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Georg Adler, Hans Gutzmann et al. (Hrsg.): Seelische Gesundheit und Lebensqualität im Alter

Rezensiert von Dipl.-Psychol. Wolfgang Jergas, 11.11.2010

Cover Georg Adler, Hans Gutzmann et al. (Hrsg.): Seelische Gesundheit und Lebensqualität im Alter ISBN 978-3-17-021002-8

Georg Adler, Hans Gutzmann, Martin Haupt, Rainer Kortus, Dirk K. Wolter (Hrsg.): Seelische Gesundheit und Lebensqualität im Alter. Depression - Demenz - Versorgung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2009. 405 Seiten. ISBN 978-3-17-021002-8. 35,00 EUR.
Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP.

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Entstehungshintergrund und Thema, Autorinnen und Autoren

Der Jahreskongress 2007 der DeutschenGesellschaft für Gerontopsychiatrie und-psychotherapie stand unter dem Motto „Seelische Gesundheit und Lebensqualität im Alter“. Der vorliegende Band konnte (für Kongresse ungewohnt schnell) schon 2009 erscheinen, vereint die Beiträge der KongressreferentInnen unter den drei Schlagworten Depression, Demenz und Versorgung in 62 Beiträgen.Auf einige wird im Text näher eingegangen.

Die AutorInnen sind alle in Forschung oder Praxis in gerontopsychiatrischen Arbeitsfeldern in Deutschland, der Schweiz und Norwegen tätig und ausgewiesene Experten in ihrem Fachgebiet (wie z.B. Prof.Dr.Elmar Brähler, PD Dr.P.Calabrese, Prof.Dr.H.Helmchen).

Aufbau

Die Artikelfolge bildet die Themen Depression, Demenz,Versorgung ebenso ab.

1. Depression

Die ersten 14 Beiträge behandeln das Thema Depression: Psychotherapie (Einzeln oder in Gruppe, verschiedene Schulen), pharmakologische, pharmakotherapeutische Außenseiter (Johanniskraut), Maßnahmen zu Vorbeugung und Behandlung, so JE Schaefer und G.Eschweiler: Prävention depressiver Erkrankungen im Alter durch körperliche Aktivität.

Auch reaktive Depressionen sind einbezogen, so z.B. der Aufsatz von B. Lindemann,Pfeiffer und Becker über ein Assessment der Post-Stroke-Depression.

Das andernorts breiter behandelte Thema Traumatisierung wird hier in zwei Artikeln behandelt: von J.Kipp (Zum Zusammenhang von Trauma und Angst) und von Bertram von der Stein (Traumatisierung in frühen Lebensphasen und Angst im Alter).

2. Demenz

Im zweiten Abschnitt Demenz werden in 31 Artikeln die verschiedenen Arten dementieller Erkrankung erläutert. Hierbei wird in notwendiger Weise breiter Darstellung über die verschiedenen Ursachen bzw. Unterformen der Demenz berichtet. Drei Artikel befassen sich mit der Lewy-Körperchen-Demenz (auch als Lewy-Body-Demenz bekannt):

  1. Lutz Michael Drach: “Neue diagnostische Kriterien“ und
  2. Behandlung psychotischer Symptome bei Demenz mit Lewy-Körperchen“ und
  3. Annette Richter:Behandlung von Parkinson-Symptomen bei Lewy-Körper-Demenz.

In weiteren Artikeln werden auch biochemische und gehirnphysiologische Seiten von Gedächtniskrankheiten behandelt, so von Peter Schönknecht, Elmar Kaiser, Pablo Toro und Johannes Schröder: Die Bedeutung der Tau-Proteine in der Differenzialdiagnose von leichter kognitiver Beeinträchtigung und Altersdepression. Breiteren Raum nehmen die Artikel zur Diagnostik und Behandlung der und zum Umgang mit den Erkrankten ein.

