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Frieder Dünkel u.a. (Hrsg.): Humanisierung des Strafvollzugs

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 30.11.2009

Cover Frieder Dünkel u.a. (Hrsg.): Humanisierung des Strafvollzugs ISBN 978-3-936999-59-4

Frieder Dünkel u.a. (Hrsg.): Humanisierung des Strafvollzugs. Konzepte und Praxismodelle. Forum Verlag Godesberg GmbH (Mönchengladbach) 2008. 245 Seiten. ISBN 978-3-936999-59-4. 29,00 EUR.
Reihe: Schriften zum Strafvollzug, Jugendstrafrecht und zur Kriminologie - Band 33.

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Thema

„Ziel der im vorliegenden Band dokumentierten Tagung vom 23. und 24. 11. 2007 in Hameln war es, Aspekte der aktuellen Lage des Strafvollzugs aufzuzeigen, die jenseits der im Allgemeinen skandalorientierten und damit zwangsläufig negativen Medienberichterstattung als gute Praxismodelle angesehen werden und damit als Anregung für positive Schlagzeilen dienen könnten. (…) Die zur Ermittlung guter Praxismodelle im Mai 2007 bei den Leitern der Strafvollzugsabteilungen der Landesjustizministerien durchgeführten Umfrage diente zugleich dazu herauszufinden, was die Verantwortlichen der Justizverwaltungen dem Etikett ‚Humanisierung des Strafvollzugs‘ zuordnen würden“ (S. 2 f). Da einige Bundesländer nicht teilnahmen, andere mit ihren Modellen als zu wenig innovativ keine Berücksichtigung fanden, blieben am Ende Projekte aus Baden-Württemberg, Berlin, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Thüringen.

Herausgeber

  • Dr. Frieder Dünkel ist Professor und Lehrstuhlinhaber für Kriminologie an der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald.
  • Dr. Kirstin Drenkhahn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kriminologie an der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald.
  • Dr. Christine Morgenstern ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kriminologie an der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald.

Aufbau und Inhalt

Im ersten Artikel setzt einer der Herausgeber, Prof. Dr. Dünkel, mit dem Thema „Konzepte der Humanisierung in den Bundesländern – Ergebnisse einer Umfrage“ den Anfangspunkt. Er beschreibt den Weg, den die Untersuchung gegangen ist. Es werden Probleme bei der Untersuchung, Kriterien der Auswahl der Modelle diskutiert und schließlich die ausgewählten Praxisbeispiele kurz charakterisiert

Es folgen in Kapitel 2 Strafvollzug und Verfassungsrecht“ von Prof. Dr. Müller-Dietz. Er beleuchtet aus verfassungsjuristischer Sicht das Gebot der Resozialisierung. Er stellt die verfassungsrechtlichen Maßstäbe des Grundgesetzes („Achtung und Schutz der Menschenwürde“) in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen und betont, dass der Straftäter „nicht zum bloßen Objekt des Staates“ oder der Verbrechensbekämpfung gemacht werden darf. Was aber der Würde des Menschen entspricht, sei keine zeitlose Einsicht, sondern könne nur auf dem jeweiligen Stand der Erkenntnis beruhen. Müller-Dietz führt dann die „Europäischen Strafvollzugsgrundsätze“ von 2006 aus, ein Thema, das in aller Ausführlichkeit von Christine Morgenstern noch einmal erläutert wird.

Gegenstand von Kapitel 3 von Dr. Christine Morgenstern sind „Internationale Instrumente und Entwicklungen zur Humanisierung des Strafvollzugs“. Sie stützt ihre Betrachtungen zu Gefangenenrechten auf europäische Strafvollzugsgrundsätze (2006), erläutert diese in ihrem Aufbau und an einzelnen ausgewählten Beispielen (z. B. Vorschriften zur Unterbringung und zu privaten Kontakten des Gefangenen). Zur Frage der Implementation des Menschenrechtsinstrumentes führt die Autorin die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Arbeit des Anti-Folter-Komitees an.

