Wolfgang Bonß, Christoph Lau (Hrsg.): Macht und Herrschaft in der reflexiven Moderne
Rezensiert von Dr. Thorsten Benkel, 04.11.2011

Wolfgang Bonß, Christoph Lau (Hrsg.): Macht und Herrschaft in der reflexiven Moderne. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2009. 300 Seiten. ISBN 978-3-938808-75-7. 29,90 EUR. CH: 49,90 sFr.
Thema
Der Themenkreis Macht und Herrschaft wird in der Soziologie seit Beginn der akademischen Etablierung der Disziplin kontrovers diskutiert. Er kann sowohl als Ausdruck faktischer Ungleichheitskonstellationen wie auch als wertneutraler Oberbegriff für spezifische soziale Mechanismen analysiert werden; er kann hinsichtlich konkreter Auswirkungen auf einzelne Akteure beleuchtet werden oder wird in seiner „Makro-Relevanz“ für Staaten oder Gesellschaften fokussiert. Der vorliegende Sammelband nimmt sich des durch die Theorie „reflexiver Modernisierung“ angestoßenen Wandels des soziologischen Herrschaftsverständnisses an und will aufzeigen, in welchem Verhältnis der Machtbegriff zum Begriff der Moderne steht.
Herausgeber
Wolfgang Bonß ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität der Bundeswehr in München; Christoph Lau ist Professor für Soziologie an der Universität Augsburg.
Entstehungshintergrund
Der Band vereint Beiträge, die im Kontext des von 1999 bis 2009 von der DFG geförderten, interdisziplinären Sonderforschungsbereiches „Reflexive Modernisierung“ entstanden sind. Die Herausgeber sind stellvertretende Sprecher dieses Sonderforschungsbereiches.
Aufbau
Auf eine Einleitung der Herausgeber folgen drei Themenblöcke:
- Theoretische Perspektiven,
- Subjektivierung,
- Institutionen,
die jeweils vier thematisch zugehörige Einzelbeiträge aufweisen.
Inhalt
Wenn Herrschaft ihren Skandalcharakter verliert, ist sie rationalisiert worden – und wird dadurch beinahe unsichtbar. Das ist der Ausgangspunkt des heterogenen Rundumschlags, der mit dem vorliegenden Buch geliefert wird. Theoriehintergrund ist die „reflexive Modernisierung“, die von Autoren wie Anthony Giddens und insbesondere Ulrich Beck entfaltet worden ist. Demnach löst eine „Zweite Moderne“ die erste ab. Statt des klassisch-modernen Entscheidungsdilemmas „entweder-oder“ gilt in Zeiten des Reflexivwerdens der Moderne eher das „sowohl-als-auch“ (9, 20). Die Merkmale der „ersten Moderne“ – Abgrenzungen und Eindeutigkeiten – machen „soziale[n] Räumen der Unbestimmtheit“ Platz, was sich eben auch in einer „Verflüssigung von Herrschaft“ niederschlägt (12 ff.). Rollenkonflikte werden von Rollenambivalenzen abgelöst, Netzwerke ersetzen die Nationalstaatsmacht und ein „reflexiv-modernes Grenzziehungs-Management“ tritt in Kraft (21 ff.). Für Herrschaftsverhältnisse bedeutet dies, dass sie mithin nur mehr immanent präsent sind (etwa in Netzwerken, im Kosmopolitismus, im Empire-Kontext; 28). Dieser Vielfalt wollen die Beiträge Rechnung tragen, jedoch ohne eine “'geschlossene Theorie' von Macht und Herrschaft“ anzustreben (30).
Die durch Eindeutigkeiten vereinfachte „Zuschreibung von Zuständigkeiten und Verantwortung“ (47) der ersten Moderne wurde von einer direkten hierarchischen Kontrolle angeleitet und mitbestimmt, die unter den Bedingungen der Zweiten Moderne durch indirekte Steuerung ersetzt wird (58). Ein Effekt dieses Bruchs mit „bestimmten Imperativen der Modernisierung“ ist die „Selbstoptimierung“ des Individuums; es kann sich nicht mehr auf Auffangstationen verlassen, die Sicherheiten gewährleisten, sondern wird zur „radikalisierten Individualisierung“ getrieben (61). Das „unternehmerische Subjekt“ ist somit die gegenwärtige Symbolfigur von Machtverhältnissen (91): War Autonomie immer schon nur als Machtkonstruktion greifbar (53), so muss das Subjekt sich angesichts der grassierenden Neuverknüpfungen gesellschaftlich in Eigeninitiative positionieren; es muss „sich selbst verkaufen“, muss Konkurrenz ausstechen, muss sich bewähren und durchsetzen, um Subjekt zu sein bzw. sei zu dürfen. Die Popularität von Medienformaten, in denen es um den Kampf vor Jury und Coaches um das beste Ranking, den optimalen Weg zum Sieg, um Verbesserung und Verschönerung des Ichs geht, sind Begleiterscheinung dieses gesellschaftlichen Trends (93).
