Peter Sitzer: Jugendliche Gewalttäter
Rezensiert von Prof. Dr. Christiane Burbach, 11.10.2010

Peter Sitzer: Jugendliche Gewalttäter. Eine empirische Studie zum Zusammenhang von Anerkennung, Missachtung und Gewalt.
Juventa Verlag
(Weinheim) 2009.
247 Seiten.
ISBN 978-3-7799-1497-6.
24,00 EUR.
CH: 43,50 sFr.
Reihe: Konflikt- und Gewaltforschung.
Autor und Untersuchungsperspektive
Der Bielefelder Akademische Rat an der erziehungswissenschaftlichen Fakultät Bielefeld und Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, Jahrgang 1974, legt o.g. qualitative Analyse vor, die im Anschluss an die vielfältigen empirischen Studien zu verschiedenen Aspekten der Gewalt männlicher Jugendlicher zu verstehen ist. Sein Erkenntnis leitendes Interesse ist, die subjektiven Sinnzusammenhänge jugendlicher Gewalttäter vor dem Hintergrund des sozialwissenschaftlichen Konzeptes der Anerkennung zu verstehen (Kap.1: Einleitung, 12) Das generelle Ziel ist es, zu einer Integration der Mikro- und Makroperspektiven zur Erklärung von Jugendgewalt zu kommen sowie Einblicke in den situativen Kontext des Gewalthandelns zu erhalten. Dieses Globalziel wird differenziert in einer Typologie jugendlicher Gewalttätigkeit.
Aufbau und Inhalt
Das zweite
Kapitel stellt den aktuellen Forschungsstand zu den Themen
„Jugend und Sozialisation“, „Gewalt“ und
„Jugendgewalt“ dar. Zunächst werden die
widersprüchlichen Erwartungen und Anforderungen an Jugendliche
beschrieben. Trotz erhöhter Entfaltungschancen und erhöhtem
Originalitätsdruck ist festzustellen, dass die meisten
Jugendlichen diese Lebensphase in Zufriedenheit, Optimismus und
Zuversicht meistern. (24) Das Gewaltproblem ist das einer kleinen
Minderheit.
Der Gewaltbegriff wird in verschiedenen Hinsichten
differenziert: in physische, psychische, strukturelle Gewalt und
ritualisierte Gewalt. Jugendliche erleben personale und öffentliche,
private und familiale Gewalt; dazu kommen noch die verschiedenen
Ausformungen schulischer Gewalt.
Hinsichtlich der aktiven
Jugendgewalt, die ansteigend ist, ist u.a. eine Tendenz der
Verschiebung zwischen Dunkel- und Hellfeld zu beachten. Die
Anzeigenbereitschaft wächst, besonders gegenüber fremden
Tätern. Hinsichtlich der passiv erfahrenen Gewalt gehen die
Zahlen besonders bei schwererer Gewaltanwendung von Eltern weit
auseinander. Es sind sehr viel mehr Kinder, die angeben, geschlagen
oder misshandelt zu werden als Eltern dieses konstatieren. Bei
Jugendlichen mit Migrationshintergrund zeigen die Hellfeldstudien
keine signifikanten Unterschiede zu deutschstämmigen
Jugendlichen. In Dunkelfeldstudien wird jedoch eine höhere
Gewaltbelastung männlicher Jugendlicher mit
Migrationshintergrund festgestellt.
Die Bedeutung der Missachtung
individueller Anerkennungsbedürfnisse und -ansprüche für
das Gewalttätigwerden von Jugendlichen ist die Zielperspektive
der Untersuchung.
Das dritte
Kapitel beleuchtet die philosophischen Konzepte Fichtes
und Hegels zur „Anerkennung“. Während Fichte
ein harmonisches Prinzip der wechselseitigen Aufforderung zum
selbstbestimmten Handeln und zur beiderseitigen Einschränkung
der Willkürfreiheit entfaltet, das ein wechselseitiges
Verhältnis der Anerkennung ermöglicht, vertritt Hegel
ein Konfiktmodell, das möglicherweise eine Asymmetrie zwischen
Individual- und Staatsinteressen vorsieht.
