Irene Götz, Barbara Lemberger (Hrsg.): Prekär arbeiten, prekär leben
Rezensiert von Prof. Dr. Michael Buestrich, 08.12.2009
Irene Götz, Barbara Lemberger (Hrsg.): Prekär arbeiten, prekär leben. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf ein gesellschaftliches Phänomen.
Campus Verlag
(Frankfurt) 2009.
290 Seiten.
ISBN 978-3-593-38872-4.
D: 32,90 EUR,
A: 33,90 EUR,
CH: 56,00 sFr.
Reihe: Arbeit und Alltag.
Thema
„Prekäre Arbeitsverhältnisse machen es vielen Menschen unmöglich, von nur einem Job zu leben oder gar langfristig zu planen. Die Autorinnen und Autoren untersuchen die unterschiedlichen Perspektiven in der öffentlichen Diskussion über diese Thematik und analysieren in Fallstudien, was unsichere Arbeits- und Lebensbedingungen für die Betroffenen bedeuten und wie diese ihre Situation gestalten.“ (Klappentext)
Herausgeberinnen
Irene Götz ist Professorin am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der LMU München. Barbara Lemberger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der LMU München.
Entstehungshintergrund
Mit wachsender Geschwindigkeit breiteten sich in den letzten Jahren Verhältnisse aus, die im „sozialstaatlichen“ Kapitalismus längst als überwunden galten. Prekäre Arbeitsverhältnisse, häufig angesiedelt in einem politisch gewollten und entsprechend protegierten Niedriglohnsektor ersetzen die vergleichsweise auskömmliche Beschäftigung in sogenannten „Normalarbeitsverhältnissen“. Ein Indiz besteht darin, dass die darüber erzielbaren Einkommen voll Erwerbstätiger zunehmend mit Lohnersatzleistungen „aufgestockt“ werden (müssen). Unsicherheit der Arbeits- und Lebensverhältnisse verbunden mit einer schärferen Arbeitsmarktkonkurrenz – gerade in der Krise! – werden damit bis in eine vermeintliche „gesellschaftliche Mitte“ hinein zu einer prägenden Erfahrung.
Seiner etymologischen Bedeutung nach lässt sich „prekär“ mit „widerruflich“, „unsicher“ oder „heikel“ übersetzen. Innerhalb der aktuellen sozialwissenschaftlichen Forschung wird der Begriff genutzt, um die Ausbreitung der angesprochenen unsicheren Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse zu thematisieren. Insbesondere französische Soziologen wie Pierre Bourdieu (Die zwei Gesichter der Arbeit, Konstanz 2000), Serge Paugam (Le salarié de la précarité, Paris 2000) oder Robert Castel (Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000) sehen darin den Kern der sozialen Frage des 21. Jahrhunderts (vgl. dazu auch: https://www.socialnet.de/rezensionen/7979.php und https://www.socialnet.de/rezensionen/8445.php).
Der vorliegende Band geht inhaltlich auf die Beiträge einer interdisziplinären Vortragsreihe über „Prekariat und Prekarisierung“ aus kulturwissenschaftlicher Perspektive am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München im Wintersemester 2007/08 zurück.
Aufbau
In ihren einführenden Überlegungen („Prekär arbeiten, prekär leben“) skizzieren die Herausgeberinnen kurz die verschiedenen Diskussionsstränge der Prekaritätsdebatte: solche, die sich damit beschäftigen, wie Prozesse und Erfahrungen der Prekarisierung in der Wissenschaft, der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, im Rahmen gezielter Unternehmensstrategien oder in den Medien erzeugt und bearbeitet werden und solche, die - in neoliberaler Tradition – eine „neue Selbstständigkeit“ als Wegbereiter weg von einer, wie es heißt, den Aufschwung blockierenden Erwartungshaltung, hin zu einer neuen Global Entrepreneurship-Mentalität propagieren. Schließlich einen weitereren Diskussionsstrang, der Prekarisierung nicht nur als „Ausbeutung der Arbeitskraft“, sondern weiter gefasst als die „Ausbeutung eines diskontinuierlichen, mehr oder weniger zumutbaren Alltags“ begreift: „Hier, bei der Perspektivität und Mehrdimensionalität dieser Problematik, kommt eine Stärke kulturwissenschaftlichen Arbeitens ins Spiel, die exemplarisch in verschiedenen Facetten zu erkunden Ziel dieses Bandes ist. Sie vermag die Innenseite des Geschehens zu erhellen und in Einzelfallstudien die Akteursperspektiven auszuloten. Aus diesen Innensichten heraus erschließt sich das individuelle und je nach Milieu und Werthorizont anders erfahrene und ‚kreativ‘ bearbeitete Verhältnis von Zwang und Chance, das den ungesicherten und kurzfristigen Arbeitsverhältnissen prinzipiell innewohnt.“ (S. 9).
Am Ende ihrer Einleitung wagen die Herausgeberinnen einen Ausblick („Warum das Prekariat schweigt“) und fragen sich in diesem Zusammenhang, warum sich die Betroffenen nicht dahin gehend organisieren, bürgerschaftliche Mitbestimmung und Gestaltungsrechte zu erkämpfen, warum also aus den neuen Arbeitsverhältnissen mit ihren Belastungen kein oder nur punktuell kollektives Widerstandspotenzial wächst?: „Ziel dieses Buches ist es, diese pessimistische Haltung zwar nicht pauschal zu ‚widerlegen‘ und damit prekäre Verhältnisse im Sinne der häufig inszenierten ‚Kreativitätsrhetorik‘ schönzufärben, doch es soll exploriert werden, mit welchen kreativen Haltungen Praxen der Ermächtigung und ‚Neuformatierung‘ subjektivierter und prekarisierter Lebensbedingungen möglich sind und wie dieser Eigen-Sinn nicht vollständig in einem alle Lebensbereiche durchdringenden, Kreativität vernutzenden neuen Kapitalismus auf- und untergeht.“ (S. 25)
Das Buch gliedert sich thematisch in zwei Teile:
- In den fünf Beiträgen des ersten Teils („Positionierung im sozialen Raum: die Bearbeitung von Prekarität und Prekarisierung in Wissenschaft, Politik und Medien“) wird primär der soziale Raum rekonstruiert, der prekäre Situationen institutionell erst schafft.
