Rainer Göckler: Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement
Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Wirth, 11.11.2009
Rainer Göckler: Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement. Betreuung und Vermittlung in der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) Case-Management in der Praxis. Walhalla Fachverlag (Berlin) 2009. 3., neu bearb. Auflage. 248 Seiten. ISBN 978-3-8029-7485-4. 19,90 EUR.
Thema
Die Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt – besser bekannt unter dem Titel Hartz I bis Hartz IV – haben die sozial und arbeitsmarktpolitische Praxis in Deutschland nachhaltig verändert. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) wurde zu einem „Unternehmen“, dessen „Geschäft“ es ist, die Aktivierung Arbeitsloser und Hilfebedürftiger voranzutreiben. Die Beziehungen zwischen dem Leistungsträger Bundesagentur und den Leistungserbringern aus dem Feld der Beschäftigungsförderung wurden vermarktlicht, indem eine regional zentralisierte Auftragsvergabe installiert wurde, die wiederum einen (Unterbietungs-) Wettbewerb zwischen den Trägern der Arbeitsförderung auslöste. Neue arbeitsmarktpolitische Instrumente sorgen dafür, dass die Verfügbarkeit und die Arbeitsbereitschaft der Klienten/innen schneller und billiger getestet werden kann. Insgesamt transformieren diese und weitere Veränderungen im Feld der Arbeitsförderung (z.B. die implizite Vorgabe von Sanktionsquoten mittels Benchmarking-Prozessen zwischen Argen und/oder optierenden Kommunen) die Praxis der Arbeits und Beschäftigungsförderung.
Die Veränderungen im Feld der Arbeitsförderung haben von vielen Seiten berechtigte Kritik ausgelöst. Begriffe wie Armutsregime, Arbeitslosenverfolgung und andere verweisen auf zentrale Kritikpunkte, insbesondere an der Umsetzung im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Politische Initiativen müssten sich deshalb weiterhin für eine armutsfeste Grundsicherung einsetzen, die eine Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Leben in einer Gesellschaft ermöglicht. Diese Kritik hilft in der konkreten Praxis in der Grundsicherung aber nur wenig weiter, weil auch schon heute unter den Bedingungen von Hartz IV Klienten/innen beraten und in Arbeit integriert werden müssen. Was also tun?
Rainer Göckler hat nun ein Buch, das mittlerweile in der dritten Auflage erscheint, genau zu der Frage ‚Was also tun?‘ veröffentlicht. Die dritte Auflage signalisiert, dass es jenseits der wissenschaftlichen und politischen Diskussion um Hartz IV einen Bedarf an Input gibt. Das Buch von Rainer Göckler zum beschäftigungsorientierten Fallmanagement wendet sich zwar auch an Studierende und Lehrende, die zum Thema ‚Case Management‘ etwas beitragen oder lernen wollen, vornehmlich aber wohl an die Praktiker/innen, die in der Grundsicherung für Arbeitsuchende, bei freien Beratungsstellen oder bei Beschäftigungs- und Qualifizierungsträgern nach Orientierung bei der Lösung konkreter Fragen suchen. Damit wendet er sich ein Stück weit vom vorherrschenden Diskurs in der Sozialen Arbeit und in der kritischen Sozialwissenschaft ab. Er stellt sich aber der Herausforderung, Praktiker/innen zu unterstützen. Dies ist ein „mutiges Unterfangen“, denn man darf vermuten, dass er sich damit weder in der Bundesagentur für Arbeit noch im Wissenschaftsbetrieb allzu viele Freunde/innen machen wird.
Autor und Entstehungszusammenhang
Der Autor ist mittlerweile Professor für Integrationsmanagement an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA), mit der die Bundesagentur für Arbeit versucht, geeignete Fachkräfte für die Arbeit in Arbeitsagenturen und Argen zu gewinnen und zu entwickeln. Er hat zum Thema „Beratung in Sanktionskontexten“ kürzlich seine Dissertation vorgelegt (vgl. Göckler 2009). Er studierte Sozialwissenschaften, erwarb Praxiswissen in kommunalen Strukturen, bei freien Trägern und in der Bundesagentur für Arbeit in verschiedenen Funktionen. Dort war er – unterstützt von Mitarbeitern/innen aus Kommunen, von Wohlfahrtsverbänden, anderen BA-Mitarbeitern/innen und Wissenschaftlern/innen – unter anderem für die Entwicklung des Fachkonzepts ‚Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement‘ zuständig. Des Weiteren bringt er langjährige Lehrerfahrung an der Vorgängerinstitution der HdBA, der FH Bund, Fachbereich Arbeitsverwaltung, ein. Er ist zertifizierter Case Management-Ausbilder (DGCC) und neben der Lehre in der Ausbildung von Fallmanagern/innen für Kommunen, Bundesagentur für Arbeit und freien Trägern tätig. Insofern ist aufgrund seiner gegenwärtigen Verankerung eine gewisse Nähe zu den Positionen der Bundesagentur für Arbeit zu erwarten.
