Gunther Klosinski: Grenzen setzen, erfahren, überschreiten
Rezensiert von Prof. Dr. Rainer Treptow, 11.03.2010

Gunther Klosinski: Grenzen setzen, erfahren, überschreiten. Zur Bedeutung von Grenzen im Kindes- und Jugendalter.
Die Graue Edition
( Zell-Unterentersbach) 2009.
330 Seiten.
ISBN 978-3-906336-52-7.
24,00 EUR.
Die graue Reihe - 52.
Thema
Wenn der langjährige Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Tübingen im Jahr seiner Emeritierung eine Sammlung von zweiundzwanzig „Essays“ veröffentlicht, so kann dies getrost als Ausschnitt aus der Summe seiner Berufserfahrungen gelten. Suchte man eine Formel, die bündig zusammenfasst, womit Psychiater es zu täglich zu tun bekommen, so könnte sie im Titel des Buches von Gunther Klosinski zu finden sein: es ist der Umgang von Menschen mit Grenzen, seien sie materieller, ideeller oder imaginärer Art. Aus vielerlei Gründen werden sie zu Patienten - weil sie unter der Strenge von Grenzen leiden; weil sie Grenzen verloren haben oder die „borderline“ überschreiten; vor allem, weil sie Unterstützung darin benötigen, Grenzlinien zu finden, zu halten, zu respektieren. Zugleich lassen Gunter Klosinskis Beiträge erkennen, dass sich die Grenzfrage nicht allein auf Patienten begrenzen lässt. Sie sei vielmehr auf das Engste mit den Prozessen von Ent- und Begrenzung in den sozialen Strukturen der Gesellschaft verwoben. Sie entstehe aus den Widersprüchen von Konsumförmigkeit und Komplexitätszuwachs; aus der Erwartung, dass Eltern und Kinder Überfülle und Mangel, Legalität und Legitimität, Gefühl und Selbstbeherrschung in ihre Identitätsarbeit integrieren sollen, aber so, als sei das die einfachste Sache der Welt.
Sie ist es aber nicht. Durch beides, durch die Patienten in ihren Anstrengungen, soziale Herausforderungen individuell zu bewältigen, und den im Hintergrund erkennbaren Verwerfungen, wird der handelnde Arzt selbst in seinen eigenen Grenzkonstruktionen berührt, gefordert, mitunter dramatisch erschüttert. Klosinski lässt diese Wahrnehmung zu, die künstliche Rollenförmigkeit professionellen Handelns wird als vereinfachende Begriffsprothese der Sozialwissenschaft durchschaubar. Wie stark die gesamte Persönlichkeit des Psychiaters involviert wird, der sich nicht hinter bloße Medikamentierung und Abarbeitung von Therapieprogrammen verschanzen will, zeigt auch die Wahl der literarischen Gattung der Beiträge: in der Form des Essays sucht Klosinski die behutsame Abweichung vom eingespielten Duktus akademischer Publikation. Der Mehrdimensionalität menschlicher Wirklichkeitserfahrung durch die Mehrdimensionalität eines natur- und geisteswissenschaftlichen Zugangs gerecht zu werden - dies ist seine erklärte Absicht. Sie wird untermauert durch ein starkes Bekenntnis zur Interdisziplinarität, zur „osmotischen Durchlässigkeit“ zwischen Psychiatrie und Pädagogik, Neurowissenschaft, Justiz, Religion und Kunst. Der Autor betont die Übertretung der professionellen Rolle (oder erweitert er sie nur?) durch Einfügung von sechzehn selbst gestalteten Fotocollagen. Sie sind mehr als gefällige Dekoration, ihre eigene ästhetische Struktur wartet auf Entzifferung.
Aufbau und Inhalt
Die Beiträge sind in sechs Kapitel gebündelt, die meisten enthalten Empfehlungen, in welche Richtung persönliche und fachliche Haltungen und Handeln zu ändern wären.