Das vierte Kapitel versammelt Praxismodelle aus Baden-Württemberg (berufliche Ausbildung und soziale Integration junger Strafgefangener in der JVA Adelsheim), Berlin (Ausbau des offenen Vollzugs: das Selbststellermodell und Wohngruppenvollzug für Untersuchungsgefangene der JVA Moabit), Bremen (das KompetenzCentrum zur Umsetzung eines Übergangsmanagements für Ex-Gefangene und Übergangsmanagement vom Strafvollzug zur Nachbetreuung), Hessen (die Abteilung für alte Gefangene in der JVA Schwalmstadt, das Mutter-Kind-Heim in der JVA Frankfurt und das Modellprojekt Arbeitsmarktintegration für jugendliche Strafentlassene), Mecklenburg-Vorpommern (das Konzept der Integralen Straffälligenarbeit InStar), Niedersachsen (Naikan im Strafvollzug – Veränderung durch Selbsterkenntnis und Selbstverantwortung), Nordrhein-Westfalen (Langzeitbesuche im nordrhein-westfälischen Strafvollzug), Rheinland-Pfalz (Resozialisierung durch internationale und interkulturelle Begegnung), Schleswig-Holstein (Verbundprojekte im Strafvollzug) und Thüringen (Berufsbildung und Re-Integration Strafgefangener und Strafentlassener).

Das Kapitel 5 beschäftigt sich mit Projekten der Internationalen Stiftung zur Förderung von Kultur und Zivilisation. Referiert werden ein Stiftungsprojekt „Musik hinter Gittern“ sowie zwei Beiträge – wohl als Referenz für den Sponsor und Mitveranstalter der Tagung – zur Internationalen Stiftung zur Förderung von Kultur und Zivilisation: „Die Theodor und Friederike Fliedner-Medaille und ihre Folgen – Versuch einer Evaluation“ und „Die Fliedner-Medaille als Beispiel einer wirkungsvollen Ermutigung“.

Es folgen drei abschließende Kapitel, von denen zwei (Mareke Aden sowie die Herausgeber) direkt auf die Tagung bezogen sind, während ein Beitrag eher allgemeiner Natur ist und nicht direkt in das Gesamtthema eingebunden zu sein scheint. In Letzteremgeht es um „Strafvollzug und Medien“ (Burkhard Plemper). Er beleuchtet in essayistischer Form das Verhältnis der Medien zur Kriminalität, aber auch zur Kriminologie. Das ebenso bemerkenswerte wie erschreckende Fazit: „Die sogenannte Kernkompetenz der Medien liegt nun einmal darin, die Erwartungen des Publikums zu erfüllen, die sich eher in dem erschöpfen, was ohnehin jeder über Kriminalität zu wissen glaubt, als in einer nüchternen Analyse im Lichte kriminologischer Erkenntnisse.“ (S. 217) Mit anderen Worten: Der Nutzer will in erster Linie unterhalten und nicht aufgeklärt werden, also unterhalten ihn die Medien mit gruseligen Geschichten aus dem Reich der „bösen Buben“.

Die Staatsanwältin Mareke Aden befasst sich in dem Artikel „Wie kann der Strafvollzug ein öffentliches Thema werden?“ mit der Frage, warum „sich der Lichtkegel der Medien“ so selten auf positive Aspekte der Resozialisierung richtet und stattdessen allein auf spektakuläre Fälle wie Kindesentführung oder Sexualmorde. Die Autorin ist für diese Fragestellung in doppelter Weise kompetent: Als Staatsanwältin und ausgebildete Journalistin kennt sie wie wenige in der Justiz beide „Welten“. Die Inhalte, an denen sie ihr Thema beleuchtet, sind die Beiträge der Tagung, die in dem hier zu besprechenden Band abgedruckt sind. Diese untersucht sie auf Medientauglichkeit.

