John Gray: Politik der Apokalypse
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.11.2009
John Gray: Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt.
Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2009.
360 Seiten.
ISBN 978-3-608-94114-2.
22,90 EUR.
CH: 39,40 sFr.
Originaltitel: Black Mass. How Religion Led the World into Crisis. Aus dem Englischen von Christoph Trunk.
Moderne Revolutionen und revolutionäre Bewegungen sind Fortsetzungen der Religion mit anderen Mitteln
Religion ja oder nein? Ist der Mensch ein religiöses Wesen oder ein aufgeklärtes Selbst? Vermutlich seit es Menschen gibt, die über den Sinn des Lebens und des Weltendaseins reflektieren, ist die Kontroverse virulent: Gibt es Gott (oder Götter) oder nicht? Und soll menschliches Streben sich danach richten, Gott und den göttlichen Mächten ähnlich zu werden, was bedeutet, Gott als das Gute zu betrachten? Der griechische Mystiker Empedokles aus Akragas (ca. 495 – 435 v. Chr.) sah das so: „Selig der Mann, der einen Reichtum göttlicher Weisheit erwarb; elend aber der, der finstere Wahngedanken über die Götter hegt“ (vgl. dazu: Wilhelm Capelle, Hrsg., Die Vorsokratiker, Kröner Verlag, Stuttgart 2008, S. 201).
Autor und Thema
Der englische Historiker für Europäische Ideengeschichte John Gray stößt nicht in das Horn derjenigen, die mit der These „Gott ist tot“ bzw. „Es gibt keinen Gott“, den Menschen vorwerfen, sie betrieben einen „Gotteswahn“ (vgl. dazu: Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 2007). Er setzt sich vielmehr damit auseinander, dass die Menschen in der Moderne nicht weniger abergläubisch seien als die des Mittelalters. Das ist erst einmal eine mutige These; gehen wir doch spätestens seit der Aufklärung davon aus, dass der Mensch mit seinem Verstand in der Lage ist, sich aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit – und damit auch der Abhängigkeit von Mächten, die jenseits seines Verstandes liegen – zu befreien. Er begründet seine Feststellung damit, dass die Politik der Moderne ein Kapitel der Religionsgeschichte sei. Er erkennt, dass sich alle „Heils“- und utopischen Versprechungen der politischen Ideologien, wenn sie auf Ausschließlichkeits-, Alleinvertretungsansprüchen und revolutionärem Denken beruhten, nach religiös-apokalyptischen Mustern aufgebaut seien; und zwar sowohl der Nationalsozialismus, der Nationalismus, Konservatismus, Kommunismus , Kapitalismus, wie auch der Islamismus. Es seien die apokalyptischen Glaubenssysteme und –auffassungen, in denen aus dem chaotischen Anfang ein heilserwartendes Ende und dazwischen utopische Versprechungen platziert würden und nach selbst definierten Vorstellungen von Gut und Böse gegliedert seien. Als eine der Weichenstellungen für millenaristisches (christliches) Denken sieht Gray den Utopismus, der sich darin zeige, nach einem Zustand der Harmonie zu streben und sich damit realistischen und wirklichkeitsechten Situationen zu entziehen: „Utopien sind Wunschträume kollektiver Erlösung und Alpträume des Erwachens“.
Inhalt
Bereits damit outet sich John Gray als Realist. Nationalsozialismus wie Kommunismus, wie auch der radikale Islam, identifiziert der Autor als „Ausgeburten der westlichen Moderne“. Die Fortführung dieses Denkens mündete spätestens seit den späten 1980er Jahren in die Illusion und Utopie, „es sei ein die ganze Welt umspannendes, einheitliches wirtschaftliches und politisches System im Entstehen begriffen“. Die verschiedenen Modernisierungstheorien, in denen sich ein Gesellschafts- und Mentalitätsbild widerspiegelt, das geprägt ist von der Vorstellung, dass sich die Menschheit, bestimmt von einem „Aufklärungsoptimismus“, zu einer universellen Zivilisation entwickeln würde, die zudem bestimmt sei von der Annahme, dass die westlichen Vorstellungen einer liberalen Demokratie die Leitbilder dafür wären, erwiesen sich als Trugschluss. Am Beispiel des britischen „Thatcherismus“ zeigt John Gray auf, wie schnell (und unbeabsichtigt!) sich der politische Weg vom Konservatismus zum Utopismus vollziehen kann, und wie gleichläufig sich die Fortführung von neoliberalen und neokonservativen Denk- und politischen Steuerungssystemen auch bei parteipolitischen, scheinbar konträren Auffassungen, wie etwa in den folgenden Blair-Regierungsjahren darstellt. An zahlreichen Beispielen der britischen und globalen Politik, etwa an der Einschätzung, dass der Krieg, etwa im Irak, ein letztes Mittel sei, um das Schlimmste zu verhindern, macht der Autor deutlich, dass hinter den Strategien der westlichen politisch Agierenden, ob bei Blair oder bei Bush, die neokonservative Denkströmung stünde: „Eine Kombination aus einfältiger, aber tief empfundener Religiosität und einem