Das erste Kapitel steckt die gesellschaftliche Rahmenbedingungen ab, die das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen im Horizont „entgrenzter Medienlandschaft“ mit einer Frage verbindet, wie sie die Boulevard-Presse stellen könnte „Mangel im Überfluss: macht die Gesellschaft unsere Kinder kaputt?“ – um dann mit einer Reihe von empirischen Untersuchungen für Sachlichkeit zu sorgen: zu Trennungs- und Scheidungsraten, zur Perspektivlosigkeit von Schülern aus Hauptschulen und zum Erwartungsdruck von Eltern an die Leistungsbereitschaft ihrer Kinder. Dabei ermuntert er die Erziehungsverantwortlichen, doch selbst in einem Bereich mehr Leistung zu zeigen, den der Verfasser so beschreibt: „Sich-Zeit-Nehmen, zuhören, Sich-Austauschen und Teilhaben sind Voraussetzungen, damit Sinnhaftigkeit, positives Selbstbewußtsein und ein positives Selbstkonzept entstehen können“ (S.24/25). Es sind klare Ansagen, wo der Psychiater die Bedarfslagen in den familialen Lebenswelten sieht. Sie gelten auch für die stets auf‘s Neue enfachte Debatte zur Bedeutung von Video- und Gewaltdarstellungen für Kinder und Jugendliche. Nicht zuletzt die Serie von Amokläufen in Schulen bietet dem Autor Anlass genug, über den Stand der Medienwirkungsforschung und der kontroversen Theorieansätze zu informieren, teils um zu entdramatisieren, teils um Gefahren zu benennen, die durch Medienmissbrauch, übermäßigen Konsum und „Überflutung“ durch visualisierte Geschehnisse der Grausamkeit entstehen. Bemerkenswert sind Klosinskis Überlegungen zur Rolle der Medienaneignung als Initiationsrituale Jugendlicher und zur Forderung nach Medienerziehung und Medienethik. Geschickt bringt der Autor eine Kritik an fordistischen Prinzipien des Wissenschaftsbetriebs in einem kurzen, das Kapitel beschließenden Aufsatz über „Vielfalt der Menschenbilder und entgrenzte Zeitgeister“ (S.42f) unter, in dem er die Durchlässigkeit der Psychiatrie zu andern Disziplinen gegen eine biologistisch-medikalistische Verengung und Abschottung fordert und verteidigt. Denn auch hier sieht Klosinski die Ausprägung eines Zeitgeistes, der in der Gesellschaft allgemein an Boden gewonnen habe und auch die Sinnsuche von Jugendlichen in die Schere von Leistungszwang, Selbstwertschwankungen und Unsicherheit bringe. Beinahe unzeitgemäß beharrlich hält der Psychiater am Begriff der Seele fest, wohl wissend, welche anderen Konstrukte erheblich im Schwange sind. Er konturiert damit „Anschlussfähigkeit“ an Religionswissenschaft und Psychoanalyse, verpflichtet sich also einem wissenschaftstheoretischen, therapeutischen, ja weltanschaulichen Verständnis gleichermaßen, das sich über wiederkehrende Reminiszenzen zu religiösen Fragestellungen durch viele Beiträge hindurchzieht. Kleine Ausflüge in die - vor allem griechische - Mythologie spielen auf die metaphorische Tradition eines Sigmund Freud oder C.G. Jung an, haben indessen meist illustrierenden Charakter.
Das zweite
Kapitel „Grenzüberschreitungen im Lebenslauf“
nimmt teils zuvor angestimmte Themen wieder auf - Initiation, Moral,
Spiel –, vertieft und erweitert die Auseinandersetzung. Eine
zentrale Frage aller menschlichen Entwicklung ist die nach der
Wahrnehmung und der Unterscheidung von Gut und Böse, eine
Alltagsfrage des Psychiaters zugleich, der, wie die eindrucksvollen
Einblicke aus Klosinskis eigener Gutachtertätigkeit
belegen, immer auch nach dem angemessenen Grenzbewusstsein im
grenzüberschreitendem Handeln der jugendlichen Adressaten und
ihrer Familienangehörigen suchen muß. Diagnostik und
Therapie haben sich an den hier vorgestellten Bindungs- und
Ablösungstheorien, an Theorien des Spiels und der
Übergangsobjekte (z.B. Donald Winnicott) zu orientieren. Die
Nüchternheit, mit der Klosinski diese Ansätze
diskutiert, steht in interessantem Kontrast zu – nicht weniger
kühlen, aber packend-anschaulicheren – Auseinanderlegungen
von problematischen, ja pathogenen Strukturen im „asymmetrischen
Eltern-Kind-Verhältnis“. Was unter dem Titel
„Stellvertreterproblematik“ über zur „Notwendigkeit
und zu den Risiken der Identifikation, Idealisierung, Delegation und
Parentifzierung“ abgehandelt wird, ist nichts Geringeres als
eine verdichtete Aufarbeitung interpsychischer Dynamiken, die sich
besonders im Gezerre von Trennungs- und Scheidungs-, aber auch in
Adoptionsverläufen auf mitunter tragische Weise bemerkbar
machen. Dabei werde „das Problem der Einzelkinder und ihre
‚Allein-Stellvertretungspflicht‘ gegenüber ihren
leiblichen Eltern (…) eine der Herausforderungen in den
nächsten Jahrzehnten sein“ (S. 95)
Ebenso anregend ist der Essay über
den Mangel und die Substitution von gesellschaftlich vorgesehenen
Initiationsriten für Jugendliche in den westlichen
Gesellschaften. Kaum zufällig scheint hier der Ort im Buch
gewählt, an dem Klosinski die erste Hälfte seiner in
Farbdruck abgebildeten Fotocollagen einsetzen lässt. Die
Archaik der Initiation wird nämlich aus kulturanthropologischer
Sicht in Erinnerung gerufen und auf moderne Abrenzungs- und
Symbolisierungspraktiken angewendet – unterstützt durch
Bildmontagen, die durchweg scharf kontrastiende Gestaltungselemente
auffallen. Die Arbeit „Baumstumpf, die Initiation vor Augen“ zeigt vor einem ausgehöhlten Stumpf, in dem in dunklem Orange ein heruntergefallenes Blatt steckt, das tätowierte Gesicht eines Indios, der aus dem Amazonasgebiet stammen könnte. Es ist Verletzung als kultureller
Körperausdruck, der nicht mehr rückgängig zu machen
ist, soziale Zugehörigkeit und Abgrenzung für immer
signalisierend – Initiation eben. Regelmäßig werden
die Maserungen sperrigen Holzes, die sich um ein Astloch krümmen
und verdichten, als mächtige Projektionsfläche gewählt.
