Barbara Dieris: Sprechen und Schweigen
Rezensiert von Dipl.-Ing., Dipl.-Pflegew. Jens-Martin Roser, 18.11.2009

Barbara Dieris: Sprechen und Schweigen - Aushandlungsstrategien des ´Sich Kümmerns´ um alte Familienmitglieder.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2009.
190 Seiten.
ISBN 978-3-8300-4497-0.
68,00 EUR.
Reihe: Studien zur Familienforschung - 24.
Thema
Das Altern unserer Gesellschaft ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt, und die Frage nach seinen sozialen Auswirkungen beschäftigt Wissenschaft, Politik und Medien in zunehmendem Maße. Besondere Aufmerksamkeit genießt und verdient der steigende Anteil der alten Menschen, die zur allgemeinen Lebensführung auf die Hilfe von anderen Personen angewiesen sind. Spätestens seit der Einführung der Pflegeversicherung gilt es als politisch und gesellschaftlich ausgemacht, dass die Systeme der Sozialversicherungen und der staatlichen Fürsorge nicht ausreichen, um den bestehenden und kommenden Bedarf an Hilfeleistungen zu decken. Die Fürsorge innerhalb der Familien wird seit dieser Zeit verstärkt propagiert, gefördert und z. T. auch vorausgesetzt. In diesem Zusammenhang versuchen unterschiedliche Bereiche der Sozial- und Humanwissenschaften zu ergründen, wie Fürsorge in der Familie funktioniert, um den politischen und sozialen Akteuren Anhaltspunkte zur Entwicklung von Angeboten zur Unterstützung der familialen Systeme zur Verfügung zu stellen. Das vorliegende Buch stellt das Ergebnis einer sozialwissenschaftlichen Studie vor, die der Fragestellung nachgegangen ist, wie innerhalb von Familien Hilfeleistungen für alte Familienmitgliedern ausgehandelt werden.
Autorin
Dr. Barbara Dieris ist Diplom-Psychologin und hat bereits mehrere Artikel zum Thema „Kümmern um alte Familienmitglieder“ und zur qualitativen Sozialforschung veröffentlicht.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist die Veröffentlichung der Dissertation von Barbara Dieris. Thematisch schließt sie damit an ihre (unveröffentlichte) Diplomarbeit (2006) in welcher sie sich Wandel der Eltern-Kind-Beziehung im Alter befasst.
Aufbau
In der Gliederung des Werkes weicht die Autorin nach ihren eigenen Angaben bewusst von den Konventionen bei der Veröffentlichung von Forschungsberichten ab [was aber auch bei anderen Berichten über qualitativ angelegte Studien häufig vorkommt. JR].
Den Mittelpunkt des Buches bildet Kapitel 4, in welchem sie das im Rahmen ihrer Studie entwickelte Modell über Aushandlungsstrategien des ‚sich Kümmerns‘ um alte Familienmitglieder vorstellt.
In den Kapiteln 1 (Einleitung), 2 (Die Analyse nichtfiktionaler und fiktionaler Aushandlungsnarrationen) und 3 (Zugrundegelegte Daten) beschreibt sie auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln sie zur Formulierung dieses Modells gekommen ist.
In Kapitel 5 (Fazit) reflektiert die Autorin das von ihr vorgestellte Modell hinsichtlich der Berechtigung ihrer Vorgehensweise und seiner Verallgemeinerbarkeit. Außerdem geht sie inhaltlich auf seine Bedeutung zur Bewertung von Aushandlungsprozessen ein und zeigt weitere Forschungsperspektiven auf.
Die 22-seitige Literaturliste ist als 6. Kapitel angelegt und der Anhang mit Kodier-/ Memobeispielen, verwendeten Transkriptionsregeln und Beispielen für Interviewleitfäden als 7. Kapitel.
Inhalt
In der Einleitung klärt die
Autorin den Leser/die Leserin über das Anliegen ihrer Arbeit
auf. Sie berichtet über zwei Arten der Zielsetzung, nämlich
über eine inhaltliche Zielsetzung und eine methodische
Zielsetzung ihrer Studie. Außerdem erklärt sie die
methodische und stilistische Voraussetzungen ihres Buches
(„Anmerkungen zum vorliegenden Text).