- Die fünf Beiträge des zweiten Teils („Akteursperspektiven: Kreative Haltungen in und anstatt prekärer Verhältnisse“) dagegen schildern Akteurssichten, Erfahrungen und den „kreativen“ Umgang mit Unsicherheiten.
Inhalt
Manfred Seifert geht in seinem Beitrag „Prekarisierung der Arbeits- und Lebenswelt - Kulturwissenschaftliche Reflexionen zu Karriere und Potenzial eines Interpretationsansatzes“ nach dem er die „Geschichte und Konzeption des Prekaritätsbegriffs“ sowie die „Typologie des Prekariats“, d. h. die Zonen unterschiedlicher Sicherheitsniveaus erläutert hat, näher auf das Verhältnis von Flexibilität und Prekarität ein. Für Seifert bedeutet „[…] Unsicherheit als Faktor des modernen Arbeitslebens […] höchst Verschiedenes. Erstens ist zwischen den beiden Dimensionen der hier organisatorisch-praktisch konfigurierten Arbeitsverhältnisse einerseits und der subjektiven Verarbeitungsprozesse andererseits analytisch zu differenzieren. Und zweitens formieren und imaginieren die unterschiedlichen Realitäten und Empfindungspanoramen je spezifische Unsicherheiten.“ (S. 45), weshalb man es vermeiden solle, „[…] die aktuelle Debatte um Vorgänge der Prekarisierung auf die Diskussionen von Armut und Exklusion zu verkürzen.“ (S. 46). Im Abschnitt „Zur Zeitspezifik der aktuell diagnostizierten Prekarität“ erläutert Seifert die neuen, prekären Arbeitsverhältnisse insbesondere an der Umgestaltung der Arbeitsvollzüge, insofern ehedem disziplinierende und raumzeitlich bindende Faktoren (Arbeitsplatz, Arbeitszeit, klar vorgeschriebene Arbeitsvollzüge, hierarchische Strukturen etc.) nun einer umgreifenden Flexibilisierung und Subjektivierung unterlegen: „Die damit zugleich in Gang gesetzte Internalisierung des Arbeitens jedoch schafft dem Arbeitenden lediglich mehr Freiheit und Selbstbestimmung in Bezug auf eine Leistungserfüllung, die sich nach wie vor in den Bahnen des kapitalistischen Akkumulationsregimes bewegt […] und im Rahmen dieser umfassenden Inanspruchnahme bleiben die ‚fordistischen‘ Tugenden der Disziplinierung, der Ordnung und der rationalisierten Produktionsweise erhalten, wenngleich sie nun innen gewendet ‚mental‘ die Praxis stabilisieren […] Die Effektivitäts- und Disziplinierungsstandards des Fordismus gelten also in Form eines nun zu subjektivierenden Programms weiter.“ (S. 49).
Michael Vester beschäftigt sich in einem längeren Beitrag („Klassengesellschaft in der Krise. Von der integrierten Mitte zu neuen sozialen und politischen Spannungen“) mit den jüngsten Wandlungen der Klassengesellschaft, insbesondere auch vor dem Hintergrund der Finanzkrise. Dazu entwickelt einen Klassenbegriff, der die Klassen nicht nur als Träger ökonomischer Merkmale auffassen, sondern sie auch als Akteure sozialer Praxis begreifen will: „Mitgestaltet von und in den Klassenmilieus werden dabei nicht zuletzt auch die sozialen Arrangements, die die Beziehungen unter den Status der Geschlechter, der Altersgruppen sowie der ethnischen und regionalen Teilgruppen der Gesellschaft regeln. Diese Arrangements sind, als Ergebnisse sozialer Kämpfe, nach Ländern verschieden.“ (S. 61)
Vester erläutert deshalb in der Folge das „historische Sozialmodell der BRD“ mit den beiden für ihn wesentlichen Kennzeichen „Leistungsgerechtigkeit“ und „Statussicherung“. Die Entwicklungskräfte nicht nur in Deutschland zeichnet er dabei widersprüchlich: Sie bewegen sich zwischen „Kompetenzrevolution“ und „ Privilegienschere“. Das Paradox liege darin, dass durch das Wachstum der Produktivität und Sozialprodukts die Gesellschaft als ganze immer reicher wird, während die gesellschaftliche Ordnung zunehmend durch unsichere Lagen auf den mittleren Rängen und Ausgrenzungen auf den unteren Rängen gekennzeichnet sei: „Die Kompetenzrevolution ist ‚ständisch‘ gebremst, Deutschland liegt in den Bildungsstandards und Qualifikationsstufen deutlich unter den internationalen Standards. Aber auch die soziale Polarisierung zwischen oben und unten ist ‚ständisch‘ gebremst, die große Arbeitnehmermitte sinkt nicht in Standards der ausgeschlossenen und ‚Underclass‘ ab, wohl aber in Lagen ständiger Unsicherheit und Überreglementierung ihrer Lebensführung.“ (S. 68). Beide Tendenzen werden von ihm im folgenden auf Basis von ‚Landkarten sozialer Milieus‘ näher ausgeführt.