militanten Glauben an den Menschheitsfortschritt“. Die verräterischen Parolen von fundamental-religiös bestimmten Politikern überall in der Welt, wie „Sendungsbewusstsein“, „Erweckung“, „Gestalter der Weltgeschichte“, „Brüderbewegung“…, verdeutlichen, welche Wurzeln im politischen Denken und Handeln dabei vorliegen; es sind neokonservative Wertvorstellungen, die sich aus rechten wie linken Doktrinen, bis hin zu nihilistischen Paradigmen, etwa bei Leo Strauss, zusammen setzen. Der dabei entstehende „missionarische Liberalismus“ zeigt sich, wie Gray eindruckvoll und ausführlich erläutert, im Entstehen und Rechtfertigen des Irak-Kriegs durch die westlichen Mächte, als Vorwand für die Bekämpfung des Terrorismus. Aber der „Krieg gegen den Terror ist nicht zu gewinnen“, weil unter Terrorismus vielfältige Formen von „asymmetrischer Kriegsführung“ unterschieden werden müssen. Die „Post-Apokalypse“ im lokal- und global-politischen Denken und Handeln ist angebrochen. „Der Kreislauf, in dem die Weltpolitik immer wieder unter den Einfluss säkularer apokalyptischer Mythen geriet, scheint vorerst durchbrochen“. Doch was kommt danach? Nach Gray sind es „die alten historischen Muster, die herkömmliche Religion“. Was aber soll folgen? Hier bezieht sich John Gray auf Machiavellis Einsicht, „dass Regierungen ihre Ziele in einer Welt verfolgen müssen, in der es immer Interessengegensätze und Konflikte geben wird und die nie weit vom Kriegszustand entfernt sind“. Was bleibt? Es bedarf eines politischen Realismus, der basiert auf der geistigen Disziplin und einer Kultur, der das psychische und physische Wohlergehen der Menschen über alles geht. Und die von dem Bewusstsein und der Aufmerksamkeit bestimmt sind, es nicht zuzulassen, wie die zu werden, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen (George F. Kennan). Das bedeutet freilich auch zu erkennen, dass „es nicht den einen richtigen Weg gibt, Konflikte zwischen universell gültigen Wertvorstellungen beizulegen“. Indem Gray an dem gängigen, ja sakrosankten Menschenbild zweifelt, dass wir Menschen „zwar von Natur aus gutherzige Wesen sind, aus unerfindlichen Gründen aber dennoch auf eine Geschichte von Gewalt und Unterdrückung zurückblicken“, setzt er einen Kontrapunkt zu den utopischen (unrealistischen) Vorstellungen eines aristotelischen Menschenbildes, dass der Mensch Anteil am unvergänglichen und göttlichen Geist habe und deshalb sein Denken und Tun von Natur aus gütig, friedfertig und vernünftig sei. „Wir müssen akzeptieren, dass wir die größten Unzulänglichkeiten und Fehler des menschlichen Wesens niemals ausräumen, sondern nur Tag um Tag abmildern und eindämmen können“. Diese Einsicht habe nichts mit Fatalismus zu tun, und Resignation ist nicht angesagt; vielmehr komme es darauf an, Politik, als gesellschaftliches Handeln, nicht weiter als „Experimentierfeld von Weltverbesserungsprojekten“ zu missbrauchen und als Vehikel zur Menschheitsbeglückung zu visieren. Es bedeutet auch nicht, Gläubigkeit gegen Ungläubigkeit auszutauschen, Religion gegen Nihilismus auszuspielen. „Die dringlichste Aufgabe unserer Gegenwart besteht darin, zu akzeptieren, dass Religiosität sich nicht durch Reduktion auf andere Phänomene wegerklären lässt“.
Fazit
Bei allem Respekt und der Anerkennung über die Denk- und Argumentationsleistung John Grays und seiner Kritik an der Mythen- und religiösen Stereotypenbildung im politischen Denken und den Politik-Konzepten – seine Auseinandersetzung mit den säkularisierten und fundamentalistischen Spielarten religiöser Überzeugungen und deren Grundlegungen und Wirkungen auf die Politik kommen mit einem allzu vagen „Sowohl - als auch“ daher. Die Kritik an den utopischen Modellen und Erzählungen der politischen Menschheitsgeschichte mündet zwar in die Forderungen nach einer lokalen und globalen Realpolitik; aber die konkreten Beispiele für realpolitisches Handeln erscheinen dem Rezensenten wiederum vielfach utopisch zu sein. Trotzdem: Das scharfsinnige Plädoyer für eine moderne und pragmatische (?) Realpolitik kommt zur rechten Zeit, angesichts der deutlichen gesellschaftlichen Tendenzen, die Ohnmachtserfahrungen in den globalpolitischen Auseinandersetzungen durch Mythenbildung und populistisch-religiöse und esoterische Sehnsuchten einzutauschen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 14.11.2009 zu:
John Gray: Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2009.
ISBN 978-3-608-94114-2.
Originaltitel: Black Mass. How Religion Led the World into Crisis. Aus dem Englischen von Christoph Trunk.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8457.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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