Christiane Haerlin: Berufliche Beratung psychisch Kranker
Rezensiert von Ilja Ruhl, 31.12.2009

Christiane Haerlin: Berufliche Beratung psychisch Kranker.
Psychiatrie Verlag GmbH
(Bonn) 2009.
144 Seiten.
ISBN 978-3-88414-481-7.
14,95 EUR.
Reihe: Basiswissen.
Thema
In Zeiten von Wirtschaftskrise und Angst vor Arbeitslosigkeit, aber auch von Diskussionen um die Wahl der richtigen Instrumente und der Kritik an Einbahnstraßen im Bereich der beruflichen Wiedereingliederung psychisch kranker Menschen benötigen BeraterInnen ein gutes Rüstzeug.
Ein solches Rüstzeug versetzt die BeraterInnen in die Lage, in Zusammenarbeit mit den Betroffenen Wege zu beschreiten, die nicht in das berufliche Abseits führen. Dieses stellt für psychisch erkrankte Menschen neben der Erkrankung selbst eine zusätzliche Belastung dar und kann die Gesundung behindern oder gar unmöglich machen. Haerlin möchte mit ihrem Buch ein solches Rüstzeug an die Hand geben.
Autorin
Christiane Haerlin ist Ergotherapeutin und arbeitete bereits in den 60er Jahren bei Douglas Bennett in der Londoner Universitätsklinik. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Arbeitstherapie und der beruflichen Rehabilitation. Sie rief eine der ersten Integrationsfirmen ins Leben, baute nach einer beruflichen Zwischenphase beim Landschaftsverband Rheinland das Berufstrainingszentrum Köln auf und ist Mitbegründerin der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. Sie ist an zahlreichen Veröffentlichungen u.a. zum Thema psychische Erkrankung und berufliche Rehabilitation beteiligt.
Aufbau und Inhalt
Kritische Fragen. Haerlin beginnt ihr Buch nach einer Vorbemerkung mit der Beantwortung kritischer Fragen, die sich auf den richtigen Zeitpunkt und die Notwendigkeit beruflicher Beratung in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit bei starker Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und den Umgang mit personenbezogenen Daten beziehen.
Wandel der Arbeitswelt und Rehabilitation. Im Kapitel „Wandel der Arbeitswelt und Rehabilitation“ geht Haerlin vor allem auf die aktuellen Veränderungen ein und plädiert dafür, dass berufsberatende Personen sich mit dieser Landschaft im Wandel beschäftigen. Sie greift dabei zum einen die strukturellen Veränderungen des Arbeitsmarktes aufgrund wechselnder wirtschaftlicher Rahmenbedingungen (Stichwort Globalisierung), zum anderen die historische und aktuelle Entwicklung des psychiatrischen und rehabilitativen Hilfesystems auf. Neben der Darstellung von Einrichtungen und Hilfen zur beruflichen Eingliederung nimmt Haerlin auch Bezug auf deren neue Ausrichtung in Richtung Inklusion und Flexibilisierung der Hilfen.
Die Gestaltung des Beratungsgesprächs. In diesem Kapitel geht die Autorin ausführlich und zielgerichtet auf die eigentliche Gesprächssituation in der beruflichen Beratung ein. Sie erläutert formale Aspekte wie die Wahl der geeigneten Räumlichkeiten, aber auch die notwendige Grundhaltung, mit der ein Beratungsgespräch geführt werden sollte. Besonderen Wert legt Haerlin auf die Möglichkeit, auch Familienangehörige zum Gespräch einzuladen, oder wenn dies nicht möglich ist, deren Vorstellungen und Wünsche in Bezug auf Berufswahl, erste Schritte zurück in die Arbeit etc. durch den/die KlientIn erzählen zu lassen. Ein weiterer wichtiger Aspekt der beruflichen Beratung ist die Thematisierung der Krankengeschichte. Die Autorin weist hier aber auch auf die Gefahr hin, dass das eigentliche Thema, die berufliche Beratung, zum Nebensächlichen werden kann. Weitere Aspekte, die in diesem Kapitel aufgegriffen werden, sind der Umgang mit Unterlagen und Gutachten, die Hinführung zu konkreten Vereinbarungen sowie die richtige Form der Dokumentation des Gesprächs. Die schriftliche Zusammenfassung des Gesprächsergebnisses ist in erster Linie für die zu beratende Person gedacht. Sie kann sich mit dieser z.B. an weitere Einrichtungen wenden. Das Kapitel endet mit mehreren ausführlichen Fallbeispielen für eben diese Dokumentation.
Der
Weg zur Beschäftigung. Während
im vorangegangenen Kapitel das Setting des Beratungsgesprächs im
Mittelpunkt steht, geht es auf dem „Weg zur Beschäftigung“
einerseits um die Fähigkeiten und Kompetenzen, die die zu
beratende Person mitbringt und andererseits um den Abgleich mit
bestehenden Angeboten zur Eingliederung in die Arbeitswelt. Die
Zuhilfenahme des dargestellten „Kölner
Instrumentariums“
und – bei Bedarf – weiterer in diesem Kapitel erläuterter
Instrumente zur Erstellung von Kompetenzprofilen erleichtert diesen
Abgleich in der Beratungspraxis.
Haerlin
geht hier auch auf die besonderen Bedürfnisse spezieller
Klientengruppen wie junge Erwachsene oder Langzeiterkrankte ein und
greift außerdem den Aspekt der häufig eingeschliffenen
und hinderlichen
arbeitsfernen Tagesstruktur auf.