Vester geht dann der Frage nach, wie sich die jeweils alltagspraktischen Umgangsstrategien der verschiedenen Milieus mit den neuen Anforderungen im Prozess der politischen Bildungsbildung umsetzen? Er konstatiert seit Beginn der 1990er Jahre eine zunehmende Politik- und Parteienverdrossenheit, die dazu geführt habe, dass es Wählerwanderungen von den Volksparteien zu den kleineren Parteien, insbesondere aber in die Gruppe der Nichtwähler gegeben habe. Die gesellschaftspolitischen Lager in der Bevölkerung und die Machtgruppen der Parteiflügel bilden für Vester eine Gesamtkonstellation, die letztlich zwei verschiedene Entwicklungsrichtungen bzw- szenarien möglich machen: „Nach dem ersten Szenario könnte eine Modernisierung des historischen Sozialmodells der BRD eine rechnerische Mehrheit finden, wenn die Politik sich einsichtig zeigte. Nach dem zweiten Szenario könnten sich die sozialen und partizipativen Spaltungen der Gesellschaft vertiefen, wenn die technokratisch autoritären Fraktionen der Parteien, wie dieser Einsicht fern stehen, nicht einlenken.“ (S. 99 f.)
Karin Lehnert will in ihrem Beitrag („Wo ist ‚drinnen‘, wo ist ‚draußen‘? Die Wirkung sozialpolitischer Integrationsinstrumente, widerständige Erwerbslose und wie die Medien diese disqualifizieren“) aufzeigen, wie die staatliche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in Deutschland durch ihre Fixierung auf Maßnahmen zur Integration in den Arbeitsmarkt prekäre Beschäftigungsverhältnisse aktiv fördert und damit gesellschaftliche Ausgrenzung reproduziert. Das Unterlaufen und der Boykott derartiger Maßnahmen durch die betroffenen Erwerbslosen werde öffentlich nicht als legitimer Abwehrkampf gegen diese Disziplinierung Versuch anerkannt. Stattdessen fänden sich zahlreiche mediale Produkte, die entsprechenden Widerstand stattdessen als Beweis für „Sozialmissbrauch“ heranziehen würden. Zu diesem Zweck geht die Autorin der Frage nach, wie die Integrationsprogramme konkret beschaffen sind und welche Folgen sie für die jeweils Betroffenen haben? Weil die Begriffe der „Integration“ und der „Eingliederung“ in den Arbeitsmarkt sich zu dem tragenden Konzept deutscher Sozialpolitik entwickelt hätten, ist es für die Autoren wichtig, die sich theoretisch auf die dahinter stehende sozialwissenschaftliche Exklusionsdebatte zu beziehen.
Neben sozialwissenschaftlichen Integrationsbemühungen thematisiert sie die sozialpolitische Integration insbesondere am Beispiel der neuen Arbeitsmarktpolitik in Deutschland (Eingliederungsvereinbarung, Ein-Euro-Jobs, Leiharbeit, Selbstständigkeit etc.), die sich für sie in den Begriffen einer „Disziplinierung mittels Prekarisierung“, einer mehr oder weniger „erzwungenen Freiwilligkeit“ und damit letztlich einer „Subjektivierung äußere Zwänge“ geltend mache. Die widerständige Praxis von Erwerbslosen stelle diese zugleich „[…] unter einem Generalverdacht und damit ins soziale Abseits. Sie (diese Praxis, MB) bietet eine Angriffsfläche für traditionelle Vorwürfe der Arbeitsunwilligkeit und des ‚Sozialmissbrauchs‘. Konzepte des ‚Forderns und Förderns‘ oder des ‚aktivierenden Sozialstaats‘ bestärken diese Interpretation schon begrifflich, da sie unzureichende Bemühungen von Seiten Erwerbsloser unterstellen.“ (S. 125).
Dabei spielten für diese Diskussion insbesondere die Massenmedien eine herausragende Rolle, wie es Lehnert am Beispiel einer ARD-Reportage („Arbeit, nein danke!“) vom August 2005 aufzeigt. Ihr Inhalt (die Reportage zeigt zahlreiche Beispiele für das individuelle Changieren Erwerbsloser zwischen Akzeptanz und Verweigerung behördlich auferlegter Zwänge) sowie die Art und Weise der Darstellung seien ein Exempel dafür, „[…] wie Institution und Ideologie erwerbsarbeitszentrierter Integrationspolitik zusammenwirken und die Klein- und Kleinstkämpfe von Erwerbslosen mit Hilfe der Medien disqualifizieren.“ (S. 125).
Gerlinde Malli thematisiert den „strafenden Sozialstaat“ und die Methode der „Selbstregulierung“ als neue Herrschaftstechnik am Beispiel der stationären Langzeittherapie in einer Drogenrehabilitationsanstalt („Wegschließen, Ausschließen, Einschließen. Problematisierte Jugendliche und die Rolle des Wohlfahrtssystems: Gouvernementale Perspektiven“). „Selbstregulierung“ funktioniere dabei nicht mehr notwendig über Verbote beziehungsweise Sanktionen von Handlungsoptionen, sondern durch die „[…] Macht, einzelne zu bestimmten Handeln zu bewegen.“ (S. 153).
Gerade im Hinblick auf Jugenddelinquenz greife in Europa einer jener „moral panics“ um sich, die das Erscheinungsbild der von ihr befallenen Gesellschaft und das staatliche Denken veränderten. Dabei gehe es - so die Autorin - letztlich um eine Neubestimmung der Aufgaben des Staates, der seine sozialpolitische Rolle reduziere und zugleich seine Möglichkeiten strafrechtlicher Intervention durch eine Verschärfung der Strafmaßnahmen erweitere. Darin zeige sich nicht nur eine Transformation des Sozialstaates zum ‚Strafstaat‘ (Wacquant), sondern auch eine verstärkte repressive Politik, die vom Sozialstaat selbst ausgeübt werde: Überwachungsmaßnahmen werden in Schutz- und Hilfsprogramme integriert und benachteiligte Bevölkerungsgruppen unterliegen einer zunehmenden Beaufsichtigung: „Verschiebungen und Überlagerungen von sozialen und strafrechtlichen Maßnahmen spiegeln sich in Debatten über eine Wiedereinführung von Strafanstalten für Jugendliche und Kinder, das Herabsetzen des Alters der Strafmündigkeit oder in der Idee, Eltern für die Taten ihrer Kinder in strafrechtliche Verantwortung zu nehmen.“ (S. 156).
