Reinhart Lempp: Nebenrealitäten. Jugendgewalt aus Zukunftsangst
Rezensiert von Prof. Dr. Matthias Brungs, 09.02.2010

Reinhart Lempp: Nebenrealitäten. Jugendgewalt aus Zukunftsangst.
Verlag für Polizeiwissenschaft
(Frankfurt am Main) 2009.
154 Seiten.
ISBN 978-3-86676-077-6.
24,90 EUR.
Reihe: Praxiswissen Gewaltprävention - Band 1.
Hintergrund und Intention
In Anbetracht der aktuell zunehmenden Gewalt Jugendlicher, neuer Formen jugendlicher Gewaltkriminalität sowie den in jüngster Vergangenheit zurückliegenden Amokläufen an Schulen wenden sich Experten aus den Sozialwissenschaften, vor allem aber der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kriminologie, (wieder) verstärkt der Ursachen- und Präventionsforschung zu. Dabei besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass für die Entwicklung zur Gewalttätigkeit neben vielfältigen anderen Gründen Angst, insbesondere Zukunftsangst, eine wesentliche Rolle spielt.
An diesem Punkt setzt der Autor des vorliegenden Bandes an, indem er darstellt, wie Zukunftsängste von Jugendlichen sich bei diesen zu destruktiven, gewalttätiges Verhalten fördernden, Nebenrealitäten fixieren können. Gesellschaftliche wie individuelle Bedingungsfaktoren für diesen Prozess und präventive Aspekte werden eingehend diskutiert.
Herausgeber
Reinhart Lempp ist einer der renommiertesten Protagonisten der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie (Inhaber des Lehrstuhls an der Universität Tübingen) und u.a. durch seine richtungsweisenden Arbeiten zu jugendlichen Tötungsdelinquenten sowie der maßgeblichen Mitarbeit an psychiatrischen und forensischen Standardwerken bekannt. Seit 1989 ist der Autor emeritiert, beteiligt sich aber weiterhin mit einschlägigen, vielfach beachteten Publikationen an der Fachdiskussion.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist insgesamt in sieben Kapiteln gegliedert.
Nach einer Einordnung der Thematik in die wissenschaftliche Diskussion wendet sich der Autor der Zukunftsangst junger Menschen zu, die vor allem den erfolgreichen Aufbau eines eigenen Lebenswegs betrifft, da die Bindung an sozialen Vorgaben in unserem gesellschaftlichen Kontext im Unterschied zu früheren Generationen aufgehoben ist. Er arbeitet in sehr gut verständlicher Sprache heraus, dass die Freiheit junger Menschen bei der Gestaltung ihrer Biografie, Angst vor eigenem Versagen erzeugt. Diese unter Jugendlichen verbreitete Zukunftsangst erregt wie alle Ängste Fluchtgedanken oder Aggressionen, kann nach seiner Argumentation das Selbstwertgefühl erheblich angreifen und erklärt eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber psychischen Erkrankungen.
In Kapitel 3 wird die Entstehung des Realitätsbezugs aus entwicklungspsychologischer Sicht dargelegt und aufgezeigt, dass schon im Kindesalter die Fähigkeit zum Überwechseln zwischen der gemeinsamen Hauptrealität und einer individuellen Nebenrealität ausgebildet wird (z.B. in Tagträumen).
In den Abschnitten 4 und 5 entfaltet Lempp das Konzept der Nebenrealität, indem er zunächst (individuelle) Formen darlegt, Zukunftsängste als eine gegenwärtig wichtige Nebenrealität Jugendlicher würdigt, und anschließend gemeinsame Nebenrealitäten in Wissenschaft, Politik, Religion und Medien vorstellt.
Ausgehend von dem Fallbeispiel Erfurt zielt Kapitel 6 auf die Erörterung der kriminologischen Bedeutung der Nebenrealität. Der Autor sieht in Nebenrealitäten eine wesentliche Ursache für jugendliche Gewalttaten, da diese, wenn sie aggressiven Vorstellungen und Wünschen entsprechen, emotional immer mehr Gewicht erhalten und schließlich zu realen kriminellen Handlungen führen können, wenn der Bezug zur gemeinsamen Hauptrealität vorübergehend verloren geht. Dabei weist Lempp darauf hin, dass gerade Bildmedien Nebenrealitäten von außen stimulieren können und insbesondere dann die Gefahr eine Überidentifizierung enthalten, wenn dem Betrachter die Illusion der aktiven Beteiligung vermittelt wird. Das vorliegende Buch schließt mit einigen gut begründeten und von den vorausgegangenen Ausführungen abgeleiteten Folgerungen für die Erziehung und schulische Bildung.
Zielgruppe
Dem Autor gelingt es in hervorragender Weise wissenschaftliche Inhalte in sehr gut verständlicher Sprache und mit vielen anschaulichen Beispielen darzulegen, ohne dabei den Bezug zur aktuellen Fachdiskussion zu verlieren. Daher ist das Buch vor allem für Leser geeignet, die sich für die Thematik der Jugendgewalt als solches interessieren.
Fazit
Auch wenn sich der Autor bei der Erklärung von jugendlicher Gewalt auf das Konzept der Nebenrealitäten konzentriert und dabei zwangsläufig andere kausale Aspekte und Argumentationslinien nur am Rande erwähnt, gibt der vorliegende Band einen fundierten und lesenswerten Einblick in die Thematik.
Rezension von
Prof. Dr. Matthias Brungs
Duale Hochschule Baden-Württemberg
- Villingen-Schwenningen -
Fakultät für Sozialwesen
Es gibt 11 Rezensionen von Matthias Brungs.
Zitiervorschlag
Matthias Brungs. Rezension vom 09.02.2010 zu:
Reinhart Lempp: Nebenrealitäten. Jugendgewalt aus Zukunftsangst. Verlag für Polizeiwissenschaft
(Frankfurt am Main) 2009.
ISBN 978-3-86676-077-6.
Reihe: Praxiswissen Gewaltprävention - Band 1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8478.php, Datum des Zugriffs 04.02.2023.
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