Ursula Nothelle-Wildfeuer (Hrsg.): Hast Du nichts, dann bist Du nichts?
Rezensiert von Prof. Dr. Konrad Maier, 02.02.2010
Ursula Nothelle-Wildfeuer (Hrsg.): Hast Du nichts, dann bist Du nichts? Armut - Erscheinungsformen, Kriterien und Handlungsimpulse. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2009. 148 Seiten. ISBN 978-3-7841-1657-0. 19,80 EUR.
Entstehungshintergrund und Thema
Der deutsche Caritasverband hat mit seiner Armutsuntersuchung Anfang der 1990er Jahre (Hauser; Hübinger 1993) entscheidend dazu beigetragen, dass in Deutschland und in der Sozialen Arbeit das Thema Armut – wieder – wahrgenommen wurde. Das ökumenische „Kirchenpapier“ von 1997 ‚Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit‘ hat eine bemerkenswerte Diskussion um ‚soziale Gerechtigkeit‘ und den Umgang der Gesellschaft mit Armut ausgelöst; Papst Benedikt XVI. hat 2005 Armut zum Thema seiner ersten Enzyklika gemacht unter dem programmatischen Titel „Deus Caritas est“. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände leisten mit ca. einer Million hauptamtlichen Mitarbeitern einen erheblichen Teil der beruflichen Sozialarbeit, nach eigenen Angaben ist eine weitere Million ehrenamtlicher MitarbeiterInnen diakonisch/caritativ tätig. Es ist deswegen für die Soziale Arbeit (im umfassenden Sinne des Wortes) durchaus von großem Interesse, was katholische Theologie zum Umgang mit Armut sagt.
Autoren und Adressaten
Hierzu hat an der katholischen Akademie Freiburg im Jahre 1906 ein „Theologischer Studientag“ stattgefunden „Zum Verständnis von und Umgang mit Armut“. Es handelt sich um eine „Fortbildung für alle im Pastoralen Dienst tätigen Theologen/-innen“ die vom Inhaber des traditionsreichen Lehrstuhls für Caritaswissenschaft an der theologischen Fakultät Freiburg und seiner Kollegin von der „Christlichen Gesellschaftslehre“ federführend gestaltet wurde. Der schmale Band ist geschrieben für TheologInnen im Pastoralen Dienst; er ist interessant für alle, die mit kirchlicher Sozialarbeit zu tun haben und die von der (in diesem Falle katholischen) Kirche einen Beitrag zur Bewältigung der Armutsproblematik erwarten.
Inhalt
Im ersten Beitrag entwirft der Caritaswissenschaftler Klaus Baumann das imponierende Bild einer Kirche, die von den „Seligpreisungen der Armen“ im Neuen Testament über die Diakonie in den frühchristlichen Gemeinden bis zum Zweiten Vatikanum und der Enzyklika „Deus Caritas est“ von Benedikt dem XVI., dafür Sorge trägt, dass „es keine Armut derart geben (darf), dass jemand die für ein menschenwürdiges Leben notwendigen Güter versagt bleiben“. Vor dem Hintergrund der theologischen Betrachtungsweise entwirft der Caritaswissenschaftler das Bild einer Caritas, die auf Gemeindeebene, auf Verbandsebene, auf europäischer und internationaler Ebene ein dichtes Netz von Hilfe für die Armen aufgebaut hat und sich politisch für die Armen engagiert. Offen bleibt die Frage, inwiefern diese Deutung des kirchlichen Auftrags für die katholische Theologie repräsentativ ist; ebenso bleibt die Frage undiskutiert, ob und inwiefern die Praxis der Caritas den ethisch-theologischen Forderungen gerecht wird.
Einen Einblick in die Praxis caritativer Arbeit gibt der folgende Beitrag des Soziologen Johann Michael Gleich von der Katholischen Fachhochschule Köln anhand einer umfangreichen Untersuchung der Arbeit katholischer Kindergärten im Erzbistum Köln. Die Befragung der hauptamtlichen MitarbeiterInnen von ca. 500 Kindertageseinrichtungen zeigt, dass Armut in vielfältigen Formen in den Kindergärten sichtbar wird und dass die Bewältigung von Armut von den ErzieherInnen als wichtige Aufgabe des Kindergartens wahrgenommen wird. Als zentraler Beitrag der Kindertageseinrichtungen erscheint die Resilienzförderung bei den Kindern, zugleich wachsen den MitarbeiterInnen im Umgang mit den Familien vielfältige praktische Aufgaben der Hilfe zur Bewältigung von Armutssituationen zu. Dabei wird von den ErzieherInnen die Einbindung in die Kirchengemeinden und die Vernetzung mit anderen caritativen Diensten als große Hilfe erfahren.