Julia Obinger beschäftigt sich in ihrem Beitrag „Working poor in Japan – ‚Atypische‘ Beschäftigungsformen im aktuellen Diskurs“ mit den „arbeitenden Armen“ innerhalb einer Gesellschaft, die von Außenstehenden bisher vielfach als besonders „homogen“ und „klassenlos“ wahrgenommen wurde. In den vergangenen Jahren etablierten sich jedoch verschiedene Theorien, die nachweisen, dass sich auch in der japanischen Gesellschaft ähnliche Desintegrationstendenzen nachweisen lassen. So werde die japanische Gesellschaft inzwischen auch als ‚polarisierende Differenzgesellschaft‘ und als Gesellschaft der ‚ungleichen Zukunftschancen‘ beschrieben, unter deren Auswirkungen vor allem die jüngere Generation zu leiden habe.
Seit Ende der 1990er Jahre erlebt Japan im Zuge der Rezession nach der Asienkrise jedoch eine breitere Auseinandersetzung mit den Themen Armut, wachsende Polarisierung und soziale Ungleichheit, die insbesondere darauf zurückzuführen ist, dass die Zahl der irregulären oder atypischen Beschäftigten, darunter sog. „Freeter“ (ein Kompositum aus dem englischen „free“ und dem deutschen „Arbeiter“), Teilzeitarbeitskräfte oder Leiharbeiter stark zugenommen hat. Nachteilig für alle atypischen Beschäftigten sei dabei generell, dass sie ohne Anspruch auf Leistungen wie bezahlten Urlaub, Boni und Unterstützung bei der Krankenversicherung arbeiten. Ebenso steht ihnen das in japanischen Firmen für fest angestellte übliche, mit Dauer der Firmenzugehörigkeit stetig steigende Vergütungsmodell nicht offen. Daran wird sich nach Auffassung der Autorin auch durch eine zukünftig verbesserte Wirtschaftslage wenig ändern: „Es gibt keine Garantie dafür, dass die oben beschriebenen atypische Beschäftigten einen Übergang in reguläre Arbeitsverhältnisse schaffen können, selbst wenn sich die gesamtwirtschaftliche Situation Japans in Zukunft langfristig weiter verbessern sollte. Es ist wahrscheinlich, dass demographische Veränderungen den Wettbewerb zur Gewinnung qualifizierter Arbeitskräfte unter Arbeitgebern verschärfen, während Geringqualifizierte wohl auch weiterhin benachteiligt sein werden.“ (S. 175).
Zu Beginn des zweiten Buchteils, der nun die Akteursperspektiven thematisiert, schildert Manuela Barth in ihrem Beitrag „Wir nennen es Kreativität“ „Inszenierungen von ‚alter‘ und ‚neuer‘ Arbeit in Werbebildern der Informations- und Kommunikationstechnologie“. Anhand der Herausbildung einer neuen „kreativen Klasse“, die sich durch einen veränderten Arbeits- und Lebensstil auszeichnet, beschreibt sie deren „Gegenentwurf“ zum Festangestelltendasein, der für die „neue Klasse“ für Unflexibilität, Sicherheitsdenken, Konformität und Unmündigkeit stehe. Die „alten“ Festangestellten bilden die Negativfolie zu den „jungen digitalen Bohemiens“, die sich durch kompromisslose Risikofreudigkeit, Kreativität und Freiheit auszeichnen. Ein Typus, der insbesondere in den auf Informationstechnologie basierenden Dienstleistungsbranchen - wie der Werbeindustrie - vorkommt und dort vorzugsweise freiberuflich bzw. selbstständig tätig ist. Die Protagonisten dieser Bewegung (vgl. Friebe/Lobo (2006): Wir nennen es Arbeit, München) propagieren damit ein Zukunftsmodell der Verknüpfung von Arbeit und Leben, das einen individuellen Weg aus dem in die Krise geratenen Industriekapitalismus aufzeigen soll.
Werbung und Werbebilder spielen bei der Durchsetzung dieses neuen Paradigmas eine zentrale Rolle: „Werbebilder sind als populare Formen der visuellen Kommunikation ein fester Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses. In den kalkulierten Bilderwelten der Werbung werden Vorstellungsbilder und Wertvorstellungen (re-)inszeniert […] Damit lassen sich nicht nur auf soziale Wirklichkeiten schließen, sondern haben auch Teil an deren (Re-)Konstruktion.“ (S. 186), was die Autorin exemplarisch an einer Werbekampagne von IBM aus dem Jahre 2006/2007 aufzeigt. Enthierarchisierung, Selbstbestimmung, Eigenverantwortlichkeit und Selbstverwirklichung sollen – so das Ideal – insbesondere durch die Nutzung digitaler Produktionsmittel realisiert werden können. Durch die Gleichsetzung von „Arbeit“ und „Passion“ wird nahe gelegt, dass beides Hingabe verlange und diese zugleich belohne. Berufstätigkeit und Hobby sind dabei gleichrangig, während die Sicherung des Lebensunterhalts keine bestimmende Rolle zu spielen scheint: „Durch den Besitz von Personal Computern scheint auch das Ideal einer hierarchiefreien, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Arbeit in greifbare Nähe gerückt zu sein. Die bislang als Hobby privatisierte Kreativität kann (und soll) in die Erwerbsarbeit eingebracht werden; beides kann somit zur Selbstverwirklichung beitragen.“ (S. 200 f.).
