Thomas Keilig: Deutschland in der Prekarisierungs-Falle
Rezensiert von Prof. Dr. Michael Buestrich, 30.10.2009
Thomas Keilig: Deutschland in der Prekarisierungs-Falle. Wie "aktivierende" Arbeitsmarktpolitik die Erosion der Erwerbsarbeitsgesellschaft vorantreibt. Tectum-Verlag (Marburg) 2009. 194 Seiten. ISBN 978-3-8288-9868-4. D: 24,90 EUR, A: 24,90 EUR, CH: 43,70 sFr.
Autor
Thomas Keilig hat an der FH Mittweida Soziale Arbeit studiert. Die vorliegende Arbeit stellt die erweiterte Fassung seiner Diplomarbeit dar [1]. Der Impuls zur Veröffentlichung ergab sich für den Autor dabei insbesondere aus den wirtschaftspolitischen Ereignissen und ihrer Darstellung im Gefolge der anhaltenden Weltwirtschafts- und -finanzkrise.
Intention und Fragestellungen der Studie
Keilig will die zentralen Handlungsstrategien aktivierender Arbeitsmarktpolitik insbesondere anhand der Regelungen des Sozialgesetzbuches II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) in den Kontext der fortschreitenden Prekarisierung von Erwerbsarbeit und damit den Lebenswelten der Betroffenen stellen und zugleich einer Wirkungsanalyse unterziehen. Dabei soll überprüft werden, ob durch die Wende der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik hin zur „Aktivierung“ das Problem der Massenarbeitslosigkeit lösbar ist?
Das zentrale wissenschaftliche Erkenntnisinteresse der Arbeit lässt sich für ihn auf die folgenden Fragenkomplexe verdichten (S. 14 f.):
- Welche gesellschaftlichen Auswirkungen zieht die Umsetzung des Maßnahmenkatalogs „aktivierender“ Arbeitsmarktpolitik nach sich?
- Sind die eingesetzten Mittel (Verschärfung von Zumutbarkeitskriterien, Workfare, Ausweitung von Sanktionen etc.) zur Erreichung der als handlungsleitend propagierten Ziele (Chancengleichheit, Stärkung von Selbsthilfepotenzialen, Integration in den Arbeitsmarkt und gesellschaftliche Teilhabe der Individuen) geeignet und angemessen?
Den ersten maßgeblichen Fixpunkt seiner Untersuchung bildet die Charakterisierung der Erwerbsgesellschaft (die Herausbildung des Erwerbsarbeitssystems, seine Modernisierung einschließlich der charakteristischen Entkopplung von Wachstum und Beschäftigung). Im Anschluss daran folgen die begriffliche Klärung sowie der Versuch einer Abschätzung quantitativer und qualitativer Ausmaße der Prekarisierung von Erwerbsarbeit (z. B. durch die Erosion arbeits- und sozialrechtlicher Standards im Zuge global verlaufender Deregulierungs- und Liberalisierungstendenzen).
Die zweite Koordinate bildet die Darstellung der Transformation des Sozialstaates in aktivierender Absicht. Für Keilig knüpft die grundlegende Charakterisierung „aktivierender“ Arbeitsmarktpolitik begrifflich an eine Erörterung der Triebkräfte der sozialstaatlichen Wandlungen unter Maßgabe der Strategie des „Dritten Weges“ an. In diesem Zusammenhang werden die wichtigsten Elemente und Handlungsstrategien der „neuen Sozialstaatlichkeit“ („Stärkung der Eigenverantwortung“, Reformulierung von Zumutbarkeitskriterien und „Workfare“) betrachtet. An deren Schluss nimmt Keilig schließlich eine Verortung der Rolle der Sozialen Arbeit vor.
Inhalte
Der erste von insgesamt drei Teilen der Arbeit widmet sich der „Charakterisierung der Erwerbsarbeitsgesellschaft“. Die dazugehörigen Unterkapitel behandeln die sich wandelnde Bedeutung der Erwerbsarbeit, die Prekarität als Ausdruck eines „neuen Geistes des flexiblen Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello 2001) sowie die individuellen und gesellschaftlichen Folgen des Wandels der Erwerbsgesellschaft in ökonomischer, rechtlicher, moralischer („Individualisierung“ und „Viktimisierung“) und physiologischer (Gesundheit und Krankheit) Hinsicht. Insgesamt, so das Zwischenfazit des Autors zum ersten Teil seiner Untersuchung, begünstige die Konkurrenz um die knappen Arbeitsplätze „[…] die Erpressbarkeit der Arbeitnehmer und induziert entsolidarisierende Wirkungen. Marktregulierende Bestimmungen (z. B. Tarifverträge), die der Unterbieterkonkurrenz ein unteres Limit setzen könnten, erodieren zunehmend. Unsicherheit wird zum alles durchdringenden und beherrschenden gesellschaftlichen Strukturmerkmal.“ (S. 74 f.).