Der Frage, wie Armut politisch bekämpft und überwunden werden kann, wendet sich die Inhaberin des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre, Ursula Nothelle-Wildfeuer, zu. Ihr Beitrag zeigt auf, wie mit der Herausbildung des Sozialstaats – nicht zuletzt unter dem Einfluss der katholisch-sozialen Bewegung – Armut nach der Überwindung der Folgen des Zweiten Weltkriegs in den 1960er Jahren zu einem zu vernachlässigenden Randphänomen geworden ist. Mit der Weiterentwicklung des Sozialstaates zum „Wohlstandssstaat“ gewann die Verteilungsgerechtigkeit unter dem Ziel „Wohlstand für alle“ immer mehr Gewicht. Inzwischen ist Armut aber in Folge der zunehmenden Arbeitslosigkeit und der Erosion der traditionellen Form von Familie wieder zu einem zentralen gesellschaftlichen Problem geworden. Ganz in der Tradition der katholischen Soziallehre wird diagnostiziert, dass die Familienpolitik allein durch die überkommenen Formen der Solidarität versagen muss und zugleich eine Arbeitslosigkeitspolitik, die die „Solidarität“ verabsolutiert, in die Irre führt. Dementsprechend werden neuere Konzepte zur Begründung des Sozialstaates kritisiert, die diesen entweder nach dem Prinzip des Egalitarismus alleine auf dem Prinzip der „Verteilungsgerechtigkeit“ aufbauen (dies wird John Rawls unterstellt) oder aber nur als „Ausdruck der kollektiven Solidarität“ deuten (Kersting). Demgegenüber wird in der Tradition der katholischen Soziallehre gefordert: „Gerechtigkeit durch Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl“. Unter Rückgriff auf den Capabality-Ansatz von Armatya Sen sieht sie das geforderte Gleichgewicht zwischen diesen Grundprinzipien in einer „Beteiligungsgerechtigkeit“. Diese muss getragen sein durch die Liebe, gefordert ist „eine wesensmäßig liebevolle, solidarische Gerechtigkeit um des Menschen Willen“. Welche gesellschaftspolitischen Perspektiven sich daraus konkret ergeben, bleibt offen, neue Antworten auf die Armutsproblematik, wie sie der österreichische Sozialethiker Büchele und der Bund der deutschen katholischen Jugend mit dem Konzept eines erwerbsunabhängigen Grundeinkommens gegeben haben, werden mit dem Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip und eine nicht näher explizierte „Beteiligungsgerechtigkeit“ verworfen.
Den Abschluss des Bandes bildet eine Darstellung der „Millenniumserklärung“ der Vereinten Nationen, die im September 2000 von der UN-Vollversammlung verabschiedet wurde. Am Beispiel der Arbeit des „Verbandes Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen“ (VENRO) und eines Projekts ‚Vollwerternährung‘ wird aufgezeigt, wie internationales kirchliches und zivilgesellschaftliches Engagement weltweit den Kampf gegen Armut führen. Auf dieser Basis wird abschließend die Armutsbekämpfung als globale Aufgabe beschworen.
Fazit
In diesem schmalen Band wird für kirchliche MitarbeiterInnen die Bekämpfung von Armut als zentrale Aufgabe von christlicher Caritas überzeugend dargestellt, zugleich wird aufgezeigt, wie die verbandliche Caritas im Bereich der Kinderarmut nachhaltige Hilfe gewährt. Nachdrücklich wird herausgestellt, dass die katholische Kirche Armut immer auch als weltweites Problem sieht. Zugleich wird deutlich, dass die christliche Gesellschaftslehre auch unter den veränderten Problemlagen an den traditionellen Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität festhält und auch unter der neuen Vokabel einer Beteiligungsgerechtigkeit keine konkreten Lösungen für die Armutsproblematik in unserer Gesellschaft sichtbar werden.
Rezension von
Prof. Dr. Konrad Maier
Website
Es gibt 7 Rezensionen von Konrad Maier.
Zitiervorschlag
Konrad Maier. Rezension vom 02.02.2010 zu:
Ursula Nothelle-Wildfeuer (Hrsg.): Hast Du nichts, dann bist Du nichts? Armut - Erscheinungsformen, Kriterien und Handlungsimpulse. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2009.
ISBN 978-3-7841-1657-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8426.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.