Schließlich
werden drei Dimensionen reziproker Anerkennung nach Axel Honneth
differenziert, die den bei Hegel schon angelegten Kampf um
Anerkennung spezifizieren. Es gilt zu unterscheiden zwischen drei
verschiedenen Anerkennungsweisen, -formen und praktischen
Selbstbeziehungen. Die emotionale Anerkennungsweise gewinnt ihre Form
in (frühkindlichen) Primärbeziehungen, gründet im
Sicherheitsgefühl und produziert (kindliches) Selbstvertrauen.
Kognitive Achtung wird in Rechtsverhältnissen gestaltet und
erzeugt im gelungenen Fall Selbstachtung. Soziale Wertschätzung
ereignet sich im Raum der Wertegemeinschaft und setzt im günstigen
Fall Selbstschätzung frei. Alle drei Anerkennungsweisen sind für
das Selbstkonzept des Subjektes von hoher Bedeutung. dieses
Selbstkonzept kann im Falle der Missachtung durch Misshandlung,
Entrechtung oder Entwürdigung beschädigt werden. Menschen
mit beschädigtem Selbstkonzept suchen sich u.U. Gleichgesinnte
oder Gleichbeschädigte, um den Kampf um Erweiterung ihrer
Rechte, Eigenschaften und Fähigkeiten anzutreten.
Die
Kontexte von Anerkennungs- und Missachtungserfahrung sind auf drei
Ebenen angesiedelt: der Mikroebene: Eltern, Geschwister, Freunde etc,
der Mesoebene: Schule Peergroup etc. und der Makroebene: in
kulturellen, gesellschaftlichen, sozialen, politischen Norm- und
Wertestrukturen. Diese Kontexte haben zur Einordnung der folgenden
Untersuchungsergebnisse eine strukturierende Bedeutung.
In Kapitel vier werden Design und Methode der Untersuchung dargestellt. Es handelt sich um eine Untersuchung, die sich an der Methode der Grounded Theory orientiert. (68ff) Das Datenmaterial besteht aus zwei Leitfadeninterviews mit den Schwerpunktthemen Freizeitaktivitäten und Missachtungserfahrungen, dazwischen liegt ein quantitativer Kurzfragebogen zu Erfassung der Lebenslagen und der demographischen Daten. Befragt wurden die Teilnehmer nach Alter, Staatsbürgerschaft, Religionszugehörigkeit, Schulabschluss und Berufsausbildung/ -tätigkeit, Familienstand, Wohnsituation, Lebensbereich, Berufsstatus der Eltern, Schichtzugehörigkeit und Einkommen. Das gesamte Forschungsprojekt erstreckte sich über einen Zeitraum von 4 Jahren.
Im 5.Kapitel werden schließlich die drei typischen Handlungsorientierungen der gewalttätigen Jugendlichen erläutert. Besonderes Gewicht wird hier nicht auf die „Um-zu-Motive“ der Tat gelegt, sondern der „Weil-Motive“.
- Die defensiv motivierten Gewalthandlungen geschehen vor allem im Kontext von Gewaltattacken, Ehrabschneidungen und räuberischer Erpressung und dienen der Verteidigung der Respektwürdigkeit, sollen einen Angriff stoppen oder weiteren Angriffen entgegenwirken. Sie sind Reaktionen auf erlittene oder angekündigte Gewalt, dienen der Verteidigung von Freunden, der (Familien-)Ehre. Dieser Typus wird als Ergebnis eines mehrstufigen Eskalationsprozesses erzählt. In dieser Orientierung geht es den Tätern um Respekt und Achtung.