Beratungsorte. Die „Beratungsorte“ umfassen alle Stellen, Einrichtungen und Situationen, in denen berufliche Beratung stattfinden kann. Haerlin zeigt die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der beruflichen Beratung für diese Beratungsorte auf, und macht deutlich, dass auch weniger naheliegende Settings, wie die psychiatrische Facharztpraxis oder die psychotherapeutische Praxis sich für ein solches Gespräch eignen. Sie spannt diesen Bogen dann weiter über die niedergelassenen ErgotherapeutInnen bis hin zum Sozialpsychiatrischen Dienst. Das Kapitel endet mit einer Übersicht jener Einrichtungen, die die berufliche (Wieder)-eingliederung praktisch umsetzen, aber auch beratend tätig werden können. Diese rehabilitativen Dienste werden kurz in ihrer Funktion und mit dem entsprechenden Zielgruppenbezug vorgestellt. Zum Schluss wird nochmals auf die Bedeutung von Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen eingegangen, die bei entsprechender Eignung und Interesse selbst ein Beratungsgespräch durchführen können.
Diskussion
Es sei gleich zu Beginn erwähnt: Das Buch hält, was der Titel verspricht, nämlich umfangreiche Informationen und hilfreiche Tipps zur praktischen Ausgestaltung der beruflichen Beratung. Die Autorin geht dabei insofern systemisch vor, als sie zum einen auf der individuellen Beratungsebene die Einbeziehung des persönlichen Umfelds der zu Beratenden einfordert und auf der anderen Seiten die übergeordnete Vernetzung der Hilfen an keiner Stelle aus den Augen verliert. Der Fokus ihrer Darstellung liegt dabei nicht auf den Einrichtungen der Rehabilitation, sondern auf den persönlichen Umständen der KlientInnen und dem Hilfeangebot, das in der Regel zeitlich vor der beruflichen Rehabilitation zur Verfügung steht. Hier möchte Haerlin die Weichen gestellt sehen, um frühzeitig Perspektiven zu entwickeln und Hoffnung zu geben.
Besonders angenehm ist der logische Aufbau des Buches, der die schnelle Orientierung erleichtert. Sehr hilfreich sind hier auch die zusammenfassenden Stichworte am Textrand und die Querverweise auf zurückliegende und spätere Textstellen.
Sprachlich ist der Text nicht abgehoben und gut verständlich, bisweilen angenehm direkt und kritisch.
Trotz der außerordentlichen Praxisnähe – es finden sich nur wenige Seiten ohne ein kurzes Dialog-Beispiel – legt Haerlin auch Wert auf wissenschaftliche Fundierung (S. 58/59). Die Praxisnähe ist dem Umstand geschuldet, dass die Autorin auf jahrzehntelange berufliche Erfahrungen zurückgreifen kann. Sie weiß deswegen um die Fallstricke und Schwierigkeiten der beruflichen Eingliederung und unterschlägt diese nicht, sondern sensibilisiert hierfür. Aber auch Defizite auf Seiten der Profis werden von Haerlin nicht verschwiegen (S. 105).
Besonders hebt sich „Berufliche Beratung psychisch Kranker“ durch sein hohes Maß an Aktualität hervor. Die Autorin nimmt Bezug auf das Persönliche Budget, die sich gerade etablierende EX-IN-Bewegung oder die UN-Charta zu den Rechten behinderter Menschen und beim Blick ins Literaturverzeichnis findet sich eine Vielzahl von Aufsätzen und Büchern auf der Höhe der Zeit.
Eine kleine Kritik sei aber dennoch erlaubt: Das Betreute Wohnen als eine Form der Inklusion zu interpretieren wird m.E. diesem Begriff dann doch nicht gerecht (S. 23). Und ein Stichwortverzeichnis wird vom Rezensenten – wenn auch nicht schmerzlich – vermisst. Einschränkend muss auch gesagt werden, dass das Buch keinen detaillierten Überblick über die verschiedenen Reha-Angebote und deren Zugangsvoraussetzungen gibt. Hier muss gegebenenfalls zusätzlich auf andere Bücher zurückgegriffen werden.
Zielgruppen
Auch hierin liegt eine der Stärken des Buches. Haerlin macht sich stark dafür, dass berufliche Beratung nicht ausschließlich an den hierfür etablierten Stellen stattfindet – denn hierhin kommen Hilfesuchende oft erst spät oder womöglich gar nicht –, sondern insbesondere in Einrichtungen und Diensten, an die man zunächst nicht denken würde, wenn es um berufliche Beratung geht. Zu diesen gehören u.a. niedergelassene FachärztInnen, PsychotherapeutInnen oder Selbsthilfegruppen. Geht es nach Haerlin, so kommt eigentlich fast niemand, der in der Psychiatrie oder Gemeindepsychiatrie tätig oder engagiert ist, um das Thema berufliche Beratung herum. Deshalb ist ihr Buch für alle an diesem Thema grundsätzlich Interessierte geeignet.
Fazit
Mit „Berufliche Beratung psychisch Kranker“ hat Haerlin ein Buch geschrieben, das aus der Praxis kommt und Hilfe für die Praxis bietet. Es wird getragen von einer optimistischen Grundhaltung und der Erkenntnis, dass Menschen mit psychischer Erkrankung besonders auch im Prozess der beruflichen Beratung Experten in eigener Sache sind. Entlang dieser Grundhaltung entwirft die Autorin ein mit zahlreichen Beispielen und Arbeitshilfen angereichertes Konzept der beruflichen Beratung. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf gemeinsam mit den KlientInnen entwickelten individuellen und passgenauen Wegen und nicht auf der detaillierten Darstellung verschiedener Rehabilitationsangebote. Die übersichtliche Gestaltung, der stringente Aufbau sowie der hohe Praxisbezug machen es uneingeschränkt empfehlenswert.
Rezension von
Ilja Ruhl
Soziologe M.A.
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