Die Autorin kritisiert dabei, dass an die Stelle der industriellen Maschine, die den „Takt vorgibt“, nun die „freie“ Selbstdisziplinierung trete. „Kreativität“ werde zu einem Synonym für Fremdbestimmung, die sich bestenfalls als freiwillige Unterwerfung unter einen fremden Produktionszwang erfahre. Diese Vorstellung von kreativer Arbeit rechtfertige folglich auch das Senken von Löhnen (denn „bezahlt“ werde mit Selbstverwirklichung) sowie die Ausweitung der Arbeitszeit (denn die Arbeitenden folgen schließlich rund um die Uhr ihrer „Passion“): „Somit hat die gegenseitige Durchdringung von Arbeit und Leben den Effekt, dass Arbeit nirgends und überall ist.“ (S. 202). Durch diese Entkontextualisierung von Arbeit und Arbeitenden wird deren Unabhängigkeit und damit die Voraussetzung für autonome Kreativität inszeniert. Derartig losgelöst von ihren Bedingungen, werde Arbeit zugleich „arbiträr und omnipräsent“, denn nicht mehr die Erwerbstätigkeit zur Existenzsicherung steht im Mittelpunkt, vielmehr werde jede kreative Tätigkeit zur Arbeit und umgekehrt: „Passionierte Tätigkeiten nehmen denselben Rang wie Erwerbsarbeit ein. Und auch die Belohnung des kreativen Schaffens, die Selbstverwirklichung wird als mindestens gleichwertig mit der monetären Entlohnung und sozialer Absicherung inszeniert. Prekäre Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse, die potenziell daraus resultieren, können so mit dem Nimbus der (digitalen) Boheme geschmückt werden.“ (S. 203).
Lutz Musner geht in seinem Beitrag „Ein neuer Habitus des Geistes und Kulturwissenschaftlers“ auf die aktuelle (Arbeits- und Lebens-) Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses ein. Er konstatiert, dass es in den Geisteswissenschaften, ähnlich wie bei Theatern, Orchestern, Bibliotheken usw. vorrangig darum gehe, „[…] angesichts knapper Mittel die eigene Nützlichkeit nachzuweisen und sich damit dem gesellschaftlichen ‚Supercode‘ einer allgegenwärtigen Ökonomie zu unterwerfen.“ (S. 205). Alles, was dem herbeigesehnten Produktivitäts- und Wachstumsschub äußerlich bleibt, zähle danach mittlerweile als „Orchideenfach“ oder zumindest als anwendungsresistente Wissenschaft, deren Legitimation von vornherein fraglich ist.
Damit habe sich auch die Rolle der Intellektuellen verändert: Galten diese in den 1960er und 1970er Jahren noch als „Proponenten einer fortschrittlichen Gesellschaftspolitik“, so herrsche nun „[…] der Glaube an einer voraussetzungsloser Logik der Profitmaximierung [vor], die soziale Strukturen und kulturelle Phänomene als beliebig modellierbar ansehe“ (S. 207). Damit ändere sich aber auch die Institutionen (Universitäten, Forschungseinrichtungen), die dazu angehalten seien, die Produktion und Distribution von Wissen und Information unter den Vorgaben des Marktes zu realisieren. Dies bedeute, dass sie entweder unmittelbar einem Käufermarkt unterstellt oder aber einer „Marktsimulation“ unterworfen werden, die im Wege von Rankings, Quoten und Umfrageindikatoren quantitative Qualitätskriterien herzustellen vorgibt: „Das heißt jedoch, dass die Logik dieser Institutionen unter die mächtige und oft nicht verhandelbare Fiktion des ‚Konsumenten‘ gerät, und die Institutionen dadurch gezwungen sind, ihrer Organisationsstrukturen beziehungsweise Investitionsentscheidungen analog zu Unternehmen zu gestalten.“ (S. 209).
Im inhaltlichen Anschluss an die Ausführungen von Barth führt Musner aus, dass der Kapitalismus dabei offensichtlich zugleich in der Lage war, wesentliche Argumente der Sozial- und Künstlerkritik (die Forderung nach mehr Autonomie, Kreativität, Authentizität und schließlich nach mehr Emanzipation) erfolgreich zu integrieren und in Partizipationschancen für ein vornehmlich mittelständisches Klientel zu verwandeln. Die Forderung nach mehr Autonomie wurde in neue Managementstrukturen übersetzt und die Arbeitnehmer wurden (etwa durch selbst organisierte „Team- und Gruppenarbeit“) wieder stärker in den Produktionsprozess einbezogen, wodurch über den Umweg von mehr „Verantwortungsbewusstsein“ nicht nur Kontrollkosten eingespart wurden, sondern auch die Produktivität („produktiver Gruppenzwang“) und die Kundenorientierung gesteigert werden konnten: „Die Forderung nach mehr Kreativität, die die höheren Angestellten und die Vertreter der Intelligenz erhoben hatten, fand desto stärkeres Echo je mehr die Wertschöpfung von Wissen, Innovation und einem stark expandierenden Dienstleistungs- und Kultursektor abhängig wurde. […] Der Forderung nach Emanzipation schließlich wurde durch neue Modelle Rechnung getragen, die anstelle des fix angestellten männlichen ‚Einkommenspatriarchen‘ das Rollenmodell eines flexiblen, mobilen und ‚selbstbestimmten‘ Scheinselbstständigen setzte.“ (S. 214).