- Offensiv-sozial motivierte Gewalthandlungen kommen im Zusammenhang mit Rang- und Zweikämpfen vor und dienen dem Ziel, den sozialen Status zu erhöhen. Sie werden u.U. provoziert und nach dem Sieg-Niederlage-Modell ausgefochten. Angestrebt wird die superiore Position in einem Art Herr und Knecht Verhältnis. Bedeutsam ist jedoch auch, die Tugenden Tapferkeit und Solidarität etwa als Hooligan realisiert zu haben, was jemandem Gruppenrespekt einträgt. Insofern kann es wichtig sein, den Anschein zu erwecken, der Tugend der Fairness zu genügen. Hier geht es um Respekt im Sinne der Anerkennung besonderer Fähigkeiten oder der eigenen Autorität.
- Offensiv-materiell motivierte Gewalthandlungen werden thematisiert im Kontext von Geld-, Sach- und Drogenbeschaffungen. Sie dienen dazu, illegitime Forderungen durchzusetzen und gehen einher mit Machtdemonstrationen. Tugenden spielen keine Rolle. Wichtig ist der eigene Vorteil. Die Identifikation mit aasfressenden Geiern oder im Hinterhalt auflauernden Löwen kann hier vorkommen. Ziel ist der Respekt im Sinne von Gehorsam.
Die anschließende Eingruppierung der Jugendlichen zeigt, dass die offensiv-materiell motivierten Gewalttäter auch Erfahrungen im offensiv-sozialen und defensiv motivierten Bereich haben. Auch die sozial-offensiv motivierten Täter erzählen von defensiv motivierten Taten. Die Zusammenfassungen der Einzelbiographien zeigen, dass alle Täter bereits in ihrer Kindheit oder frühen Jugend Erfahrungen der Provokation und Gewaltkonfrontation gemacht haben, so dass sich der Schluss nahe legt, dass der Einstieg in die Gewaltkarriere durch Gewalterfahrung bedingt ist.
Im 6. Kapitel werden die Handlungshintergründe der jugendlichen Gewalttäter ergründet. Sie werden in o.g. Trias von Axel Honneth eingeordnet. Folgende Kontexte der Missachtung von Anerkennungsbedürfnissen und -ansprüchen zeigen sich auch aufgrund der Tätererzählungen als relevant: Die Familie, in der Schlagen zum normalen Erziehungsrepertoire gehört, die Gleichaltrigengruppe, die sich ehrverletzend äußert, ablehnend verhält oder erniedrigend begegnet, die Schule, in der junge Leute den Aufstieg nicht schaffen. Z.T. verstärken die familialen Defizite die Schulprobleme, so dass die Abwärtsspirale in Gang gesetzt wird. Auch rigides und diskriminierendes Lehrerverhalten kann diesen Mechanismus speisen.
Im 7.
Kapitel werden die Verlaufsmuster jugendlicher
Gewalttätigkeit dargestellt. Hier wird an Hand einer
Einzelstudie und mithilfe des Fallvergleiches herausgestellt, dass
die defensiv orientierten Gewalttäter keine (systematische)
familiale Missachtung ihrer Anerkennungsbedürfnisse und
-ansprüche erfahren haben. Ihre Schulleistungen sind nicht sehr
stark. Den für die Selbstschätzung nötigen Ausgleich
suchen diese Jugendlichen in temporären Surrogaten, um dann
wieder zu den Schulwerten und -normen zurückzukehren.
Gewalthandlungen lehnen sie eigentlich ab und bedienen sich der
Gewalt zur Verteidigung und Vergeltung gegenüber Gleichaltrigen.
Gewalterfahrungen machen diese Jugendlichen im Unterschied zu den
offensiv orientierten erst mit Beginn der Adoleszenz.
Die
offensiv-sozial orientierten Täter gehen in ihrer
Gewaltanwendung über die Ziele der defensiven hinaus, indem sie
sich soziales Ansehen und einen besseren Sozialstatus erwirken
wollen. Sie unterscheiden sich von der erstgenannten Gruppe dadurch,
dass sie verschiedenförmige familiale Nichtachtung bereits im
Kindesalter erlebt haben. Gewalt ist nicht die ultima ratio, sondern
Bestandteil der normalen Lebenswelt. Die Schule erwies sich für
diese Jugendlichen als Kontext, in dem sich die Misserfolge in Form
von Leistungsdefiziten gepaart mit mangelnder Anerkennung
fortsetzten, die eine Abkehr von den Werten und Normen der Schule
bewirkte.