Der letzte Artikel stammt von den Herausgebern Prof. Dr. Frieder Dünkel, Dr. Kirstin Drenkhahn undDr. Christine Morgenstern und ist überschrieben mit „Praxismodelle und Humanisierung – eine Nachbetrachtung“. Die Autoren versuchen, „Kriterien für good practice“ aufzuzeigen. Sie sprechen dann von Rückfallvermeidung als „best practice“ und betonen, dass die dargestellten Beispiele „allenfalls als vielversprechende Praxis“ zu begreifen sind, weil eine als notwendig erachtete flächendeckende Versorgungsstruktur mit als wirksam evaluierten Behandlungsmaßnahmen nach wie vor fehlt. Der Beitrag argumentiert im Weiteren juristisch und normativ und kommt zu dem Schluss, dass eine aversive Strafvollstreckungspraxis kontraproduktiv zum Resozialisierungsziel ist. Abschließend werden die in Kapitel 4 beschriebenen Projekte auf ihre Stärken hin untersucht, dieses allerdings nur sehr kursorisch.

Zielgruppen

Dieses Werk dürfte sich an diejenigen wenden, die sich mit den Bedingungen des Strafvollzugs im 21. Jahrhundert in Deutschland auseinandersetzen wollen und insbesondere an den Modell-„Inseln“ interessiert sind, die aus Sicht der Justizministerien für geeignet gehalten werden, zur „Humanisierung“ des Strafvollzugs beizutragen. Die einleitenden Kapitel sind aus juristischer Sicht verfasst und als Grundlagen auch für akademische Diskussionen sicher sehr interessant.

Diskussion

Das Buch bietet ein breites Angebot an verschiedenen Modellen und Themenfeldern um den Strafvollzug. Bis auf die beiden juristischen Eingangskapitel von Müller-Dietz und Morgenstern handelt es sich beim vorliegenden Sammelband um eine Bestandsaufnahme von Projekten aus der Praxis des Strafvollzuges, genauso bunt und vielfältig wie die Praxis selbst. Fast noch interessanter als die dargestellten Praxisbeispiele ist das, was im ersten Kapitel zwischen den Zeilen steht: Viele Bundesländer haben keine innovativen Projekte oder wollen sie nicht zeigen, oder das, was sie als „Innovation“ darstellen, ist alles andere als innovativ. Das klingt auch aus dem zumindest in seinem Analyseteil sehr interessanten Beitrag der Staatsanwältin und Journalistin Aden durch: In die Medien kommt man eben nur, wenn man etwas zu bieten hat. Durch die „Brille“ der Medien gesehen offenbart der Tagungsband, was auch fachlich festzustellen ist: Es gibt nicht viel Neues im Strafvollzug, und das, was als „Innovation“ verkauft wird, ist eigentlich so innovativ nicht, als dass es wirklich erwähnenswert wäre. Vielmehr sind viele der Grundideen der Projekte schon an vielen Stellen veröffentlicht oder dem kundigen Betrachter bekannt (Wohngruppenvollzug, berufliche Integration von Jugendlichen, Übergangsmanagement, Mutter-Kind-Haus), sodass man sich allenfalls noch fragen könnte, wo die wissenschaftlichen Evaluationen zu den Projekten zu finden sind. Es geht mir wie Frau Aden: Zwei Projekte sind wirklich innovativ, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Der Beitrag aus Niedersachsen mit einer japanischen Meditationstechnik (Naikan im Strafvollzug) provoziert gleichzeitig Fragen (z. B. nach der wissenschaftlichen Fundierung) und Anerkennung (z. B. für den Mut, Naikan ausgerechnet in einer JVA zu probieren). Das für mich spannendste Projekt unter dem Aspekt „Humanisierung des Strafvollzugs“ ist ohne Frage eines aus Rheinland-Pfalz. Unter dem Titel „Fünf Kontinente, fünf Sinne, eine Weltmeisterschaft“ wird ein wirklich innovatives Projekt beschrieben, das die Fußballweltmeisterschaft zum Anlass nahm, Straffällige auf vielfältigste Weise „sinnlich“ teilhaben zu lassen: über Kunst, Literatur, Musik, Film und natürlich Sport – und dies multikulturell, multimethodisch, multiethnisch. Man ahnt, wie viel Freude es den Veranstaltern und Strafgefangenen gemacht hat und wie viel Arbeit, aber auch wie viel innovatives Potenzial dahinter steckt (z. B. die grandiose Idee, Jürgen Klopp einzubinden). Was insbesondere fasziniert, ist die Tatsache, dass Lernen selbst unter den Rahmenbedingungen einer JVA Spaß machen kann: Menschen wird spielerisch Zugang zu Kulturgütern ermöglicht, was im wahrsten Sinne des Wortes „human“ ist. Die JVA nimmt die Bedürfnisse der Insassen ernst, ohne ihre pädagogischen Ansprüche zu verraten. Wenn das Projekt nicht nur ein einmaliger „Event“ geblieben ist, sondern seine Ansätze nachgearbeitet und weiterverfolgt werden, verdient es das Projekt, weiter beobachtet zu werden.