Die
inhaltliche Zielsetzung besteht im Wesentlichen darin, kommunikative
Handlungen, welche die „Kümmeraushandlung“ bestimmen
„auszuleuchten“ und „aus dem wissenschaftlichen
‚Dunkeln‘ herauszuholen“. Sie geht dabei davon aus,
dass diese Handlungen, z. T. aufgrund der von den einzelnen
Handelnden angenommenen Selbstverständlichkeit-,
wissenschaftlich noch nicht ausreichend beschrieben worden sind.
Die methodische Zielsetzung besteht darin, die Einbeziehung von
literarisch-fiktionalen Texten in eine
sozialwissenschaftlich-psychologische Untersuchung theoretisch und
methodologisch zu fundieren und ein praktisches Anwendungsbeispiel
für diese Einbeziehung zu schaffen.
Ihre methodologischen Überlegungen
und Bedingungen ihrer Studie stellt die Autorin grundlegend im 2.
Kapitel dar unter der Überschrift: Die Analyse
nichtfiktionaler und fiktionaler Aushandlungsnarrationen. Nach
einer kurzen Einordnung ihrer Arbeit in den Zusammenhang der
Qualitativen Sozialforschung widmet sie zwei größere
Abschnitte des zweiten Kapitels der Erläuterung ihrer
Entscheidung, fiktionale Texte als Datengrundlage in ihre
Untersuchung einzubeziehen.
Im Abschnitt 2.2 (Fiktionale
Narrationen in der Qualitativen Sozialforschung) wird ihr Anliegen
sehr deutlich, dem Leser die Plausibilität dieser Entscheidung
nahe zu bringen und sie hinsichtlich ihrer Zielsetzung zu begründen.
Nachvollziehbar und gestützt auf einschlägige Literatur
stellt sie dar, dass in verschiedenen Bereichen literarische Texte
als „Präsentationen“ menschlichen Erlebens
bedeutende Gesichtspunkte erfassen können, die in
Interviewtexten, - ebenfalls Präsentationen -, nicht erkennbar
sind. Durch Überspitzung, Selektion und Fokussierung können,
- so die Autorin sinngemäß -, können Empfindungen
und Sinngebungen in literarischen Texten hervorgehoben werden, die in
Interviews nicht angesprochen werden, z.B. weil Sie dem Interviewer
und dem Interviewten als selbstverständlich erscheinen.
Im Abschnitt 2.3 (Exkurs: Grenzgänge zwischen Literatur-
und Sozialwissenschaft) weist die Autorin ihrer Arbeit einen Platz in
der in der Landschaft der Sozial- und Geisteswissenschaften zu, indem
sie sie der ‚literary gerontology‘ zuordnet (2.3.3
Selbstverortung). Dies tut sie nachdem sie das Verhältnis von
Geistes- und Sozialwissenschaften bei interdisziplinären
Arbeiten beleuchtet (2.3.1 Spektrum) und den Forschungsansatz der
Literary Gerontology (2.3.2 Literary Gerontology) vorgestellt hat.
In Abschnitt 2.4. (Perspektiventriangulation) erklärt
die Autorin zunächst grundsätzlich das Prinzip der
Perspektiventriangulation (2.4.2) in der qualitativen Sozialforschung
um dann dessen Anwendung in ihrer Arbeit zu benennen (2.3.2.
Triangulierte Datenquellen). Perspektiventriangulation findet nach
ihren Angaben nicht nur durch die Berücksichtigung
unterschiedlicher Textsorten, sondern auch durch die Auswertung
unterschiedlicher Interviews oder auch unterschiedlicher Textstellen
innerhalb der Interviews statt.