Eine „Soziologie des Epochenbruchs“ (122), die dies alles in Augenschein nimmt, findet auch im Wandels des Nationalstaates ein spannendes Untersuchungsgebiet, Gemäß Becks Container-Theorie können Staaten längst nicht mehr so agieren, als wären sie von allen anderen unabhängig (135, 306). Grenzen werden buchstäblich neu abgesteckt (wobei die Herrschaft über Grenzen auch zugleich die Grenzen der Herrschaft markieren, 228) und die Trennung von Innen und Außen weicht „kosmopolitische[n] Handlungsräume[n]“ (314). Auch die „Kontinuität moderne[r] Basisinstitutionen“ steht auf dem Spiel, denn seit solcher Globalerschütterungen wie „9/11“ sind zuvor gültige Befunde uneindeutig geworden. Wer kann beispielsweise noch bestimmen, um welchen Rechtsbegriff es bei transnationalen Herausforderungen an den (welchen?) Rechtsstaat geht (143)? Wer definiert überhaupt Recht „außerhalb staatlich-demokratische[r] Autorität“ (292)?
Dass der Wandel nicht ein Wandel im System, sondern ein Wandel des Systems ist (190), offenbaren ferner der Durchbruch von „Pluralität und Heterogenität“ im unternehmerischen Kontext (durch neue Zeitarrangements und dezentrale Organisation und Steuerung; 219 ff., 245) und neue (De-)Regulierungsansätze etwa im Zusammenhang mit der Medikamentisierung der Gesellschaft (178). Beide Entwicklungen sind Konsequenzen der zunehmenden Depersonalisierung von Herrschaft (127 f.) und der damit einher gehenden Individualisierungsanstöße, die von den neuen „Machtrelationen“ (152) forciert werden. Nicht zuletzt ist auch die „Macht der Zahlen“ in Form der Statistik zu einem Herrschaftsinstrument geworden, das den Begriff der „Selbstführung“ inkorporiert. Das ist nicht nur angesichts der Vorstellung evident, dass Dinge vermessen und dadurch „repräsentativ“ erfassbar sind (332), sondern auch angesichts der Macht der Quantitäten, wenn es um Bildung (PISA) oder um Gesundheit (Body-Mass-Index) geht (343 ff.). Die Zahlen scheinen zu sagen, „wie es ist“, aber wie es anders sein könnte, muss das Subjekt unter riskanten Bedingungen an sich erproben und durchexerzieren.
Diskussion
Bonß und Lau haben einen Sammelband vorgelegt, der stark dem Werk von (dem auch mit einem Beitrag vertretenen) Ulrich Beck verpflichtet ist, mit dem beide bereits in der Vergangenheit publiziert haben. Der von Beck skizzierte Weg in eine „andere Moderne“ wird vor dem Hintergrund eines Spektrums thematisiert, das Macht- und Herrschaftsbezüge von Weber bis Hardt/Negri aufgreift. Im Ergebnis liegt eine recht heterogene Sammlung vor, über deren Kapitaleinteilung durchaus gestritten werden dürfte. (Ist beispielsweise die betriebliche Arbeitszeitpolitik vom „Formwandel betrieblicher Arbeit“ tatsächlich so weit entfernt, dass der eine Text im Abschnitt „Subjektivitäten“ stehen, der zweite aber zu den „Institutionen“ gerückt werden musste?) Davon, und von der Tatsache abgesehen, dass die Literaturangaben und Nachweise zu Becks Beitrag in einem anderen Buch des Autors nachzuschlagen sind (eine Unikum, das humoristisch auch als Marketingstrategie verstanden werden könnte), ist eine aufschlussreiche Lektüre garantiert. Denn der in aller Munde stehende Individualisierungstrend, garniert mit Rekursen auf Becks Begriff der Risikogesellschaft (die nun mehr eine Weltrisikogesellschaft umfasst), wird hier auf vielschichtige und erhellende Weise auf Macht und Herrschaft bezogen. Dabei zeigt sich, dass der Verlust eindeutiger Zurechnungen zu institutionellen Entgrenzungen geführt und auf diesem Weg neue Abhängigkeiten und Fremdbestimmungen installiert hat, die als solche mithin gar nicht wahrgenommen werden (vgl. 43)
„Selbstführung“, eine in rhetorischer Verkleidung gerne benutzte Vokabel, die zur Kompensation sowohl der Erosion etablierter Werten, wie auch des Rückzugs institutioneller Instanzen aufrufen will, ist bereits ein sprachliches Machtmittel, denn damit werden Verluste zu Chancenaufwertungen verzaubert. Wenn der Staat in der Weltgesellschaft sich noch dazu nur mehr als „präventive[r] Risikovermeidungsstaat“ inszeniert (307), nimmt es nicht Wunder, dass Beck sich in seinem Text dafür ausspricht, mit der Theorie auch gleich einen „konzeptionellen Orientierungsrahmen“ zu geben, der selbst „normative Visionen“ nicht scheut; sogar von Utopien ist die Rede (284). Das sind innerhalb der manchmal zu sehr auf Werturteilsfreiheit versessenen Soziologie-Kreise ungewohnte Töne, die aber in der Sache durchaus berechtigt sind. Diesen Eindruck hätten die Beiträge mit einer etwas stärkeren Orientierung an den „Lebenswelten alltäglicher Menschen“ (285) noch schlagkräftiger untermauern können. Aber auch in der vorliegenden Form, mit deutlicher Orientierung an der Makro-Perspektive, liegt ein lesenswertes Buch vor.
Fazit
Macht und Herrschaft im Blickwinkel der Theorie reflexiver Modernisierung – eine Zusammenstellung, die aktuell ist und soziologisch gut aufgearbeitet wird.
Rezension von
Dr. Thorsten Benkel
Akademischer Oberrat für Soziologie
Universität Passau
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