Jörg-Michael Wolters, Albert Fußmann (Hrsg.): Budo-Pädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Tischner, 09.11.2009

Jörg-Michael Wolters, Albert Fußmann (Hrsg.): Budo-Pädagogik. Kampfkunst in Erziehung, Theapie und Coaching.
ZIEL Verlag
(Augsburg) 2008.
264 Seiten.
ISBN 978-3-940562-11-1.
D: 19,80 EUR,
A: 20,40 EUR,
CH: 35,00 sFr.
Reihe: Praktische Erlebnispädagogik.
Thema
Die ostasiatischen Kampfkünste wie Judo, Aikido, Karate, Jiu Jitsu, Kung Fu und Taekwondo erfreuen sich auch in unseren Breiten einer großen Beliebtheit. Meist werden sie ausgeübt, um sich körperlich fit zu halten und im Falle von Angriffen wirksam selbstverteidigen zu können. Weniger bekannt hingegen ist, daß diese Kampfkünste auch im Bereich der Sozialen Arbeit in zunehmendem Umfang Anwendung finden. Dabei reicht das Spektrum ihrer Nutzbarmachung von der sozialpädagogischen Arbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen und sozial unsicheren Kindern über die Arbeit mit Psychiatriepatienten, behinderten Menschen bis hin zu Schülern, die besondere Schwierigkeiten beim Erlernen von Lesen und Rechtschreibung haben. Wer mit ostasiatischen Kampfkünsten bisher martialisch-brachiales Gebaren und Gladiatorenattitüde verbunden hat, der wird im vorliegenden Buch gründlich eines Besseren belehrt.
Herausgeber
Jörg-Michael Wolters, Dr.phil., ist Erziehungswissenschaftler, Sozialpädagoge und Sozialtherapeut. Als Karate-Do-Lehrmeister ist er Träger des Hanshi-Titels, des 6. Dan Karate-Do sowie des 6. Dan Kempo. Wolters ist Begründer der Budo-Pädagogik und Fachlicher Leiter der Weiterbildung in dieser Disziplin.
Albert Fußmann, Diplom-Pädagoge, ist Kulturpädagoge und Direktor des Instituts für Jugendarbeit Gauting.
Entstehungshintergrund und Aufbau
Das Buch enthält als Einführung zunächst einige grundlegende Beiträge zum Thema Budo-Pädagogik, die von den „Vätern“ dieser Disziplin, von Ausbildungsleitern und an der Weiterbildung zum Budo-Pädagogen mitwirkenden Fachreferenten verfaßt wurden. Den Hauptteil des Buches bilden insgesamt neun aus Abschlußarbeiten von Weiterbildungsteilnehmern hervorgegangene Fachartikel, die auf eindrucksvolle Weise die Spannbreite der Anwendungsmöglichkeiten der Budo-Pädagogik innerhalb der Sozialen Arbeit dokumentieren. Zwei abschließende Beiträge über Perspektiven der Budo-Pädagogik, eine Liste mit Literaturhinweisen und Internetadressen und Kurzportraits der beteiligten Autoren runden den Sammelband ab.
Inhalt
Mit „10 Jahre Zusatzausbildung ‚Budo-Pädagogik‘“ eröffnet Albert Fußmann im Rahmen eines „Vorwort[s]“ den Sammelband. Hier hält er Rückschau auf bereits fünf erfolgreiche Durchgänge der berufsbegleitenden Zusatzausbildung „Budo-Pädagogik“, die vom Institut für Jugendarbeit in Gauting in Kooperation mit dem Institut für Budo-Pädagogik in Stade für pädagogische und therapeutische Fachkräfte angeboten wird.
Jörg-Michael Wolters schließt sich mit einer Erläuterung des Begriffs der Budo-Pädagogik an. Diese basiere „auf dem professionellen und zielgerichteten Einsatz fernöstlicher Kampf- und Bewegungskünste (Budo) in der sozialen, pädagogischen und therapeutischen Arbeit zur systematischen Förderung der Persönlichkeit und des Sozialverhaltens mit Sondergruppen wie z.B. gewalttätigen Kindern und Jugendlichen, Geistig- und Körperbehinderten, Straftätern, Mißbrauchsopfern oder Drogenabhängigen.”