Aufbau
Der Aufbau des Buches überzeugt weitgehend. Nach einer kurzen Einführung in das Fallmanagement in der Beschäftigungsförderung führt Rainer Göckler ausgehend von den Kontextbedingungen des Arbeitsmarktes und der Armut in Deutschland detailliert in das Konzept des beschäftigungsorientierten Fallmanagements ein. In den Kapiteln 5 bis 9 werden die einzelnen Schritte detailliert beschrieben, mit Checklisten versehen und abschließend wissenschafts und forschungstheoretisch eingeordnet (Kapitel 10). Lediglich das letzte Kapitel und zehnte Kapitel dürfte an den Interessenlagen vieler Leser/innen vorbeigehen, da – wie der Autor nicht müde wird zu betonen – sein Buch ein „survival kit“ für Praktiker/innen sein soll.
Inhalt
Case Management, dies belegt die wissenschaftliche Literatur mittlerweile, ist als grundlegendes Verfahren in einer zunehmend heterogeneren Landschaft unterschiedlichster Unterstützungsstrukturen kaum mehr wegzudenken, auch wenn es in der Wissenschaft und insbesondere in der Sozialen Arbeit ungebrochen kontrovers diskutiert wird (vgl. z.B. Funk, 2009). In seiner Grundstruktur ist es dazu auserkoren, Menschen, die aufgrund ihrer wie auch immer gearteten persönlichen Situation einen erhöhten Koordinierungsaufwand bei der Suche und Organisation von sozialer, medizinischer oder pflegebezogener Unterstützung haben, einen Weg zu diesen Strukturen zu ebnen. Inwieweit es sein Versprechen einlösen kann, zwischen sozialer Unterstützung („guarding the patients“) und Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung („guarding the dollars“: Ewers/Schaeffer 2000, S. 20) zu vermitteln, muss zumindest in der Beschäftigungsförderung zum jetzigen Zeitpunkt noch offen bleiben. Dass es das Potenzial dazu hat, zeigt sich beispielsweise in der Studie von ifes (2004, S. 272), die Case Management zur Erhaltung von Beschäftigungsverhältnissen behinderter Menschen als „ein sinnvolles und effektives präventives Vorgehen“ bewertet.
Die ersten Kapitel greifen grundlegende Zusammenhänge auf, die den Einsatz des beschäftigungsorientierten Fallmanagements in der Grundsicherung rahmen. Aspekte der Entstehung und Entwicklung von Case Management-Ansätzen, die treibenden Kräfte zur Entwicklung der Grundsicherung, Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit, Armut und Arbeitsmarkt und die Erwartungen an ein beschäftigungsorientiertes Fallmanagement werden aufgezeigt. Dabei zeigt der Autor, dass er sich – trotz seiner Verbundenheit mit der Bundesagentur für Arbeit – nicht damit begnügt, unkritisch Konzepte der BA zu übernehmen. Begünstigende und hemmende Faktoren bei der Einführung von Fallmanagement (S. 14) werden ebenso wie strukturelle und unaufhebbare Strukturdilemmata (S. 21ff.) aufgezeigt. Dennoch sieht der Autor Chancen für eine erfolgreiche und Klienten/innen orientierte Fallmanagementpraxis und er sieht durchaus gute Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung (Kapitel 3, Schluss S. 219). Dabei wird in der Erwartungsthese 3 (S. 31) bereits klar, dass es bei dem Personenkreis im Fallmanagement mehrheitlich um Menschen geht, dem oftmals eine (dauerhafte) Rückkehr in den Ersten Arbeitsmarkt verwehrt bleiben wird. Man kann dieses Argument sogar noch verstärken, wenn man berücksichtigt, dass mittlerweile erste Versuche der Eingliederung in Arbeit in GmbH‘s, die an Werkstätten für behinderte Menschen angegliedert sind, erfolgen. Es handelt sich dabei um das implizite Eingeständnis der Politik, dass nicht für jeden eine Arbeit vorhanden ist und noch so scharfe Zumutbarkeitsregelungen für einen bestimmten Personenkreis auch keine Arbeitsplätze schaffen. Arbeit in Übergangsmärkten oder die dauerhafte Beschäftigung im Zweiten Arbeitsmarkt oder dem „Dritten Sektor“ zählen für Rainer Göckler zu den Handlungsoptionen des beschäftigungsorientierten Fallmanagements.
