Pius Thoma, Cornelia Rehle (Hrsg.): Inklusive Schule
Rezensiert von Prof. Dr. Andrea Platte, 31.10.2009
Pius Thoma, Cornelia Rehle (Hrsg.): Inklusive Schule. Leben und Lernen mittendrin. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2009. 263 Seiten. ISBN 978-3-7815-1668-7. 18,90 EUR.
Thema
Das Buch beleuchtet die schulische Integration aus unterschiedlichen Perspektiven und zeigt dabei vor allem gelungene Praxis auf, als auch Anregungen zu einer inklusiven Didaktik und notwendige Unterstützungssysteme.
Entstehungshintergrund
Mit dem Ziel, inklusive Strukturen und Praktiken in Schulen der Region anzubahnen, verfolgt das Buch das Anliegen der Bestandsaufnahme und Information sowie der Unterstützung von „Aufbruch zur Erneuerung unserer Schul- und Bildungslandschaft“ (S.7). Es ist ein Projekt des „Forum für inklusive Strukturen an Schulen in der Region“ (FISS), in dem sich Eltern, Lehrkräfte, Schulräte, Integrationshelfer/innen, Lehrende der Universität Augsburg (Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik) und andere an schulischer Integration Interessierte zu einem regelmäßigen Austausch treffen. In der Beteiligung dieser unterschiedlichen Personen- und Fachgruppen präsentiert sich eine große Bandbreite von Erfahrungen und Perspektiven.
Aufbau
Nach einer einführenden Information baut sich das Buch in vier Teilen auf, die eine konsequente Verbindung von Theorie und Praxis präsentieren.
- Mit theoretischen Grundlagen geben im ersten Teil zwei Kapitel dem Projekt eine Basis: Pius Thoma verortet die „Schule als Ökosystem“ und zeigt dabei aussondernde Mechanismen auf, die von Schulbeginn an einsetzen. Ramona Häberlein-Klumpner übernimmt eine „problemgeschichtliche Perspektive“ in der Darstellung eines Phasenmodells von der Separation zur Inklusion.
- Im anschließenden zweiten Teil werden zehn „Fallbeispiele unter ökosystemischer Perspektive“ dargestellt und mit einer zusammenfassenden Analyse und Bewertung abgeschlossen.
- Der dritte Teil liefert mit dem Blick auf „Inklusive Schulkultur – Inklusiven Unterricht“ Vorschläge für Didaktik und Unterrichtspraxis in einer inklusiven Schule.
- Der vierte Teil rundet den ökosystemischen Blick ab durch den Einbezug der „Partner einer inklusiven Schule“ (Integrationsbegleitung, Sonderpädagogik, Allgemeine Pädagogik).
Ausgewählte Inhalte
Beispielhaft seien folgende Artikel dargestellt:
- Pius Thoma: Die verdrängte Rolle der Schule – Schule als Ökosystem. Vor dem Hintergrund einer ökosystemischen Reflexion wird Schule als Intersystem verstanden, das in dynamischen Vernetzungen mit Systemkontexten agiert. Behinderung gilt hier als nicht gelungene Integration ins Mensch-Umwelt-System. In diesem Zusammenhang wird die defektspezifische kompensatorische Bildung und Ausbildung kritisiert, die zumeist spätestens nach der Kindergartenzeit einsetzt. Mit Verweis auf die scharfe Kritik des UN-Botschafters Vernor Munoz, das deutsche Bildungssystem verletze das Recht auf Bildung aller Kinder formuliert Pius Thoma die schulische Inklusion als „eine zentrale Entwicklungsaufgabe unserer Gesellschaft“ (S.32).
- Ramona Häberlein-Klumpner: Separation – Intergation – Inklusion unter problemgeschichtlicher Perspektive. Hier wird der Entwicklungsprozess der Sonderbeschulung in Anlehnung an ein von Bürli (1997) erstelltes – sehr linear gedachtes – Phasenmodell dargestellt.
- Niklas: „Dieses Kind wird nie gehen, nie sprechen…“. Das Fallbeispiel Niklas sei exemplarisch für den zweiten Teil des Buches gewählt, weil hier besonders deutlich wird, inwiefern sich eine theoretisch fundierte Auseinandersetzung über das Phänomen Behinderung auf das Erleben im Alltag auswirken kann: Eine belastende Diagnose am Anfang eines Kinderleben (vgl. S.81) wird hier Jahre später relativiert durch die humangenetische Sichtweise des Wissens um die Vielfalt (Sabine Stengel-Rutkowski). Niklas‘ Schulgeschichte wird erzählt von seiner Mutter Raphalea Ohlenforst, von der Grundschullehrerin Monika Scherer, von der Praktikantin Nicola Rudolf und von der Studentin Sandra Liebsch. In wenigen Fallbeispielen kommen auch Mitschüler/innen (Jakob/ Teresa Dorn) oder die betroffene Schülerin selber (Veronika Raila) zu Wort.