Vor ihr agieren - im Maßstab verkleinerte - Figuren, als
stünden sie vor der Erhabenheit einer geheimnisvollen Kraft: „Am Nabel des Lebens“, „Kampfansage oder Versöhnung“ heißen die Szenen. Oder es sind Gegenstände: „Ring, einen Riss scheinbar verbindend„; organische Teile: der Kopf einer Ziege - „Trophäe“ - die aus einem Riss im Holz herausragt. Klosinski sucht das Spiel durch Verrätselung, die Verblüffung durch Zusammenstellen von Getrenntem, die die Betrachter zu genauem Hinsehen zwingt. Nie unübersichtlich in der Collage erinnern die Arbeiten entfernt an den Surrealismus eines Max Ernst oder Salvadore Dali. Eingeladen, auf Inhaltsbezug zum Buch zu spekulieren, könnte man in seinem Plädoyer für eine „Mentorfunktion“ (S.114), die Kinder- und Jugendpsychiater heute für ihre Adressaten übernehmen sollen, eine professionelle Aufgabe sehen: die der Überschreitung des faktisch Getrennten. Und deren Prinzip wird im bildlichen Ausdruck seiner Collagen veranschaulicht, es entsteht im Auge des Betrachters.
Das dritte Kapitel wendet sich den psychiatrischen und psychopathologischen Aspekten zu, die aus Sicht des Psychiaters aus dem „Scheitern an der Grenze“ (S.117) entstehen. Zwangserkrankungen, Suizidalität, Selbstverletzendes Verhalten, Psychosen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen bilden den klassischen Kranz von Befunden, zu denen der Verfasser immer sowohl Grundlagenwissen beisteuert, aktuelle und historische Reminszenzen herstellt, empirische Untersuchungsbefunde und therapeutische Perspektiven anbietet. Referenzpunkte sind in der Hauptsache das Identitätskrisenkonzept, coping-theoretische Ansätze sowie multifaktorielle Erklärungsmodelle. Sehr eindrucksvoll sind die Fallbeispiele, etwa zur Selbstverletzung Jugendlicher, die als symbolische Tathandlung im Kontext von Autonomiegewinn und Verstrickung in emotionale Abhängigkeit zu elterlichen Bezugspersonen interpetiert wird; oder zu den dramatischen Entwicklungen in posttraumatischen Belastungsstörungen, wie sie durch Erfahrungen extremen Leids durch Katastrophen oder Folter entstehen; nicht minder seine scharfsinnige Analyse von Angstsymptomen einer Fünfzehnjährigen, die deren komplexe Symbolwelt aufschlüsselt und den Verlauf einer erfolgreich verlaufenden ambulanten Therapie durchsichtig macht. Hier gelingt dem Verfasser einmal mehr, die Grenz- und Grenüberschreitungsproblematik in Richtung auf eine gelingendere Lebensführung als anstrengende Arbeit beider Beteiligter, Therapeut und Adressatin, nachvollziehbar zu machen.
