Leah Carola Czollek, Gudrun Perko et al.: Lehrbuch Gender und Queer
Rezensiert von Prof. Dr. Melanie Plößer, 29.10.2009
Leah Carola Czollek, Gudrun Perko, Heike Weinbach: Lehrbuch Gender und Queer. Grundlagen, Methoden und Praxisfelder.
Juventa Verlag
(Weinheim) 2009.
240 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2205-6.
17,00 EUR.
CH: 29,90 sFr.
Reihe: Studienmodule Soziale Arbeit.
Grundlagen einer gender- und queerorientierten Sozialen Arbeit
An der Kategorie „Geschlecht“ orientierte Themen finden seit den 1990er Jahren zunehmend Einzug in die Ausbildungscurricula Sozialer Arbeit. Insofern die Problemlagen und Handlungsstrategien der Adressaten und Adressatinnen Sozialer Arbeit als durch die Geschlechterverhältnisse beeinflusst bzw. hervorgebracht verstanden werden müssen und sich die Soziale Arbeit nicht zuletzt selbst als geschlechtlich codierte Profession erweist, erscheint die Aufnahme von Gender-Wissen in den Kanon sozialarbeiterischer Theorie und Praxis als ebenso notwendig wie überfällig.
Mit dem von Leah Carola Czollek, Gudrun Perko und Heike Weinbach herausgegebenen „Lehrbuch Gender und Queer“ liegt nun endlich auch eine theoretische Fundierung und Arbeitshilfe für Lehrende und Studierende der Sozialen Arbeit vor, mittels derer die sich stellenden Fragen zum Thema „Geschlecht“ aus einer intersektionalen Perspektive heraus bearbeitet werden können. So verstehen die Autorinnen Gender zwar als eine grundlegende Analyse und Deutungskategorie Sozialer Arbeit – um die jeweiligen Positionen, die Lebenswelten und Benachteiligungen der Subjekte aber in ihrer Komplexität wahrnehmen und analysieren zu können, plädieren Czollek, Perko und Weinbach für eine Verknüpfung der Kategorie Geschlecht mit diversity- und queerorientierten Perspektiven und Fragestellungen. Ihre These: „Gender als einzige Analysekategorie in Bezug auf Diskriminierung, Gewalt, Marginalisierung heranzuziehen, reicht (…) nicht aus“ (S. 12).
Queere Ansätze, die die kritische Infragestellung und Vervielfältigung von (heteronormativen) Identitätsnormen anstreben sowie Diversity-Konzepte, die Differenzen (Alter, sexuelle Orientierung, Behinderung, etc.) in ihren vielfältigen Verknüpfungen und Überschneidungen in den Fokus rücken wollen, erweisen sich für die drei Autorinnen als ebenso notwendige wie hilfreiche Erweiterungen der Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten einer gendergerechten Sozialen Arbeit.
Inhalt
Um die Grundzüge einer solchen Arbeit Lehrenden, Studierenden sowie Praktikern und Praktikerinnen der Sozialen Arbeit näher zu bringen, widmen sich die drei Autorinnen in ihrer ersten Lehreinheit den wissenschaftlichen Traditionslinien einer an Gender und Queer orientierten Sozialen Arbeit. Dazu werden die Gender Studies, die die Praxen der sozialen Konstruktion und der Dekonstruktion von Geschlecht analysieren, die kritische Männerforschung, im Rahmen derer z.B. hegemoniale Männlichkeitskonstruktionen kritisch hinterfragt werden und die aus poststrukturalistischen Diskussionen hervorgegangenen Queer Studies, die auf die Infragestellung und Vervielfältigung binärer sexueller Identitäten abzielen, in ihren geschichtlichen Entwicklungen und Kerngedanken vorgestellt wie auch deren jeweiligen Herausforderungen für die Soziale Arbeit skizziert.
In der zweiten Lehreinheit werden handlungsleitende Prinzipien einer gender- und queergerechten Sozialen Arbeit vorgestellt. Ausgewählt wurde dafür der – vor allem in den angloamerikanischen Ländern prominente – Ansatz des Social Justice, mit dem auf eine gerechte Gesellschaft der partizipativen Anerkennung abgezielt wird sowie die aus den Debatten um interkulturelle Öffnung hervorgegangenen Konzepte von Intersektionalität und Diversity. Diversity wird hier explizit als politisches Programm verstanden, das die Heterogenität und Verbundenheit von Differenzkategorien ebenso zu berücksichtigen, wie Macht- und Ungleichheitsverhältnisse kritisch zu thematisieren sucht.