Der Leser erhält im
Abschnitt 2.5 (Analyse narrativer Daten: Grounded Theory) eine kurze
Einführung in die Grundlagen der Forschungsmethode Grounded
Theory und erfährt, dass die Autorin diesen Ansatz
„konstruktivistisch orientiert“ angewandt (im Gegensatz
zu einer „objektivistisch orientierten“ Anwendung) und um
eine „selbstreflektive“ Komponente erweitert hat.
Mit Bezug auf die Nachvollziehbarkeit
ihrer Arbeit begründet die Autorin ihre ausführliche
Darstellung der Zugrundegelegten Daten in Kapitel 3, -
nicht ohne darauf einzugehen, dass durch die von ihr getroffene
Auswahl der Daten die Gültigkeit des auf dieser Basis
entwickelten Models begrenzt ist.
Der Beschreibung der
unterschiedlichen Arten der Daten widmet sie Abschnitt 3.1.
(Subjektive Erfahrungsberichte), Abschnitt 3.2. (Literarische Daten)
und Abschnitt 3.3 (wissenschaftliche Literatur). Sie berichtet, dass
der Großteil der Subjektiven Erfahrungsberichte mit Hilfe von
Interviews festgehalten wurde und dass sie außerdem ihre
eigene „familiäre Kümmergeschichte“ und andere
Erfahrungen zum Thema zu Papier gebracht hat und diese Texte in die
Analyse einbezogen hat.
Merkmale der befragten Personen
beschreibt sie in den Abschnitten 3.1.1. (Sich kümmernde Töchter
und Söhne) und 3.1.2 (Umkümmerte Mutter). Bei der
Darstellung der Merkmale der 16 Töchter und Söhne nimmt sie
eine Tabelle zu Hilfe, in der Pseudonym, Alter Beruf, Familiäres
Personal und Kümmersituation des Interviewpartners vermerkt
sind. In Abschnitt 3.1.3 (Selbstreflektive Memos) ist zu erfahren,
dass und in welcher Weise Erfahrungen der Autorin mit der
„Kümmergeschichte“ ihrer Großeltern Eingang in
die Daten der Untersuchung gefunden haben.
In Abschnitt
3.2 präsentiert die Autorin in Tabellenform eine Liste der
literarischen Texte, die sie in die Untersuchung einbezogen hat, mit
Angabe von Autor/in, Titel, Ersterscheinung, Land und Genre. Zuvor
geht sie ausführlich auf Auswahl, Kodierung und Sampling der
Textstellen ein. Anschließend charakterisiert sie ihre
Textsammlung flüchtig im Überblick.
In
Abschnitt 3.3. (wissenschaftliche Literatur) macht die Autorin
deutlich, dass sie ihrem Forschungsansatz entsprechend die
wissenschaftliche Literatur als Teil ihrer Daten und nicht als
„Theorieteil“ versteht. Sie geht auf die verwendete
Literatur ein anhand einer übersichtsartigen Darstellung von
Befunden, gegliedert in die Themenbereiche Familie, Generation,
Pflege (3.3.1), Wer kümmert sich? (3.3.2), Familiäre
Kümmeraktionen (3.3.3). Abschließend fasst sie diese
Darstellung noch einmal zusammen in Abschnitt 3.3.4
(Zusammengefasster Forschungsstand)
Nachdem die Autorin die methodischen
Voraussetzungen des von ihr entwickelten Modells geklärt hat,
stellt sie es dann in Kapitel 4 vor. Es beschreibt und
erklärt Aushandlungsstrategien des ‚Sich Kümmerns‘
um alte Familienmitglieder. Dieses Kapitel ist gegliedert in 5
Abschnitte.
Zunächst gibt sie dabei einen Überblick
über das Modell in Abschnitt 4.1. (Kümmeraushandlung:
Begriff und Modellüberblick), an dessen Ende die Hauptbegriffe
des Modells im Verhältnis zueinander anhand einer Grafik
dargestellt werden.