Intensiv vertieft werden die „Grenz- und Extremerfahrungen“ dann im vierten Kapitel, die für das Straf- und Familienrecht wichtig werden. Die gesellschaftliche Relevanz psychiatrischer Forschung, Diagnose und Therapie wird am Beispiel sexueller Missbrauchserfahrungen in der Familie auch denjenigen deutlich, die der Psychiatrie noch immer mit Klischees entgegentreten. Verdienstvoll ist die schlichte Zusammenstellung des heutigen Wissensbestandes über Formen und Hintergründe des Missbrauchs, über problematische Verhaltensweisen und Bewältigungsversuche, die Klosinski gibt und den er vor allem im Blick auf angemessene Verhaltensmöglichkeiten sichert. Zwei wiederum besonders markante Fallbeispiele im nächsten Aufsatz bilden die Geschichte einer Mutter-Mörderin und eines Brandstifters. Deren Psychodynamik rekonstruiert zu haben, kann als nachdrückliches Lehrbeispiel für Kasustik bezeichnet werden. Denn hier ist zu studieren, was sich zwischen der „Affektlogik“ (Luc Ciompi) über jahrelange Interaktionsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern hinweg aufschichten kann. Im Gefüge von Macht, Kontrolle, Begehren Selbständigkeitsstreben und Verführung macht sie eine Radikalität möglich , für die die Sensationspresse nur den Vordergrund kennen will, Jurisprudenz und Psychiatrie aber den Hintergrund zu rekonstruieren haben.
Das fünfte Kapitel widmet Klosinski als Experte für religiöse Aspekte in der Bewältigung kindlichen, pubertären und adoleszenten Erfahrungsgewinns den Grenzüberschreitungen in spirituellen Bereichen. Im Anschluss an Friedrich Schweitzer und Andreas Feige spricht er sich für eine Anerkennung der religiösen Sinnbedürfnisse und für eine religöse Erziehung mit Augenmaß aus. Deren Aufgabe besteht in einer, wie er mit Karl-Ernst Nipkow fordert, „lebensbegleitenden Identitätshilfe“ (S.253). Diese habe weit von Doktrinierung entfernt zu sein, Orientierungsangebote ohne Bevormundung zu machen. Entsprechendes gilt für die Unterstützung bei jener Urteilsbildung, die religiösem Glaubenswandel (Konversion) vorangeht. Er unterscheidet eine Reihe von „Konversionsformen“ und macht weiterführende Vorschläge zur Bewältigung von Sinnkrisen Jugendlicher, die in ihrer Neuorientierung bei Fragen des Glaubens sich in verhängnisvolle Verstrickungen verlieren können.
Das letzte Kapitel ist ganz der Erläuterung zweier Therapiemethoden vorbehalten, der Kunsttherapie und der Bibliotherapie. Beide zehren von der Überzeugung des Verfassers, dass die therapeutische Kraft ästhetischer Gestaltung, wenn sie denn nur auf methodisch angemessene Weise die Lebensthemen der Adressaten aufgriffe, ein bislang zu wenig ausgeschöpftes Reservoir psychiatrischer Behandlung darstellt. Dass dieser Zugang spätestens seit den kulturtheoretischen Zugängen Sigmund Freuds und Bruno Bettelheims („Kinder brauchen Märchen“) einen Ort hat, zeigt der Autor in einem Beitrag zu „Tabu und Tabubruch im Märchen“. Kinder sind immer schon ästhetisch Gestaltende. Genau an dieser Stelle des Buches wartet Klosinski mit dem zweiten Teil seiner Fotomontagen auf, die Verbindungs- und Riss-Problematik bleibt Thema: „Weltengürtel“, „Schwert, einen Riss überbrückend“, „Tänzer über den Wassern am Morgen“, „Kauernde Person“ und als letztes „Balance der Freiheit“ künden von Anstrengungen, das Gleichgewicht zu halten oder es zu gewinnen. Die Arbeiten korrespondieren auf das Beste mit dem vom Verfasser erläuterten Prinzip der Focus-Arbeit, bei dem Kinder ermuntert werden, Schlüsselbegriffe ihrer Welt- und Selbstsicht literarisch immer stärker zu umkreisen - bis sie zu sich selbst kommen.
Fazit
Aus sozialpädagogischer Sicht macht dieses ungewöhnliche Buch ein Verständigungsangebot. Der Psychiater „outet“ sich selbst als Grenzgänger, dem die professionelle Logik seiner eigenen Disziplin sehr klar ist - und die gerade deshalb auf Verbindungen nach Außen angewiesen ist, um der behandelten Kinder und Jugendlichen wegen, aber nicht zuletzt auch um der eigenen Balance wegen - vielleicht gar der Psychiatrie insgesamt . Hätte er nicht bereits durch jahrzehntelange Praxis interdisplinärer Zusammenarbeit bewiesen, wie ernst sie ihm ist, so wäre dieses Buch mindestens als Aufforderung an die jüngere Generation zu verstehen, die Einladung selbstbewusst-kritisch anzunehmen.
Rezension von
Prof. Dr. Rainer Treptow
Universität Tübingen, Institut für Erziehungswissenschaft
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