Für die „Intelligenzarbeiter“, die sich weniger in sicheren und langfristigen Beschäftigungsverhältnissen und dafür vermehrt in zeitlich und finanziell begrenzten Zugehörigkeiten zu „Projekten“ und „Netzwerken“ wiederfinden, komme es deshalb vor allem darauf an, „soziales Kapital zu akkumulieren“, um sich auf dem unsicheren Arbeitsmarkt befristeter Engagements besser positionieren zu können: „Die Logik, der sie unterworfen sind, ist die Logik des Differenzgewinns, das heißt, einer Profitstrategie, die Akteure und Akteurinnen veranlasst, Beziehungsinvestitionen in ein möglichst heterogenes Netz von Kontaktpersonen vorzunehmen, um durch die Überwindung von ‚Kommunikationslöchern‘ und strukturellen Barrieren einen Informationsvorsprung herzustellen und Wissen in eigenem Namen transferieren und verwerten zu können. Diese Welt asymmetrischer Netzwerke begünstigt der Tendenz nach Schnelle gegenüber Langsamen, Opportunisten gegenüber Loyalen, Mobile gegenüber Sesshaften und Egoisten gegenüber Altruisten.“ (S. 215).
In Anlehnung an Boltanski/Chiapello kommt Musner zu dem Schluss, dass die Flexibilisierung, Fragmentierung und Prekarisierung der Arbeitsmärkte für Kopfarbeiter einen Sozialtypus befördere, den er als „Netzopportunisten“ bezeichnet. Für diesen komme es im Wesentlichen darauf an, Aufmerksamkeit zu provozieren und anzusammeln sowie Kontakte und Wissensressourcen der Netzwerke (für sich und gegen andere) zu nutzen. Dabei erlaube bzw. bedinge die geringe Kontrolldichte des akademischen Feldes gleichermaßen ein „Abkupfern“ des Wissens Dritter wie auch ein „Wildern“ in fremden Territorien: „Selbst sinnwidrige Ausritte in andere Disziplinen gelten so als originell, eine hohe Beweglichkeit auf dem Markt der Theoriemoden gilt nicht als flach und substanzlos, sondern als innovativ und avantgardistisch.“ (S. 217).
Andrea Buss Notter stellt in ihrem Beitrag „ Ausgliederung unternehmerischer Sozialverantwortung in einer Schweizer Großbank – Ethnographie widersprüchlicher Logik von Stellenabbau und Krisenmanagement“ die Ergebnisse einer Evaluationsstudie dar, die sich mit den Auswirkungen auf Arbeit und Organisation im Zuge der Bankfusionen von schweizer Großbanken Ende der 1990er Jahre beschäftigt. Die zweijährige Sozioanalyse schildert den radikalen Unternehmenswandel auf verschiedenen Unternehmensebenen. Eine zentrale Funktion erfüllte dabei die „Organisation für berufliche Neuorientierung und Laufbahnfortsetzung“ (BNL), einem für die Regelung des Stellenabbaus gegründeten Sozialdepartements der untersuchten Schweizer Großbank. Die Autorin untersucht Arbeit und Nutzen der Organisation BNL, die soziale Praxis ihrer Berater (d. h. ihre Arbeit mit den „freigesetzten“ Mitarbeitern, ihre Betroffenheit, ihr Engagement und die daraus gewonnenen Kenntnisse und Erkenntnisse). Weiterhin stellt sich die Frage nach dem Grund der Entstehung dieser neuen Institution für die Abwicklung des Stellenabbaus im Gesamtrahmen des Krisenmanagements, thematisiert ihre Charakteristik und – mit Bourdieu - ihren „sozialen Sinn“.
Insbesondere die zentrale Rolle und Position der Berater erscheinen der Autorin dabei höchst ambivalent: einerseits betonten diese die mangelnde Verantwortung des Unternehmens gegenüber den Opfern des Modernisierungsprozesses, andererseits forderten sie die Eigenverantwortung und „Selbstverschuldung des Opfers“ ein und appellierten bei der Beratung an deren Selbstverantwortung. Insofern würden hiermit zwei unterschiedliche Strategien bzw. Leitmotive der Beratertätigkeit hervortreten: „Ein im paternalistischen Unternehmensmodell fundierter Ansatz der Betreuung, der die Verantwortlichkeit dieser Krise allein oder vorwiegend dem Unternehmen zuschreibt, die Betroffenen, die als Opfer wahrgenommen werden, beschützt, verteidigt, ihnen den Weg öffnet und quasi die Lösung vorliegt; die Strategie der Responsabilisierung, wenn nicht sogar Culpabilisierung des Opfers, das Setzen auf Selbstaktivierungskräfte und auf Employability, auf Selbsthilfe der Betroffenen, für die man bestenfalls vorübergehende Hilfestellung bieten will.“ (S. 239).
Damit manifestiere sich die Organisation BNL einerseits als eine „Insel“ traditionell paternalistischen Logiken, Werten und Verpflichtungen innerhalb eines neuen, an der Marktlogik orientierten Systems, das diese zwischenmenschlichen Verpflichtungen zu ignorieren und gar aufzulösen suche. Andererseits unterstütze sie im Ganzen gerade die Durchsetzung dieser neuen Marktlogik und den Aufbau von Großunternehmen, die einseitig auf Profit, Internationalisierung und radikale Rationalisierung setzten.
Regina Bittner thematisiert in ihrem Aufsatz „Postsozialistisches Markttreiben - Überlebensökonomien im transnationalen Raum“ anhand der Funktionen des „Kioskmarktes“ (in Smolensk, Russland) in die diese nicht nur den Mangel an Einzelhandel und Konsumgütern in einer Großwohnsiedlung ausgleichen, sondern den arbeitslos gewordenen Einwohnern damit auch eine Chance bieten, durch den Verkauf von Subsistenzprodukten (Fleisch, Gemüse etc.) ihre magere Haushaltskasse aufzubessern: „Die Kioske waren Wegbereiter einer Kapitalisierung der russischen Gesellschaft. Sie sind Orte eines prekären Unternehmertums, das an die Stelle der vormals staatlich garantierten lebenslangen Beschäftigung getreten ist.“ (S. 246). Der Kioskhandel wurde dabei vielfach als Phänomen diskutiert, das in den Turbulenzen der gesellschaftlichen Transformation vom Realen Sozialismus zum Kapitalismus eher ein Übergangsmodell beschreiben sollte. Diese Annahme berücksichtige allerdings nicht die Persistenzen, die sich daraus ergaben, dass der Kioskhandel für viele, ehemals dauerhaft Beschäftigte zu mehr oder weniger einzigen (Über-)Lebensmittel geworden sei: „Die meisten der von uns interviewten Kioskbetreiber gingen bisher einer formell abgesicherten Beschäftigung nach. Krankenschwestern, Lehrer, Ingenieure, Bauarbeiter - ein breites Spektrum an Qualifikationen ist auf dem Markt versammelt. Entweder wurden sie von dem staatlichen Unternehmen, indem sie beschäftigt waren, entlassen, oder die Löhne wurden nicht mehr bezahlt beziehungsweise waren so gering, dass der Sprung ins kleine Unternehmen den letzten Ausweg darstellte.“ (S. 254).