Ein „Highlight“ ist der Artikel der ehemaligen Journalistin und heutigen Staatsanwältin Mareke Aden nicht nur, weil – wie gesagt – ihre Bewertung des Innovationspotenzials der vorgestellten Modelle in Kapitel 4 besser nachvollziehbar ist als das Fazit der Herausgeber, die zugegebenermaßen natürlich alle Modelle gut finden müssen. Interessant ist ihr Beitrag vor allem deshalb, weil er die Tagungsinhalte kritisch auf ihre Öffentlichkeitswirksamkeit hin beleuchtet und so aus medienpolitischer Perspektive eine Analyse der Tagungsinhalte beisteuert. Das ernüchternde Ergebnis: Von den Modellen in Kapitel 4 seien gerade einmal zwei überhaupt geeignet, in die öffentliche Darstellung zu gelangen; das liege einerseits an den Eigengesetzlichkeiten der Medien und andererseits an den dargestellten Inhalten. Um die Vermittelbarkeit der Vorträge in Kapitel 1 bis 3 zur Öffentlichkeit hin ist es keineswegs besser bestellt, im Gegenteil: „Fragen rund um den Strafvollzug, wie sie während der Tagung in den ersten Vorträgen behandelt wurden, sind aber erst recht zu umfassend und zu schwer verständlich, als dass sie den Sprung aus dem wissenschaftlichen Diskurs in die öffentliche Diskussion schaffen könnten.“ (S. 222) Man könnte das Fazit unter solchen Auspizien auch anders zusammenfassen: Von den Tagungsinhalten, die ja nach dem erklärten Willen der Veranstalter „als Anregung für positive Schlagzeilen dienen“ sollten, ist nur ein kleiner Bruchteil medientauglich. Hier hat eine Autorin der Tagung einen Spiegel vorgehalten, in den aber offenkundig niemand schauen wollte.

Fazit

Das Buch ist, wenn man nicht auf allzu innovative Modelle aus dem Kreis der Justiz selbst hofft, durchaus lesenswert. Insbesondere könnte das Buch für all diejenigen interessant sein, die sich einen Eindruck über Möglichkeiten und Grenzen von Innovation im Strafvollzug in Deutschland verschaffen wollen (bisweilen mehr zwischen den Zeilen als in ihnen). Leser finden Anregungen zum Weiterlesen und Weiterfragen, was denn „Humanisierung“ im Strafvollzug in der Praxis tatsächlich bedeuten könnte. Weniger dürften (sozial-) wissenschaftlich Interessierte zu ihrem Recht kommen, da sich kaum verwertbare empirische Beiträge finden.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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Es gibt 56 Rezensionen von Wolfgang Klug.

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ISSN 2190-9245