Im anschließenden Kapitel stellt das Lehrbuch rechtliche Grundlagen einer an Gender und Queer orientierten Sozialen Arbeit vor: Im Rahmen von drei Lehreinheiten werden dazu ausgewählte Rechte zu Gender, Queer und Diversity (UN Menschenrechtskonvention, Grundgesetz, Sozialgesetzgebungen) dargelegt, Instrumente und Ziele von Gender Mainstreaming beschrieben und die vier Rahmenrichtlinien des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes diskutiert.
Die historischen Kontexte einer gendergerechten Sozialen Arbeit sind Thema des dritten Zugangs: Hier wenden sich die Autorinnen vor allem den Themen und Forderungen der ersten und zweiten Frauenbewegung zu und skizzieren die zentralen inhaltlichen Verschiebungen und Weiterentwicklungen feministischer Theorien. Unterschieden werden dabei die Vorstellungen einer „global sisterhood“ in den 1970er Jahren, die Diskussionen um die Mittäterschaft von Frauen und die Differenzen innerhalb der Genusgruppen in den 1980er Jahren sowie die Anfang der 1990er Jahre mit sozialkonstruktivistische und dekonstruktive Theorieansätze ausgelösten kritischen Infragestellungen der Kategorie „Frau“.
Kapitel 4 rückt Methoden einer gender und queer gerechten Sozialen Arbeit in den Fokus. Vorgestellt werden hier von Czollek, Perko und Weinbach individuumszentrierte Methoden (Beratung, Coaching, Case Management Netzwerkarbeit), gruppen- und gmeinwesenorientierte Methoden (soziale Gruppenarbeit, Bildungsarbeit, Gemeinwesenarbeit, Community Organizing) sowie Forschungs – und Reflexionsmethoden aus den Gender und Queer Studies (wissenschaftskritischer Ansatz, interaktionistische Analysen, Dekonstruktion).
Die Frage, wie eine gender- und queergerechte Soziale Arbeit in Bezug auf konkrete Handlungsfelder und spezifische Zielgruppen gestaltet werden kann, ist Gegenstand des fünften Lehrbuchkapitels. Hier werden zum einen zwei klassische Themenfelder (Arbeit mit Behinderten und Flüchtlingen) Sozialer Arbeit vorgestellt, zum anderen widmen sich zwei Lehreinheiten aktuellen Entwicklungen in der Sozialen Arbeit: der Arbeit mit Frauen, Männer und Queers sowie der Klinischen Arbeit. Nach Einführungen in die theoretischen und rechtlichen Grundlagen der jeweiligen Arbeitsfelder, stellen die Verfasserinnen Konzepte und Perspektiven am Beispiel aktueller Projekte vor und diskutieren konkrete Herausforderungen für die Soziale Arbeit.
In einem abschließenden Schritt wird der Frage nachgegangen, welche professionellen Kompetenzen und Vorgehensweisen eine gender- und queergerechte Soziale Arbeit benötigt. Aus dem internationalen Code of Ethics for Social Work leiten die Autorinnen sowohl die Forderung nach einer affirmativen Anerkennung ab, im Zuge derer die Adressaten und Adressatinnen Sozialer Arbeit in ihren Verschiedenheiten (an-)erkannt werden als auch einer Form der transformativen Anerkennung, die die Möglichkeit der reziproken Veränderung und kritischen Infragestellung eigener Vorstellungen und Identitäten umfasst .Darüber hinaus wird in die der jüdischen Dialogtradition entstammende ethische Haltung des Mahloquet als Möglichkeit einer dialogischen Konfliktlösung eingeführt sowie ein Katalog an Gender-, Queer- und Diversitykompetenzen präsentiert. Konkrete Methoden für die Gestaltung einer gender- und queergerechten Arbeit (3 R Methode, 8 Schritte Modell) schließen das interessante und praxisbezogene Kapitel ab.