In den folgenden Kapiteln wird entlang der Prozessstruktur des Case Managements das idealtypische Handeln der Akteure beschrieben, nicht jedoch ohne direkten Rückbezug zur Praxis. So werden für jeden Prozessschritt Qualitätsmerkmale skizziert und in Checklisten aufgenommen, an denen sich Praktiker/innen und Leitung orientieren können. Insbesondere die Problematik eines beratungsbezogenen Unterstützungsansatzes im Kontext von Kontrolle und Sanktion wird aufgearbeitet und dabei durchaus die gängige Praxis kritisch reflektiert (S. 65ff.). Ähnlich kritisch setzt sich der Autor mit dem Umgang mit der Eingliederungsvereinbarung auseinander, die nach Überzeugung des Autors in ihrer motivationalen Wirkung bei den meisten Mitarbeitern „nicht sachgerecht verankert“ ist (S. 101). Wie in den Prozessschritten vorher und nachher, versucht er auch hier direkt Praxishilfen zu geben, in dem er aus seinen Weiterbildungserfahrungen kleinere Übungen und Umsetzungsideen einstreut und in Empfehlungen einmünden lässt (S. 102).
In der Fall- und Leistungssteuerung differenziert der Autor zwischen Leistungen, die das Fallmanagement in eigener Zuständigkeit und Verantwortung erbringen muss (rechtlicher Auftrag der Grundsicherungsträger) und Leistungen, die durch Dritte bereitgestellt werden (müssen). Dabei führt er insbesondere für die im Vermittlungsbereich häufig unerfahrenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Grundsicherung in die vermittlungsbezogenen Grundstrategien der Arbeit ein. Hier verdeutlicht er auch, warum es sich um ein beschäftigungsorientiertes Fallmanagement handelt, das sich von generellen sozialarbeiterischen Ansätzen des Case Managements unterscheidet. Im Kontext der Beschäftigungsintegration steuert das Fallmanagement oftmals die eigenen Leistungen, was einen großen Unterschied zu einem rein steuernden Verständnis von Case Management ausmacht. Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Arbeitsmarktforschung (S. 135) werden ebenso einbezogen wie eine differenzierte Bewertung atypischer Beschäftigungsverhältnisse (S. 138 ff.), die mittlerweile angesichts der Verriegelungen interner Arbeitsmärkte für Langzeitarbeitslose im Vermittlungsalltag der Grundsicherung wohl nicht mehr wegzudenken sind.
In der Leistungssteuerung mit Dritten werden die grundlegenden Netzwerkpartner eines Fallmanagements in der Grundsicherung erfasst (S. 152ff.) und an einigen Beispielen vertieft illustriert (Schulden, Sucht, Gesundheit). Die alternativen Beschäftigungsformen, die zum jetzigen Zeitpunkt gesetzlich zugelassen und gefördert werden (Arbeitsgelegenheiten, Beschäftigungszuschuss, Kommunal-Kombi), werden vorgestellt.