Die offensiv-materiell orientierten Gewalttäter
gehen über das Gewaltrepertoire der zuvor genannten Gruppe
hinaus, indem sie Bereicherung anstreben. Auch sie haben familiäre
Missachtungserfahrungen gemacht, wehrten sich wie die zuvor genannte
Gruppe sehr früh gegenüber Gleichaltrigen. Auch sie
verstehen Gewalt als einen Bestandteil des normalen Lebens. Im
Unterschied zu den offensiv-sozial orientierten Jugendlichen gehören
sie zu den Schulabbrechern ohne Abschluss. Bei ihnen konnte eine noch
stärkere Rückkoppelung von schulischem Misserfolg und
Gewaltgebrauch, der zur Anerkennung und zu materiellem Besitz führte
und die Abwärtsspirale in Gang setzte, festgestellt werden. Im
Unterschied zur offensiv-sozialen Gruppe ist dies ein Täterkreis,
der ausnahmslos Drogen konsumiert, einerseits um die erfahrene
Missachtung besser ertragen zu können und andererseits, um in
einer Schattenwelt die Anerkennung zu erfahren, die ihnen in der
Gesellschaft versagt blieb.
Das 8. Kapitel fasst die Ergebnisse noch einmal zusammen und gibt Hinweise für zukünftige Maßnahmen. Hier wird ein abgestuftes Vorgehen empfohlen: Kinder und Jugendliche müssen vor familialer Missachtungserfahrung effektiver geschützt werden. Um „Frühstarter“ in die offensive Gewalt zu verhindern, wird die Begleitung der Eltern von der Geburt des Kindes an durch pädagogisch geschulte Hebammen gefordert. (230) Weiter wird gefordert, dass junge Männer nicht mehr in der Schule scheitern dürften und gesellschaftlich eine Berufsperspektive eröffnet bekommen sollten. Jugendliche müssten gegen Drogen besser geschützt werden und die familialen Verletzungen wie auch die Drogenprobleme müssten therapeutisch bearbeitet werden.
Fazit
Die Typisierung in verschiedene jugendliche Gewaltformen und die Verlaufsstudie ist aufschlussreich und sollte von allen, die mit Jungen und männlichen Jugendlichen arbeiten zur Kenntnis genommen werden. Die präventiven und begleitenden Maßnahmen sind zu global und evtl. so auch nicht hinreichend. Z.B. müsste sicher über neue erziehungswissenschaftliche Fundierungen des Grund- und Hauptschulunterrichts nachgedacht werden, wie auch über einen stärkeren Einsatz von Schulsozialarbeit oder religionspädagogisch-diakonischem Einsatz in diesen Schulformen. Hier könnte die Humanistische Pädagogik sicher weiterhelfen. Eine weitere Idee wäre, eine Elternschule einzurichten, die bei einschlägigen Beobachtungen zu besuchen wäre.-
Viele Zusammenfassungen, die auf die Dauer bei kooperativen Ganz-Buch-LeserInnen den Eindruck einer recht schwer zu ertragende Redundanz hervorrufen, erschweren die Lektüre. Auch die nicht sehr sorgfältige Lektorierung des Buches, in dem sich falsche Begrifflichkeiten wie z.B. „tendenziös“ statt „tendenziell“ finden, erhöhen nicht die Lesegeschwindigkeit. Das Buch ist in hohem Maße der Methode der Grounded Theory verpflichtet, deren Machart sich auf die Darstellung der Untersuchung abbildet und dankenswerterweise den Schicksalen der Jugendlichen, die es allerdings verdienen, dass Menschen sich ihnen zuwenden.
Rezension von
Prof. Dr. Christiane Burbach
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