In Abschnitt 4.2 geht die
Autorin auf die von ihr gefundene „Kernkategorie: Sprechen und
Schweigen“ ein, deren Ausprägungen sie in Unterkategorien
erfasst hat und beschreibt. Diese Unterkategorien sind für sie
„Klartext reden“ (4.2.1), „Beschweigendes Reden“
(4.2.2), „Beredtes Schweigen“ (4.2.3) und „Sprechendes
Handeln“ (4.2.4). Besonders ausführlich fallen dabei ihre
Erläuterungen und Belege zur Kategorie „Beschweigendes
Reden“ aus. Sie beschreibt dabei drei unterschiedliche Arten
(„Teilstrategien) des „Beschweigenden Redens“ und
stellt außerdem fest, dass es beim „Beschweigenden Reden“
um das „Eigentliche“ geht, das nicht angesprochen werden
soll, sondern „beschwiegen“ wird. Dazu bemerkt sie, dass
die unterschiedlichen beteiligten Personen unterschiedliche
Vorstellungen davon haben können, was denn nun das „Eigentliche“
sei.
Im Abschnitt 4.3. werden „Weitere
Modellkomponenten“ vorgestellt, welche Voraussetzungen,
Bedingungen und Konsequenzen für den Einsatz der in den
vorhergehenden Abschnitten beschriebenen Strategien von Bedeutung
sind. Es wird beschrieben, dass im Prozess der Aushandlung
„Aushandlungs-Protagonisten“ (4.3.1) identifiziert werden
können, welche unterschiedliche „Rede- und
Schweigepositionen“ einnehmen und unterschiedliche
„Kümmerkonzepte“ voraussetzen. Die
Aushandlungsprotagonisten müssen nicht zwingend die Personen
sein, die sich letztendlich aktiv um die bedürftige Person
kümmern. Eine andere Weitere Modellkomponente bildet der Begriff
„Kümmerrelevante Ereignisse und Phasen“ (4.3.2).
Dabei geht es darum, dass neben den Dispositionen der
Aushandlungsprotagonisten auch aktuelle Ereignisse und die aktuelle
Kümmerphase den Einsatz von Aushandlungsstrategien beeinflussen.
Die Autorin benennt drei „Inhaltsbereiche“ für
solche Ereignisse: „Krankheit“ von Kümmerbedürftigen
oder sich Kümmernden, „Beziehungsereignisse“ und
„Allgemeine Soziale Lebensereignisse“. Bei den Phasen,
welche den Aushandlungsprozess mitbestimmen, unterscheidet die
Autorin zwischen „kein Kümmerbedarf“, „Grenzbereich“
und „voller Kümmerbedarf“. Am Ende des Abschnitts
4.3.2 identifiziert die Autoren den „Sonderfall Demenz“
und geht kurz darauf ein, welche Störungen für den
Aushandlungsprozess mit dieser Krankheit einhergehen können.
Beschreibungen für die Konsequenzen des Aushandlungsprozesses,
das Kümmerarrangement, fasst das Modell in dem Begriff
„(Vorläufige) Kümmerrealitäten“. Im
Abschnitt 4.3.3 wird unter dieser Überschrift darauf
eingegangen, dass es unterschiedliche „personelle“
Zusammensetzungen der Gruppe von Menschen geben kann, die sich aktiv
um den Bedürftigen kümmern. Außerdem wird
angesprochen, dass sich Kümmern in unterschiedlichen „Settings“
stattfindet und dass „Beziehungen“ innerhalb des
Kümmersystems unterschiedlich ausgeprägt sein können.
Als weitere Dimensionen innerhalb der Kategorie Kümmerrealitäten
werden die „Stabilität“ des Arrangements
angesprochen, die Einschätzung, inwieweit das Arrangement von
den Betroffenen als „gewählt“ wahrgenommen wird und
inwieweit die Kümmerrealitäten mit den individuellen
Kümmerkonzepten übereinstimmt.