Im darauffolgenden mit „Einführung“ überschriebenen Teil des Buches geht Wolters auf „Wesen und Wirken der Kampfkunst in Pädagogik und Therapie“ ein. Hier stellt er insbesondere die Anfänge der Budo-Pädagogik zum Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre im Rahmen des Anti-Aggressivitäts-Trainings, ihre konzeptionelle Weiterentwicklung zu einem Kampfkunst-Weg zum „Friedvollen Krieger“ sowie Überlegungen zum Thema Professionalität dar. Besonderen Wert legt der Autor zu Recht auf die Feststellung, daß Budo – anders als im Westen unter dem Eindruck der hiesigen Sportideologie oft mißverstanden – sich nicht auf seine technischen Aspekte im Sinne des Siegenwollens über einen Gegner erschöpft, sondern wesentlich und zentral einen spirituellen Weg (Do) der Selbst-Erfahrung, Selbst-Erkentnnis und Selbst-Erziehung miteinschließt. In diesem Zusammenhang legt Wolters die geistigen Wurzeln des Budo (Zen-)Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus und Shintoismus dar, die auch das ethische Fundament und ordnungstiftende Regeln einer Etikette des höflichen Umgangs miteinander beinhalten. Dieser umfassende persönlichkeitsbildende Charakter des Budo mache seine besondere sozialpädagogische Relevanz beispielsweise für Jugendstrafvollzugs- und Maßregelvollzugsanstalten, Einrichtungen für Drogentherapie, Kinder- und Jugendheime sowie psychiatrische Krankenhäuser aus.
In seinem anschließenden Beitrag stellt Manfred Huber die “Erlebnispädagogik als Nachbardisziplin der Budo-Pädagogik” dar. Hier arbeitet er sowohl die Gemeinsamkeiten – beide Disziplinen basieren auf dem “Grundmodell des handlungsorientierten Lernens” und haben die Persönlichkeitsförderung der Adressaten zum Ziel – als auch ihre Unterschiede heraus.
Den “spirituelle[n] und meditative[n] Aspekt des Budo” unterzieht der Karate-Lehrmeister Helmut Queckenstedt in seinem Beitrag einer genaueren Betrachtung. Darin bestimmt er den spirituellen Geist des Zen als einen essentiellen Bestandteil japanischer Kampfkünste: “ZEN IST DAS MARK DES BUDO”, so seine lapidare Feststellung. In der Tat kommt der Autor hier auf den entscheidenden Kern der Budo-Pädagogik zu sprechen, ihren eminent persönlichkeitsbildenden Charakter, der tief in der spirituellen und religiösen Tradition des Fernen Ostens verwurzelt ist und weit über den bloß instrumentellen Aspekt der fernöstlichen Kampfkünste hinausweist. Freigelegt werde dieser spirituelle Kern des Budo insbesondere in der Meditation, die eine “Umkehr der Blickrichtung von der äußeren Welt nach innen” voraussetze und die Arbeit mit dem eigenen Geist zum Gegenstand habe. Das angestrebte Ziel dieser Arbeit ist höchst anspruchsvoll: Weisheit und Menschlichkeit!
Die nachfolgende Galerie „budo-pädagogische[r] Modelle in Theorie und Praxis“ wird durch den Beitrag von Reiner Heil: „Budo-Pädagogik als Schlüssel zur Entwicklung der emotionalen, sozialen und körperlichen Kompetenz. Philosophie und integrative Praxis ausgewählter fernöstlicher Kampf-, Bewegungs- und Entspannungssysteme für erwachsene Menschen mit kognitiver Behinderung” eröffnet. Hier stellt der Autor dar, wie Budo durch eine intensive Verbindung zwischen Körper und Geist mittels Atmung sowie des Wechselspiels von Anspannung und Entspannung einen aktiven Beitrag zur Bewältigung der Behinderung der Teilnehmer leisten kann. Zum Einsatz kommen hier neben Aikido und Judo auch Qigong und Shiatsu.
