Stefanie Ackermann: Selbstverletzung als Bewältigungshandeln junger Frauen
Rezensiert von Dr. Christian Brandt, 27.05.2003

Stefanie Ackermann: Selbstverletzung als Bewältigungshandeln junger Frauen.
Mabuse-Verlag GmbH
(Frankfurt am Main) 2002.
127 Seiten.
ISBN 978-3-935964-04-3.
17,00 EUR.
Mabuse Wissenschaft 64.
Einführung in die Themenstellung
Selbstverletzendes Verhalten im Sinne einer offenen oder verdeckten, häufig durch Schnitt- und Brandverletzungen herbeigeführten Schädigung des eigenen Körpers ist in der Regel ein Symptom als unkontrollierbar erlebter innerer Spannungen und Widersprüche. Sehr häufig steht die Symptomatik in Zusammenhang mit traumatisierenden Beziehungserfahrungen; in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle sind Frauen und weibliche Jugendliche betroffen. In der psychotherapeutischen Reflexion zu der Symptomatik hat sich eine Sichtweise durchgesetzt, die das selbstverletzende Verhalten in erster Linie als - pathogenes - Mittel der Emotionsregulation betrachtet. Andere Betrachtungsebenen von Selbstverletzungen, als Ausdruck von Schuldgefühlen oder Wiederholung traumatischer Erfahrungen, sind demgegenüber in den Hintergrund getreten. Auch die Autorin versteht selbstverletzende Verhaltensweisen aus dieser Perspektive als Bewältigungsversuche im Sinne eines pathogenen Stress-Coping.
Entstehungshintergrund des Buches
Das Buch entstand aus einer Diplomarbeit, die von Frau Ackermann im Fachbereich Soziale Arbeit an der Fachhochschule Esslingen - Hochschule für Sozialwesen Esslingen erarbeitet wurde. Die Arbeit aus dem Jahr 2002 wurde betreut durch die Professorinnen Lotte Kaba-Schönstein und Christel Althaus. Die Autorin ist als Diplom-Sozialarbeiterin/Diplom-Sozialpädagogin beim Jugendamt Stuttgart tätig.
Aufbau und Inhalte
In der Auseinandersetzung mit epidemiologischen Daten wird als Ausgangspunkt der Arbeit herausgestellt, dass das höchste Auftrittsrisiko selbstverletzenden Verhaltens für junge Frauen besteht. Die Unterscheidung verschiedener Schädigungsformen grenzt verdeckte und offene Selbstschädigungen voneinander ab; Gegenstand der hier besprochenen Arbeit sind nur die offenen Formen selbstverletzenden Verhaltens. Zur Erklärung der geschlechtsspezifischen Auftrittshäufigkeit werden typische sozialisationsbedingte Unterschiede der Emotionsregulation und widersprüchliche gesellschaftliche Rollenerwartungen herangezogen, die eine erhebliche Stressbelastung für junge Frauen induzieren. Es wird die Beschreibung selbstverletzenden Verhaltens als emotionsbezogener, kurzfristig wirksamer Stressbewältigungsversuch mit maladaptiven langfristigen Folgen nachvollzogen. Indem die kurzfristig von Spannungserleben und negativen Emotionen entlastenden Selbstverletzungen längerfristig selbst Anspannung und negative Emotionen auslösen, entsteht der auch für die Sucht typische, aufrechterhaltende Zirkel emotionaler Regulationsstörungen.
Das Schlusskapitel ist der Auseinandersetzung mit möglichen Ansatzpunkten Sozialer Arbeit mit den betroffenen Frauen gewidmet. Dabei werden teilweise auf recht hohem Abstraktionsniveau, aber auch sehr konkret aus den Betroffenenberichten sinnvolle Interventionsansätze Sozialer Arbeit abgeleitet.
Fazit und Zielgruppe
Wie die betreuenden Professorinnen in ihrem Geleitwort zu dem Buch anmerken, geht die Arbeit Frau Ackermanns über die Erwartungen, die an eine Diplomarbeit gerichtet werden, deutlich hinaus. Die Aufarbeitung des Phänomens gelingt gut strukturiert und stringent. Schade ist, dass die von der Autorin erhobenen Betroffenenberichte nicht in längeren Ausschnitten wiedergegeben werden. Von dem Buch sollte keine lehrbuchartige Abhandlung erwartet werden, es ist vielmehr Zeugnis einer notwendigen Auseinandersetzung mit dem Phänomen selbstverletzenden Verhaltens für den Bereich Sozialer Arbeit. Viele der Betroffenen können über psychotherapeutische Hilfe hinaus sehr von alltags- und lebensweltbezogener Unterstützung profitieren und sind teilweise auf diese angewiesen. Das störanfällige Beziehungserlebens der Betroffenen macht wirksame Hilfe kompliziert und setzt neben Akzeptanzbereitschaft einen hohen fachlichen Standard der Helfer voraus. Die Veröffentlichung ist deshalb sehr zu begrüßen, als Beitrag für praktisch Tätige im Bereich Sozialer Arbeit und als engagierte sozialarbeitswissenschaftliche Reflexion.
Rezension von
Dr. Christian Brandt
Psychologischer Psychotherapeut, Diplom Soziologe,
Kinder- und Jugendpsychiatrie am Zentrum für Psychiatrie Weinsberg
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