In Abschnitt 4.4 (Narrative
Perspektiven) neigt sich die Autorin von der inhaltlichen Perspektive
der vorhergehenden Abschnitte des 4. Kapitels allmählich wieder
mehr der methodischen Sichtweise zu. Im Abschnitt 4.4.1 (Diskurse)
geht sie darauf ein, dass die Ergebnisse der Studie nicht ohne ihren
Zusammenhang im Rahmen unterschiedlicher übergreifender Diskurse
gesehen werden können. In Abschnitt 4.4.2 (Grundstrukturen)
stellt sie dar, wie formale Gesichtspunkte der von ihr untersuchten
Interviews und literarischen Texte in möglicherweise mit den
Inhalten zusammenhängen. Sie berichtet dabei, dass sich die
Texte hinsichtlich „Grundmuster, „Darstellungstenor“,
„Vermittlungsziel“ „Perspektivenpluralität“
und „Ästhetisierung“ unterscheiden lassen. Auf
jeden dieser Aspekte geht sie detailliert ein. Im Abschnitt 4.4.3
(Forscherinnenfokus) wird unterschieden zwischen der „Forscherin
als Rezipientin“ und der „Forscherin als Autorin. Mit
einer „Zusammenfassende[n] Modelldarstellung“ schließt
sie das 4. Kapitel ab.
Die Autorin nimmt in ihrem Fazit im
5. Kapitel Stellung zur „Herangehensweise“ (5.1) und
zur „Kümmeraushandlungsmodellierung“ (5.2)
Einen etwas größeren Raum nehmen im Abschnitt zur
Herangehensweise (5.1) die Ausführungen zur „Triangulation
literarisch-fiktionaler Narrationen“ (5.1.1) ein. Die Autorin
meint abschließend, mit ihrer Arbeit gezeigt zu haben, dass
literarische Daten „gewinnbringend“ in qualitativ
sozialwissenschaftliche Forschung einbezogen werden können.
Dem schließt sich eine kurze Stellungnahme zu den
„Eingenommenen Perspektiven“ (5.1.2) an.
Den
Abschnitt 5.2. zur „Kümmeraushandlungs-Modellierung“
gliedert die Autorin in 4 Unterabschnitte, um darzustellen, welchen
Nutzen das Modell nach ihrer Ansicht haben kann. anzufangen ist. In
Abschnitt 5.2.1 (Konzeptuelle Begrifflichkeiten) äußert
sie die Meinung, dass das Modell neues Vokabular für die
Wahrnehmung und Beschreibbarkeit des Aushandlungsprozesses zur
Verfügung stellt und erläutert diesen Standpunkt. Der
Unterabschnitt 5.2.2 (Was zeichnet ‚gelungene‘
Aushandlungsprozesse aus?) öffnet mit Hilfe des Modells eine
Sicht auf das Zustandekommen von Hilfsarrangements, die nach Ansicht
der Autorin bisherige Ansätze der Bewertung relativiert. In
Abschnitt 5.2.3 (Forschungsperspektive: Familie und Altern) vertritt
die Autorin den Standpunkt, dass ihr Modell es ermöglicht,
gegenüber der bisher üblichen Betrachtungsweise der
„dyadischen Kümmerbeziehung“ eine stärker
„familiensystemische“ Perspektive einzubringen. Aufgrund
der von ihr verwendeten Methoden der Datenauswahl begrenzt die
Autorin den Geltungsbereich ihres Modells im Abschnitt 5.2.4
(Geltungsbereich des Modells) auf den „Gegenstandsbereich der
familialen Kümmeraushandlung im Alter“ in Abgrenzung zu
einer „allgemeinen, (familialen) Kommunikationstheorie“.
Außerdem geht sie darauf ein, dass aufgrund der Begrenzung der
ausgewählten Gruppen, das Modell auch innerhalb des gewählten
Gegenstandsbereiches nur einen begrenzten Maße als allgemein
gültig bezeichnet werden kann
Diskussion
Die Autorin erklärt das Anliegen des Buches sehr gut und sorgfältig. Dies und die konsequente und logische Gliederung helfen dem Leser, der Autorin im weiteren Verlauf Schritt für Schritt zu folgen. Möglicherweise ist dafür allerdings auch ein Interesse des Lesers an Methoden sozialwissenschaftlicher Forschung eine notwendige Voraussetzung.
