 18 Kapiteln Beispiele und Denk- und Handlungsanregungen, die von „Wie Kinder essen lernen“, über „Stillen – die natürlichste Sache der Welt?“, „Warum Kinder trotzen“, „Warum Kinder fremdeln“, „Wie Kinder zu Persönlichkeiten werden“, bis hin zu Fragen „Wie Fairnett und Moral entstehen“ und „Von anderen Kulturen lernen?“ reichen.
Fazit
Das Faszinierende an dem Buch, das wie ein Sammelsurium von allen möglichen und denkbaren Situationen daher kommt, wie Kinder irgendwo in der Welt, lokal und global, aufwachsen, ist: Es lebt von glaubhaften und einsichtigen Beispielen und Argumenten, die intellektuell und emotional überzeugen. Damit entsteht (glücklicherweise) kein Rezeptbuch und auch keins mit erhobenem Zeigefinger, sondern tatsächlich so etwas wie eine „Navigationshilfe“ für eine Erziehung, die darauf ausgerichtet ist, die Kinder zu verstehen. Es ist kein wissenschaftliches Buch im strengen Sinne; aber die Beispiele und Anregungen beruhen überwiegend auf wissenschaftlichem Denken. Deshalb ist die Frage, wie die Evolution unsere Kinder (und uns) prägt, für den Erziehungsprozess bedeutsam und richtig. Dadurch wird der „Balanceakt“, der sich in dem Buch zeigt, zu einem Ratgeber und einem Reflexionsanker zugleich – für Erziehende in Familie und Gesellschaft.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 27.10.2009 zu:
Herbert Renz-Polster: Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägtMit einem Vorwort von Remo Largo. Kösel-Verlag
(München) 2009.
ISBN 978-3-466-30824-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8181.php, Datum des Zugriffs 05.12.2023.
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