Lediglich beim Controlling, bei der Frage, wie bewerten wir die Arbeit des beschäftigungsorientierten Fallmanagements, bleibt der Autor eher unspezifisch. Zwar werden in der Anlage (S. 220) Ergebnisse der Praktiker/innen publiziert, wie sie selbst ihre Arbeit bewertet sehen wollen, der Autor bleibt aber mit seinen allgemeinen Orientierungspunkten (Integrationserfolge, Beschäftigungsfähigkeit, Vermittlungsgrenzen und Reduzierung der Leistungshöhe – S. 206ff.) eher abstrakt. Es wäre so einfach, wenn alle seine einfache Erfolgslogik teilen würden: „Erfolg im beschäftigungsorientierten Fallmanagement ist, wenn Sanktionen vermieden und Bewegung hin zum Ersten Arbeitsmarkt erreicht wurde“ (S. 206). Hier, wie in der wissenschaftlichen Einordnung, hätte ich mir mehr Mut gewünscht, denn in der gegenwärtigen Diskussion um weitere Sozialreformen oder Sozialabbau sind Bücher, die im Alltag Orientierung geben, eher selten. Zwar setzt sich der Autor zuweilen recht kritisch mit den Praktiken in den Argen und optierenden Kommunen auseinander, die Einschätzung, dass die Rahmenbedingungen für ein Case Management mittlerweile günstig sind, konnte sich bei mir in Schulungen von Fallmanagern/innen nicht einstellen. Ob die Nutzung von Übergangsarbeitsmärkten wie Leiharbeit, die oft gleichbedeutend ist mit prekärer, nicht existenzsichernder und perspektivloser Arbeit, müsste noch genauer diskutiert werden. Geht es den Grundsicherungsträgern nicht einfach nur um das „Verschwinden aus der Statistik“ der Grundsicherung, wenn sie sie in diese Arbeitsverhältnisse integrieren (um nicht abschieben zu sagen)? Und ob die Eingliederungsvereinbarung wirklich positiv motivational gedacht und praktiziert werden kann, ist angesichts ihrer Rolle für das Sanktionsgeschehen eher kritisch zu sehen.
Fazit
Ein Buch, das sich auf anspruchsvolle Art und Weise vor allem an Praktiker/innen im beschäftigungsorientierten Fallmanagement wendet, ihnen Anregungen für eine bessere Praxis gibt und wissenschaftlich Interessierten einen Überblick über die Diskussion in Deutschland gibt. Dabei lotet Rainer Göckler Spielräume im SGB II aus ohne jedoch in Fundamentalkritik abzugleiten. Wäre ich neuer Mitarbeiter bei Grundsicherungsträgern und müsste von heute auf morgen in die Arbeit einsteigen, wüsste ich kein Werk, das mir schneller und nachhaltiger die notwendige Orientierung in diesem gesellschaftlichen Spannungsfeld vermittelt. Insofern ist es auch ein survival kit für von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft weitgehend aufgeriebene und abgeschriebene „Überlebenskünstler“ in den Organisationen der Grundsicherung und ihren Partnern vor Ort.
Dass eine Einführung nicht alle Anforderungen, gerade der Wissenschaft, erfüllen kann, liegt in der Natur der Sache. Wer den Blick für eine gedeihliche Entwicklung schärfen will und die Zusammenarbeit zwischen Administration und Sozialer Arbeit zum Wohle der Adressaten/innen, der findet hier einen reichhaltigen Fundus vor. Eine Sorge aber bleibt, die auch Göckler nicht gänzlich ausräumen kann: Bekommt Fallmanagement die Chance, die es verdient hat, und sind die es tragenden Organisationen und der Bundesgesetzgeber bereit, dies auch zum Anlass einer weitgehenden Reorganisation der Grundsicherungsstrukturen zu nutzen, die erfolgreiches Fallmanagement benötigt (vgl. S. 217f.).
Literatur
Ewers, Michael; Schaeffer, Doris (Hrsg.) (2000): Case Management in Theorie und Praxis. Hans Huber Verlag, Bern u.a.
Funk, Tobias (2009): Theorie oder Praxis? Typen der Case Management-Kritik. In: Case Management, 6 (1), S. 8-14
Göckler, Rainer (2009): Beratung in Sanktionskontexten. Tübingen.
Ifes (Institut für empirische Soziologie Nürnberg) (2004):Case Management zur Erhaltung von Beschäftigungsverhältnissen behinderter Menschen. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung einer Modellinitiative der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation. Nürnberg
Rezension von
Prof. Dr. Carsten Wirth
Hochschule für angewandte Wissenschaften - Fachhochschule Kempten
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Zitiervorschlag
Carsten Wirth. Rezension vom 11.11.2009 zu:
Rainer Göckler: Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement. Betreuung und Vermittlung in der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) Case-Management in der Praxis. Walhalla Fachverlag
(Berlin) 2009. 3., neu bearb. Auflage.
ISBN 978-3-8029-7485-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8182.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
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