- Aus den Fallbeispielen leiten Cornelia Rehle und Pius Thoma abschließend fünf Forderungen für Lehrkräfte, die Klassengemeinschaft, diagnostische Kompetenzen, die Unterrichtsgestaltung und die politische Haltung ab (S. 173-178).
- Cornelia Rehle (Teil 3) erarbeitet „Grundmuster der Unterrichtsorganisation und -methodik, die für das Lernen in heterogenen Gruppen gut geeignet sind“ (S.183). Diese sollen dem hohen Anspruch inklusiven Unterrichts gerecht werden können, Ausgrenzung zu verhindern und zugleich individuelle optimale Bildungsbedingungen zu ermöglichen. Sie schlägt Grundlinien einer inklusiven, entwicklungsorientierten Didaktik in Anlehnung an Lern- und Kooperationsformen nach Wochen vor. Die kommunikativen, kooperativen, koexistenten und subsidiären Lernformen werden jeweils mit Unterrichtsbeispielen belegt. In einem weiteren Beitrag macht Rehle Vorschläge für „heterogenitätsfreundliche Aufgabenstellungen“ in einer jahrgangsgemischten Eingansklasse (19).
- Gabriele Niedermayer schärft in ihrem Beitrag (Teil 4) „den Blick für kritische Aktionsfelder“ am Beispiel der Rolle der Integrationshelfer, deren Qualifikation unumstritten, die rechtliche und organisatorische Position aber wenig geklärt ist. Sie entwirft das Berufsbild im Sinne einer Erziehungs- und Bildungspartnerschaft, deren Aufgabe neben persönlicher Begleitung eines Kindes auch die Vernetzung vieler Beteiligter ist.
- Johann Horvath führt kritisch die sonderpädagogische Förderung mit ihren gesetzlichen Grundlagen – speziell den Gemeinsamen Unterricht nach Bayrischer Gesetzeslage – vor, um darauf aufbauend Bedingungen einer inklusiven Schule aus sonderpädagogischer Perspektive zu stellen. Im Fazit plädiert er für Vernetzung der allgemeinen Schulpädagogik mit sonderpädagogischen Kompetenzen, sodass Sonderpädagogik innerhalb einer Entwicklung in Richtung Inklusion nicht überflüssig wird, sondern ihren Arbeits- und Handlungsradius erweitert (S.254).
Diskussion
Im Jahr der Unterzeichnung der Un-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen erscheint das Buch zu einem Zeitpunkt, zu dem die Leitidee der Inklusion als bildungspolitischer Anspruch häufig, kontrovers und aktuell diskutiert wird. Die reichen und lebendigen Praxisbeispiele im zweiten Teil des Buches können dabei mit ihrem Erfahrungsschatz und Perspektivenreichtum sicherlich als Unterstützung und Ermutigung dort eingesetzt werden, wo Vorbehalte gegenüber dem Erkennen von Heterogenität als Ressource für das Lernen und Unsicherheiten bezüglich der Integration von behinderten Kindern in ein allgemeines, nicht sonderpädagogisches System bestehen. Damit liegt die Stärke des Buches in der mehrperspektivischen Dokumentation von Erfahrungen, die sich durchweg als Erfolgsgeschichten lesen und damit überzeugen können. Für die wissenschaftliche Perspektive ergeben sich keine wesentlich neuen Erkenntnisse. In der Diskussion um die Begriffe Integration und Inklusion wird eine Positionierung vorgenommen (Inklusive Schule) und auch in der ökosystemischen Orientierung theoretisch begründet. Die Konzentration der Fallbeispiele auf ausschließlich Kinder mit Behinderungen lässt einen wesentlichen Aspekt der Inklusion, nämlich dass es dieser über die Integration bestimmter Personengruppen hinaus vor allem um eine Änderung des Schulsystems/ der Einrichtungen geht, zeitweise in den Hintergrund treten. Die Formulierung, dass Jakob „trotz seiner durch ein genetisches Syndrom bedingten Behinderung“ eine Grundschule besuchen „darf“ (S.49) zeigt, wie wenig selbstverständlich auch hier das Verständnis des uneingeschränkten Rechts auf Bildung inkl. freier Schulwahl zu sein scheint. Gleichwohl verspricht das Buch, mit Fragen zum „guten Unterricht“, der allen Kindern in ihrer Verschiedenheit gerecht werden will, über die Integrationsthematik hinaus zu gehen (vgl. S.11).
Fazit
Das Buch liest sich als eine überzeugende Theorie-Praxis-Verbindung, die vor allem geeignet scheint, um z. B. Studierenden einen Einblick in die vielfältigen Beziehungen, Perspektiven und notwendigen Kooperationen im Rahmen schulischer Integration zu geben, um Kolleg/innen für diese zu öffnen, um Eltern zu ermutigen. Das im Vorwort formulierte Anliegen der Bestandsaufnahme und Information wird erfüllt in der Zusammenstellung vielfältiger Erfahrungen und verspricht die Weiterentwicklung eines multiprofessionellen und partizipativen Austausches.
Rezension von
Prof. Dr. Andrea Platte
Professorin für Bildungdidaktik an der TH Köln
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