Die Autorin schildert kurz die historische Entwicklung der Kioske (in der ehemaligen Sowjetunion), den mit ihrem Fortbestand verbundenen, aus der Sowjetzeit stammenden Arbeitsbegriff („ehrliche Arbeit“ des „homo sovieticus“) als wesentlichen Werthorizont im gesellschaftlichen Übergang sowie den Kioskhandel als besondere Form des „mobilen Unternehmertums“: „Menschen sind dabei permanent gezwungen, regionale und nationale Grenzen zu überwinden, um ihren eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Mobilität gehört zum Alltag der Händler, die in unserem Fall zwischen Smolensk, Moskau und Istanbul hin- und herpendelten.“ (S. 253.). Der Markt als Zone des kleinen Profits, hoher persönlicher Risiken und Unsicherheiten - die Stadtverwaltungen wollen sich zwischenzeitlich dieser Provisorien eines unkontrollierten, „wilden“ Kapitalismus und damit einer z. T. als „illegale Schattenwirtschaft“ betrachteten „Para-Ökonomie“ mit bürokratischen wie polizeilichen Mitteln entledigen - stellt demnach den Lebensbereich eines Großteils der Menschen dar, die „[…] sich nun ein Auskommen als individualisierte Selbstunternehmer suchen müssen. Für die wenigsten ist das eine Erfolgsgeschichte.“ (S. 259).
Im letzten Beitrag des Bandes („Prekäre Subsistenz. Eine historische Rückschau auf dörfliche Bewältigungsstrategien im Umbruch zur Industrialisierung“) schildert Andrea Hauser Entwicklungsprozesse in einem württembergischen Dorf im 18. und 19. Jahrhundert, um aufzuzeigen, dass die Probleme, die unter der Überschrift „Prekariat“ aktuell diskutiert werden, eine historische Tradition besitzen. Prekär war die damals vorherrschende Subsistenzwirtschaft aufgrund verschiedener, zusammenwirkender Faktoren: „Aufgrund der praktizierten Realteilungspraxis, der gleichmäßigen Aufteilung des Besitzes bei einem Todesfall unter aller Erben, und der fast hundertprozentigen Bevölkerungszunahme im 18. Jahrhundert von 506 auf 1081 Einwohner (des Dorfes, MB), wuchsen die landarmen und landlosen Unterschichten an. Landwirtschaftliche Krisen, Preissteigerungen und andere Belastungen, wie zum Beispiel die Fronarbeit beim Neckarbau oder die häufigen Einquartierungen von Militär, brachten insbesondere Kleinbauern-, Tagelöhner- und Handwerkerfamilien in Existenznöte.“ (S. 268). Mit der letzten großen Krise alten Typs - einer landwirtschaftlichen Unterproduktionskrise (1843 - 1853) - erreichten Verarmung, Verschuldung, Konkurse und Zwangsversteigerungen ihren Höhepunkt. Die Regulierung dieser Krise schwankte zwischen Repression, z. B. durch Bettelverbote und Heiratsbeschränkungen und dem Ausbau traditioneller Unterstützungsformen aufgrund des Heimatrechts (Armenhäuser und Arbeitsdienste): „Trotz all dieser Maßnahmen erschien vielen die Auswanderung als einziger Ausweg aus der nicht enden wollenden Not.“ (S. 269).
Die gegenwärtige „Zone des Prekariats“ ist dadurch gekennzeichnet, dass die Gefährdeten, die in unsicheren Arbeitsverhältnissen vom Abstieg bedroht sind, noch versuchen, den Anschluss an die mittleren Schichten zu halten. Darüber ergeben sich einige strukturelle Gemeinsamkeiten zu den Verhältnissen im 19. Jahrhundert. Damals wie heute gehörten raumzeitliche Entgrenzungen, also „Mobilität und Flexibilität“ zu den wesentlichen Anforderungen. Dabei war die vorindustrielle Wirtschaftsweise eine kombinierte Ökonomie, das heißt sie beruhte auf der Kombination verschiedener Erwerbsquellen, die zusammen genommen erst das karge Überleben sicherten. Man musste alles nehmen, was sich einem anbot und man konnte auch noch alles (oder zumindest viel Verschiedenes) tun, weil in der ländlichen Produktionsweise Arbeitsteilung und Spezialisierung noch verhältnismäßig unterentwickelt waren. Allerdings brachte dieser individuelle Notbehelf vielfach nicht die Notüberwindung: „Die in der Logik des agrarischen Wirtschaftens eingebundenen Überlebensstrategien waren auch prekär, weil sie Naturkatastrophen, landwirtschaftlichen Krisen und Teuerungen ausgesetzt waren und Ungleichheiten im Dorf nicht ausgleichen konnten.“ (S. 277). Sie führten aber dazu, neue Verhaltensmuster und Mentalitäten zu erzwingen, die dann für den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus notwendig und zugleich funktional waren. Diese Einblicke in das Dorfleben des 18. und 19. Jahrhunderts zeigen für die Autorin deshalb zum Teil frappierende Ähnlichkeiten mit heutigen gesellschaftlichen Zuständen: „Vieles ist auf einer strukturellen Ebene nicht neu am Prekariat“ (S. 281).