Der zweite Teil („Der Wandel des Sozialstaates“) widmet sich, nach einer kurzen Skizze des Begriffes „Sozialstaat“, ausführlich der Herausbildung und Fortentwicklung der besonderen Strukturmerkmale des „aktivierenden Sozialstaates“. Keilig beschreibt den politökonomischen Ausgangspunkt der gegenwärtig anhaltenden sozialstaatlichen Veränderungsprozesse und ihre ideologische Vorbereitung bzw. Verarbeitung (unter den Stichworten „Kostenexplosion“ und „überbordender Wohlfahrtsstaat“) als wesentliche Triebkräfte der Transformation des Sozialen in Deutschland, in Europa und den USA und damit in nationaler wie internationaler Perspektive. Weitere Unterkapitel thematisieren das System der „Sanktionen im Kontext „aktivierender“ Arbeitsmarktpolitik“ und stellen es zugleich in den Zusammenhang mit einer von ihm als folgerichtig konstatierten „Renaissance des autoritären Staates“ (S. 130 f.). Abschließend werden die mit der neuen Programmatik induzierten „Auswirkungen „aktivierender“ Arbeitsmarktpolitik“ beschrieben: Neben einer Verschärfung der Prekarisierung identifiziert der Autor diese vor allem in der „verstärkten Ausgrenzung der gesellschaftliche Entkoppelten“ und einer „Rückkehr der Klassengesellschaft“, die für ihn mit einer „Abnahme sozialer Kohäsion“ verbunden ist. So führe die Politik der „Aktivierung“ – entgegen ihren programmatischen Ankündigungen – letztlich dazu, „[…] dass der neoliberale Umbau der Arbeitsgesellschaft vorangetrieben wird und damit bereits bestehende Prekarisierungs- und Ausgrenzungstendenzen verstärkt und weiterführende gesellschaftliche „Kollateralschäden“ generiert werden.“ (S. 167 f.).
Im abschließenden dritten Kapitel seiner Darstellung kommt Keilig schließlich zu Schlussfolgerungen, die sich für ihn aus den dargestellten Entwicklungen für die Soziale Arbeit ergeben. Diese lassen sich in der Forderung zusammenfassen, dass Soziale Arbeit in Zukunft „wieder politisch werden“ (S. 176) müsse: Wenn sie sich weiterhin dem erkenntnisleitendem Interesse von Emanzipation (Negt) und ihrem Kernanliegen, der sozialen Gerechtigkeit (Pfeifer-Schaupp), verpflichtet fühle (S. 170), dann müsse sie in diesem Sinne auch „das Wort ergreifen“, indem sie politische Aufklärungs-, Aushandlungs- und Gestaltungsprozesse anrege, Alternativen zur Erwerbsgesellschaft (vor-)denke und sich dafür in die entsprechenden politischen und wirtschaftlichen Debatten einmische, wie es inzwischen auch andere Vertreter der Disziplin (wieder) propagieren. [2] Dem möglichen Idealismusvorwurf – also der Frage, ob er der Sozialen Arbeit als sozialstaatlich und -politisch nachgelagertem „Betreuungs-, Befriedungs- und Reparaturbetrieb“ damit theoretisch und praktisch nicht etwas viel zumute – begegnet der Autor dabei realistisch-selbstkritisch mit der Anmerkung, dass etwa Maßnahmen zur Regulierung des Finanzmarkt(kapitalismus), wie er sie für notwendig befindet, „vermutlich außerhalb des direkten Handlungsspielraumes Sozialer Arbeit“ (S. 176) liegen.
Fazit
Die Stärke des Bandes ergibt sich weniger daraus, dass er wesentlich Neues zum Thema liefert. Sie liegt vielmehr darin, dass es Keilig gelingt, die Voraussetzungen, Grundlagen und Verlaufsformen der Aktivierung innerhalb der Arbeitsmarktpolitik historisch-systematisch aufzuarbeiten und darüber hinaus begrifflich in die vorherrschenden sozialstaatlichen Veränderungsprozesse der letzten Jahre in nationaler wie internationaler Perspektive einzuordnen.
Nützlich und empfehlenswert ist der Titel vor diesem Hintergrund deshalb nicht nur für Einsteiger in die „Aktivierungs-“ und „Prekarisierungsdebatte“, sondern auch für diejenigen, die sich bisher eher mit Einzelaspekten beschäftigt haben und mit dem vorliegenden Titel nun die Gesamtentwicklung noch einmal in angemessen komprimierter und zugleich gut lesbarer Form nachverfolgen können.
[1] Dies mag auch erklären, warum die verwendete Literatur im Wesentlichen aus der Zeit vor 2008 stammt.
[2] Vgl. dazu z. B. Lallinger, Manfred/Rieger, Günter (Hg.) (2007): Repolitisierung Sozialer Arbeit, Stuttgart, die damit – wenn auch mit einem anderen Begriffsinstrumentarium und anderer inhaltlicher Zielsetzung – Argumentationslinien älterer Theorieansätze (vgl. etwa Hollstein, Walter; Meinhold, Marianne (Hg.) (1973): Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen, Frankfurt am Main und Khella, Karam (1982): Sozialarbeit von unten, Hamburg) zumindest teilweise wieder aufnehmen.
Rezension von
Prof. Dr. Michael Buestrich
Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum
Website
Es gibt 35 Rezensionen von Michael Buestrich.
Zitiervorschlag
Michael Buestrich. Rezension vom 30.10.2009 zu:
Thomas Keilig: Deutschland in der Prekarisierungs-Falle. Wie "aktivierende" Arbeitsmarktpolitik die Erosion der Erwerbsarbeitsgesellschaft vorantreibt. Tectum-Verlag
(Marburg) 2009.
ISBN 978-3-8288-9868-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8445.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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