In seiner Ausarbeitung „Budo-pädagogischer Stockkampf als Konzept zur ganzheitlichen Förderung von adipösen Jugendlichen. Philippinische Kampfkünste für ein positives Körpergefühl” stellt Stefan Brüning den Beitrag einer speziellen Budo-Variante zur Bewältigung eines unter Kindern und Jugendlichen gerade in der Gegenwart verbreiteten Gesundheitsproblems dar: der Adipositas, einer chronischen Gesundheitsstörung mit einer hohen Begleit- und Folgemorbidität. Schnelle Erfolgserlebnisse beim Stocktraining verhelfen dem Autor zufolge zu Spaß an der Bewegung und einem positiven Körpergefühl, was wiederum zu einer Steigerung des persönlichen Selbstwertgefühls führe.
Der nachfolgende Beitrag von Elke Lochmüller beschäftigt sich mit einem erzieherischen Problem, unter dem ca. 4 bis 12 Prozent aller Kinder und Jugendlichen – Jungen drei- bis neunmal häufiger als Mädchen - leiden, dem „ADS“, zum anderen mit „Störungen des Sozialverhaltens, insbesondere oppositionellem Verhalten”, von denen rund drei Prozent der Mädchen und sechs Prozent der Jungen betroffen sind. Beide Störungsbilder ziehen meist erhebliche pädagogische Folgeerscheinungen, vor allem auf den Gebieten der Schulleistungen und der allgemeinen Entwicklung, nach sich, die wiederum häufig zu Störungen des Selbstwertgefühls und der sozialen Integration in der Gleichaltrigengruppe führen. Hier kann, wie Lochmüller sehr detailliert ausführt, der budo-pädagogische Einsatz von Aikido eine korrigierende, ausgleichende und damit heilsame Wirkung entfalten. Rituale, Etikette, klare und verbindliche Regeln, Meditation, Spiele, die auf die Vermittlung von Rücksichtnahme, Fairness und prosozialem Verhalten gerichtet sind, Ki- und Entspannungsübungen, das Lehrgespräch (Mondo) u.v.a.m. können neben vielem anderen dazu beitragen, das angeschlagene Selbstwertgefühl der Adressaten zu steigern, Ordnung, Regeln und Struktur positiv erleben zu lassen, Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit zu verbessern, die Lern- und Leistungsmotivation zu erhöhen und die psychomotorischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln.
“Shorinji-Ryu Karate-Do mit Morbus-Menière- und Tinnitus-Betroffenen. Zur heilpädagogischen Wirksamkeit von Kampfkunst” ist das Thema des Beitrags von Florian Besch. Im Anschluß an die Erläuterung der Krankheitsbilder von Morbus Menière und Tinnitus stellt der Autor die heilpädagogische Relevanz des Shorinji-Ryu Karate-Do dar, mittels dessen Körper, Geist und Seele des Betroffenen zu einem Gleichgewicht geführt und die Entwicklung der Persönlichkeit gefördert werden sollen. Eine “Verwurzelung im Boden” und ein “fester Stand” sind hier vorrangige Therapieziele, um einer räumlichen Desorientierung bestmöglich zu begegnen.
„Budo-Pädagogik und Psychomotorik“ unterzieht Sonny Jung in ihrem Beitrag einem systematischen „Vergleich“. Als Gemeinsamkeiten stellt die Autorin insbesondere heraus, daß es sich bei beiden Ansätzen um „persönlichkeitsfördernde Erziehungsmethoden mit einem ganzheitlichen Erziehungsansatz“ handele. Unterschiede bestehen unter anderem hinsichtlich der geistigen Wurzeln, des Erziehungsideals und der jeweiligen Zielgruppe.