Diskussion
Die Untersuchungsergebnisse und Einschätzungen des Großteils der Beiträge stehen damit eher im Gegensatz zur Absicht der Herausgeberinnen, „[…] die effektiven und konstruktiven Momente des Denkens und Handelns auch in nachteiligen und belastenden sozioökonomischen Lebenssituationen nicht auszuschließen.“ (S. 12). Darauf muss man offenbar deshalb extra insistieren, weil die Realität - wie es ja auch in vielen Beiträgen des Bandes anklingt - durchaus eine andere ist. Besteht doch die „Bewältigungskreativität“ in der Mehrzahl der Fälle im alternativlosen Zwang, mittels der je persönlich vorhandenen Mittel und Möglichkeiten mit unsicheren Lebensverhältnissen zurechtzukommen, also schlicht eine dauerhafte (persönliche, wirtschaftliche …) Notlage irgendwie, d. h. „kreativ“ bewältigen zu müssen.
Diesen Betroffenen mangelt es deshalb auch weniger an „Ideen“ oder „Kreativität“ als vielmehr an den materiellen Ressourcen, möglicherweise auch an Qualifikationen und der gesellschaftlichen Position, die nötig wäre, um sich zu „Unternehmern ihres eigenen Lebens“ machen zu können. Auch dem Selbstbewusstsein der Protagonisten der angesprochenen „digitalen Boheme“, die programmatisch ein „intelligentes Leben jenseits der Festanstellung“ propagieren, merkt man letztlich an, dass hier eher die Not zur Tugend erklärt wird, also die Idealisierung der ökonomischen Zwänge stattfindet, die gerade den Ausgangspunkt derartiger Überlegungen bilden.
Ob es dabei praktisch tatsächlich ein Freiheitsgewinn ist, einen Dienstvertrag gegen wechselnde Werkverträge tauschen zu dürfen, darf bezweifelt werden. Endgültig zynisch wird es – insbesondere für Arbeitsuchende – aber dort, wo die „Freiheit“ bzw. „Freisetzung“ von einem Normalarbeitsplatz von den Vertretern der „digitalen Boheme“ in ein quasi emanzipatorisches, dabei zugleich elitäres Projekt der persönlichen und beruflichen Selbstaktivierung entsprechend aktiver „Erfolgsmenschen“ verklärt wird. So deutet man schließlich die aus der erwähnten ökonomischen Alternativlosigkeit resultierende Pflicht, mit dem Verkauf seines Arbeitsvermögens Geld verdienen zu müssen, in die gelungene persönliche Chancenwahrnehmung einer frei gewählten persönlichen und beruflichen Selbstverwirklichung um – „selbst Schuld“, wer sie nicht wahrnimmt. Diese Form der Selbstverwirklichung mag es dabei tatsächlich geben, allerdings eher für einen zahlenmäßigen begrenzten Kreis von Menschen, die auf Grund ihrer exponierten gesellschaftlichen/beruflichen Stellung wirklich „so frei“ sind, sich ihre Arbeit den eigenen Ansprüchen gemäß einzuteilen, Dieses mag ihnen letztlich auch deshalb (besser) gelingen, weil sie dabei nicht so sehr „aufs Geld schauen“ (müssen), insofern sie welches besitzen und es mit ihrer Arbeit nicht unbedingt verdienen müssen.
Diesen Umstand blenden die Herausgeberinnen jedoch in der programmatischen Absicht, „nicht nur Pessimismus verbreiten“ zu wollen, eher aus. Man kann ihnen deshalb den Vorwurf eines idealistischen Konstrukts nicht gänzlich ersparen. Dieses gilt umso mehr, als sie – mit Bourdieu - zugleich eindeutige Zwecke und Ziele der Prekarisierung anzugeben wissen, insofern: „[…] ‚Prekarität‘ durchaus keine unbeabsichtigte Nebenfolge der ökonomischen Globalisierung [ist], sondern Resultat eines ‚politischen Willens‘. ‚Flexible‘ Unternehmen und staatliche Agenturen beuten gezielt eine von Unsicherheiten geprägte Situation aus, um monetäre Kosten zu senken. So betrachtet, wird Prekarität Teil einer neuartigen disziplinierenden Herrschaftsform, in der Angst und Unsicherheit eine lähmende und keine mobilisierende Wirkung entfalten.“ (S. 25). Diese „mobilisierende Wirkung“ dann aber gegen die Verhältnisse und die sie bestimmenden Akteure einzufordern, die gerade absichtsvoll das Gegenteil produzieren, entbehrt eben nicht eines gewissen Idealismus, für den „kreative Bewältigungsstrategien des Prekären“ dann viele „Risiken“, zugleich aber immer auch „Chancen und Möglichkeiten ihrer Überwindung“ bereithalten sollen.
Fazit
Abgesehen von diesen Einwänden liefert der Band in seiner Darstellung der Entstehungsgründe und –bedingungen von Prekarität einerseits und ihrer Analyse aus unterschiedlichen Akteursperspektiven andererseits insgesamt sehr lesenswerte Beiträge zur - bis auf Weiteres wohl nicht endenden - Debatte um das Thema „Prekarisierung“.
Rezension von
Prof. Dr. Michael Buestrich
Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum
Website
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Zitiervorschlag
Michael Buestrich. Rezension vom 08.12.2009 zu:
Irene Götz, Barbara Lemberger (Hrsg.): Prekär arbeiten, prekär leben. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf ein gesellschaftliches Phänomen. Campus Verlag
(Frankfurt) 2009.
ISBN 978-3-593-38872-4.
Reihe: Arbeit und Alltag.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8318.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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