Diskussion
Die Autorinnen wecken einerseits eine Sensibilität dafür, warum Geschlecht eine für die Soziale Arbeit unhintergehbare, da ungleichheitsgenerierende und machtvolle Kategorie darstellt. Gleichzeitig verstehen sie es deutlich zu machen, dass eine Frau nicht alleine eine Frau ist, sondern Geschlecht mit Rückgriff auf queere, intersektionale, interkulturelle und diversityorientierte Ansätze als mehrdimensionale Kategorie zu analysieren ist.
Zugleich gelingt es den Verfasserinnen ein zentrales Anliegen des Lehrbuchs, nämlich die Profilierung einer intersektionalen, die Differenzen in ihren Abhängigkeiten bedenkenden Perspektive auch auf die eigenen Ausführungen und Ansätze anzuwenden. Anstelle eines eindimensionalen Blicks werden die Themen multiperspektivisch beleuchtet wie auch geschichtliche Entwicklungen und „Abhängigkeiten“ herausgestellt. Darüber hinaus werden die Themen in ihren jeweiligen historischen und wissenschaftlichen Kontexten betrachtet, verwendete Begriffe einer kritischen Lektüre unterzogen und die vielfältigen Verknüpfungen der Differenzlinien ebenso berücksichtigt wie Impulse aus anderen Disziplinen und anderen Kontexten.
Allein die feministische Soziale Arbeit taucht als eher randständiges Thema auf. So perspektivreich und würdigend das Lehrbuch insgesamt ist, hätte diese einflussreiche Tradition eine stärkere Berücksichtigung finden können, bzw. nicht so trennscharf von den Gender und Queer Studies unterschieden werden müssen – haben doch gerade feministische Handlungspostulate (wie Parteilichkeit), feministische Themen und Arbeitsfelder (Mädchenarbeit, Frauenhäuser etc.) die Theorie und Praxis Sozialer Arbeit im allgemeinen wie auch die gender- und queerorientierte Ansätze im Besonderen nachhaltig beeinflusst und verändert.
Eine weitere Stärke des Lehrbuchs ist seine gelungene, da sowohl theoretisch fundierte wie anwendungsorientierte Gestaltung. Neben verständlichen Einführungen motivieren klare Begriffsdefinitionen, schematische Darstellungen, Übungseinheiten mit anregenden Diskussions- und Arbeitsaufgaben sowie weiterführende Literatur-Tipps zu einer kreativen und kritischen Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen und Theorien. Dadurch werden sowohl die aktuellen zentrale Ansätze und Debatten für Einsteiger und Einsteigerinnen in die Gender- und Queertheorien zugänglich gemacht also auch eine queere, das heißt eine reflexive und „vermeintliche Einfachheiten“ und Eindeutigkeiten in Frage stellende Haltung angeregt.
Insgesamt gelingt den drei Autorinnen mit ihrem Lehrbuch eine hochaktuelle und perspektivreiche Einführung in die theoretischen Grundlagen, Methoden und praktischen Umsetzungsmöglichkeiten einer gendergerechten Sozialen Arbeit. Indem die Notwendigkeit der Anerkennung für die Kategorie „Gender“ deutlich gemacht wird, ohne dass diese als „absolut“ zementiert wird, sondern im Gegenteil zu einer kritischen Erweiterung der Perspektive auf Geschlecht angeregt wird, eröffnen sich für Studierende, Lehrende Praktikerinnen grundlegende Verständnisse wie auch neue Impulse einer gender- und queergerechten Sozialen Arbeit.
Fazit
Leah Czollek, Gudrun Perko und Heike Weinbach gelingt es mit ihrem Lehrbuch, sowohl die Notwendigkeit und Wirkmächtigkeit der Kategorie „Geschlecht“ herauszustellen als auch deren Ausschließlichkeit in Frage zu stellen.
Rezension von
Prof. Dr. Melanie Plößer
Professorin am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Bielefeld
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Zitiervorschlag
Melanie Plößer. Rezension vom 29.10.2009 zu:
Leah Carola Czollek, Gudrun Perko, Heike Weinbach: Lehrbuch Gender und Queer. Grundlagen, Methoden und Praxisfelder. Juventa Verlag
(Weinheim) 2009.
ISBN 978-3-7799-2205-6.
Reihe: Studienmodule Soziale Arbeit.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8344.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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