Mit „Aikido und kreatives Lernen. Ein ganzheitliches pädagogisches Trainingsprogramm am Beispiel der Legastheniker” ist der Beitrag von Ina Pinck überschrieben. Ziel des Trainingsprogramms für Kinder im Alter von 9 bis 11 Jahren mit einer Teilleistungsstörung beim Erlernen von Lesen und Rechtschreibung sei die Schulung der sensorischen Wahrnehmung und der sensomotorischen Integration; das Zusammenspiel aller sensorischen Bereiche solle insgesamt verbessert werden. Darüber hinaus steht die Stärkung des vestibulären Systems sowie der differenzierten Ganzkörperwahrnehmung in Ruhe und Bewegung, des weiteren die Verbesserung der Ganzkörperkoordination und der Motorik im Vordergrund des Programms.
Die “Relevanz der Neuro-Logischen Ebenen des NLP für die Budo-pädagogische Arbeit” ist das Thema des recht theoretisch ausgefallenen Beitrags von Marc Grunske.
Catrin Franzen nimmt sich darauffolgend des Themas “Budo-pädagogisches Expansionstraining für durchsetzungsschwache Kinder an Grundschulen” an. Hier geht es um eine im Schulalltag wenig auffällig werdende und daher wenig erzieherische Probleme bereitende Gruppe von Kindern, die deshalb oft übersehen wird. Mit Hilfe des Kampfsystems des Kempokan Heidelberg soll diesen Kindern ein Mehr an Selbstbewußtsein und Durchsetzungsfähigkeit vermittelt werden. Der Schulung der Stimme, der Körperhaltung, des Blicks und der Atmung kommt bei diesem Training eine besondere Bedeutung zu, ebenso wie dem Einüben eines stabilen Standes.
Und schließlich zeigt Kristin Herold die Bezüge zwischen “Budo(-Pädagogik) und Gesundheitsförderung” auf, wobei sie als entscheidendes Gesundheitskriterium die seelische Befindlichkeit und das Selbstwertgefühl einer Person in den Mittelpunkt stellt. Herold sieht in der Zen-Meditation und Atemübungen geeignete Wege zu einer ganheitlichen Gesundheitsförderung, die gerade auch in Schulen mit ihren zahlenreichen Stress- und Belastungsfaktoren Anwendung finden sollte.
Im letzten Haupteil des Buches, in welchem es um “Perspektiven” der Budo-Pädagogik geht, weist Wolters auf die Bedeutung verbindlicher Standards für die Aus- und -Weiterbildung zum Budo-Pädagogen hin.
Jeannine Schröder und Ralf Gelowicz stellen “Berufung - Beruf - Berufsverband” des Budo-Pädagogen in den Mittelpunkt ihrer abschließenden Betrachtung, wobei sie den Weg (Do)-Charakter des beruflichen Werdegangs besonders betonen.
Fazit
Das Buch spannt einen beeindruckenden Bogen von pädagogischen und therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten der Budo-Pädagogik. Gerade vor dem Hintergrund, daß unsere tradierten westlichen Glaubenssysteme und die mit ihnen korrespondierenden Wertmaßstäbe in den letzten Jahrzehnten erheblich an Überzeugungskraft eingebüßt haben und Erziehung damit in der Gefahr steht, in Beliebigkeit und Willkür abzugleiten, gewinnt eine Pädagogik, die sich aus einer jahrtausendealten spirituellen Tradition speist, welche den Menschen in seiner umfassenden Existenz als Körper-Seele-Geist-Einheit in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen und Bestrebungen stellt, eine große Bedeutung. Auf deren Grundlage kann der Pädagoge mit einer neuen Glaubwürdigkeit und Autorität jungen Menschen gegenübertreten und ihnen einen Weg (Do) aufzeigen, an dessen - allerdings niemals vollständig erreichbaren - Ende wahrhafte und vollendete Weisheit und Menschlichkeit stehen.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Tischner
Hochschullehrer (i.R.) an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm, Fakultät Sozialwissenschaften. Lehr- und Arbeitsgebiete: Pädagogik, Sozialpädagogik, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialpädagogik, Konfrontative Pädagogik, Jungen- und Geschlechterpädagogik.
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