Die Datengrundlage und das ihr wissenschaftliches Vorgehen begründet die Autorin nachvollziehbar. Ihr ganz besonderes Anliegen, zu klären, dass in der qualitativen Sozialforschung literarische Texte einbezogen werden können, verfolgt sie sehr engagiert und fundiert auf den Grundlegungen der qualitativen Sozialforschung. Auch in der Sprache ist sie überzeugend, und manchmal entsteht beim Lesen sogar der Eindruck, dass die Autorin im Laufe ihrer Arbeit mit literarischen Quellen von einer regelrechten Freude am Spiel mit der Sprache erfasst worden ist.
Bei der Lektüre des Abschnitts über die einbezogenen wissenschaftlichen Daten (3.3) fällt auf, dass gegenstandsrelevante Befunde aus der pflegewissenschaftlichen Forschung und Literatur von der Autorin offensichtlich übersehen worden sind. So geht sie zwar darauf ein, dass, dass der Schwerpunkt der Forschungsbemühungen vor allem auf „dyadischen Pflegebeziehungen“ liege und dass das „Familiensystem“ oder das „Pflegesystem“ „weitaus seltener Beachtung“ finde und „Verständnis von Pflege an den Kriterien von ‚Pflegebedürftigkeit‘ nach den Richtlinien der Pflegeversicherung orientiert“ sei. Ein Blick ins Literaturverzeichnis zeigt aber, dass pflegewissenschaftliche Literatur zum Thema ‚Pflege in der Familie‘ kaum berücksichtigt worden ist.
Das im 4. Kapitel vorgestellte Modell des Sprechens und Schweigens ist klar und nachvollziehbar konzipiert. Die Erläuterungen der Kernkategorie und der Strategien des Sprechens und Schweigens eröffnen tatsächlich eine neue Sicht auf Aushandlungen von Hilfe von alten Familienmitgliedern, und können helfen, das Handeln von Beteiligten zu verstehen und einzuordnen. Allerdings wird das Modell an manchen entscheidenden Stellen sprachlich sehr sperrig. So ist es ist schwer vorstellbar, dass der Begriff „Kümmeraushandlung“ einmal praxisnah zur Anwendung kommen wird, zum Beispiel bei der Schulung und Fortbildung von professionellen Helfern.
Der Bewertung ihrer Arbeit, welche die Autorin im 5. Kapitel vorträgt, ist größtenteils zustimmen. Vor allem die Potenziale der Einbeziehung literarischer Daten in sozialwissenschaftlicher Forschung hat sie überzeugend herausgearbeitet. Außerdem hat sie tatsächlich ein Vokabular geschaffen für den Gegenstandsbereich und damit für eine Erweiterung von Perspektiven gesorgt.
Fazit
Das Buch zeigt einerseits, wie literarische Texte in ein Forschungsprojekt zur Ergründung einer sozialwissenschaftliche Frage einbezogen werden können und beschreibt andererseits modellhaft, wie Familien aushandeln, wer sich wann auf welche Weise um die alten Angehörigen einer Familie kümmert.
Das Werk ist geradezu ein Lehrbeispiel von qualitativer Forschung nach dem Ansatz der Grounded Theory, vor allem weil die Forscherin immer wieder ihr Vorgehen reflektiert. Deshalb ist die Lektüre des ganzen Buches vor allem Lesern zu empfehlen, die sich für Methoden der qualitativen Sozialforschung interessieren, also Studierenden, Lehrenden und Forschenden.
Praktiker aus den Bereichen der Altenhilfe und Familienberatung, die in erster Linie das Zustandekommen von Pflegearrangements in Familien verstehen möchten, sollten sich vor allem auf das 4. Kapitel konzentrieren, in dem das Modell des Sprechens und Schweigens vorgestellt wird. Möglicherweise finden sie dort Anstöße und Ansätze für ihre Arbeit, denn mit dem Blick des „Sprechens und Schweigens“ öffnen sich neue Wege der Wahrnehmung.
Rezension von
Dipl.-Ing., Dipl.-Pflegew. Jens-Martin Roser
MScN
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