Robert Perneczky macht Ausführungen über Nicht-kognitive Symptome bei frontotemporaler Demenz Die frontotemporale Demenz wird im frontotemporalen Bereich des Gehirns verortet, dem Sitz der höheren Steuerungsfunktionen, der keinen unmittelbaren sensorischen oder motorischen Kontakt zur Aussenwelt hat, sondern als Steuerungs- und Schaltzentrale als Kontrolle ein- und ausgehender Signale fungiert.Degeneriert dieser Teil des Gehirns, so treten vor allem Störungen im Verhalten und grundsätzlicher affektiver Gestimmtheit ein. Letzteres äußert sich in Apathie oder Agitiertheit/motorischer Unruhe/Überaktivität, ersteres in auffälligem sozialen Verhalten wie z.B. Uninteressiertheit an den üblichen Verhaltensstandards,Veränderung gesellschaftlichen Verhaltens, (Ess- und Tischsitten und andere Umgangsformen), was häufig zur Verwechslung mit manischem Verhalten führt, während der apathische Rückzug ebenfalls häufig fälschlich einer depressiven Erkrankung zugeschrieben wird. Vor allem diese Verhaltensauffälligkeiten, weniger der erst später im Verlauf eintretende Funktionsverlust des Gedächtnisses, führen schon in relativ frühem Stadium zur Distanzierung der Angehörigen aus Überforderung heraus und dann schnell zu Heimeinweisungen. Hier hat sich mittlerweile der Einsatz bestimmter Gruppen antidepressiv wirkender, aber auch einiger antipsychotisch wirkender, Medikamente bewährt, die den Umgang mit den Demenzkranken erleichtern, ergänzt durch ein mittlerweile wachsendes Verständnis für die Defizite, zu denen die Erkrankung führt.
Die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, setzt die Kenntnis dieser Gefühle in uns selbst voraus, benötigt auch die Wahrnehmung und Entschlüsselung psychischer Prozesse beim anderen, um angemessen reagieren zu können. Erst die Entschlüsselung eines Gesichtsausdruckes als „traurig“ führt zu entsprechend empathischen, zuwendendem oder anderem angepassten Antwortverhalten. Menschen, die an frontotemporaler Demenz leiden, geht diese Entschlüsselungsfähigkeiten durch die Krankheit verloren, weshalb sie dann als verständnislos oder „kaltschnäuzig“ eingestuft, und somit also verkannt werden. Allein schon dies wissen kann zu verändertem Verständnis und Umgang mit den Erkrankten beitragen.

Auf weitere Probleme der Diagnostik weisen F.M.Reischies und N.Zerhoch (Averbale Testung in der Gerontopsychiatrie) hin Die überwiegende Zahl der psychologischen Tests zu Untermauerung der Demenz-Diagnose findet im verbalen Raum statt. Wortfindung,Wortflüssigkeit,Wortlisten lernen und abrufen, Fragen nach der räumlichen,zeitlichen,personalen Orientierung, Zahlen enkodieren und transkodieren, selbst Gegenstände merken und wiedererkennen findet überwiegend mit Hilfe und im Medium des Sprechen statt. Aphasie, der Verlust des Sprechvermögens und Sprachverständnisses,ist aber nur ein Defizit bei Demenzkranken, andere Fähigkeiten bleiben davor oder daneben trotzdem erhalten, finden aber wenig Eingang in Prüfverfahren. Die Autoren nahmen sich vor, ein Verfahren zu entwickeln, bei dem nicht Sprechen oder Sprache als Medium und Maßstab herhalten.Beispielsweise kann man auffordern, sich auf einem stilisierten Stadtplan einen Weg zu merken und diesen dann in einen zweiten einzuzeichnen, eine komplexe Figur zuerst kopieren und dann aus dem Gedächtniszeichnen zu lassen, auch alltagspraktische Fähigkeiten wie Kaffee mit Kaffemaschine herzustellen können als Aufgabe herhalten. Problematisch und mit viel Aufwand verbunden ist aber die Normierung – sowohl auf das Lebensalter bezogen als auch auf Krankheiten des Gehirns bezogen. Die Autoren haben schon begonnen, mit kleinen Stichproben zu experimentieren, man wird sehen, ob und wie dieser Ansatz weiterbearbeitet wird.

Das Feld der pharmakotherapeutischen und nicht-medikamentösen Strategien – auch in Bezug auf Prophylaxe – wird in dankenswerter Breite dargestellt – u.a. in Artikeln zu

  • Antidementiva in allokationsethischer Perspektive von H.Helmchen (Stichwort: Ist es vertretbar, Medikamente zu verschreiben, deren Nutzen „nur“ in einer Verzögerung des Krankheitsverlaufes besteht aber nicht in ursächlicher Verbesserung der Krankheit?),
  • in der Behandlung der Frage “Schützt Rotwein vor Alzheimer?“ (so der Artikel von Wolf D.Oswald).
  • Johannes Johannsen stellt die Frage: Optimale Behandlung und Unterstützung für Demenzkranke und ihre Angehörigen – Gibt es das? -
  • auch weitergehend als nur die Therapie betreffend im Artikel von S.Weyerer und M.Schäufele: Freiheitseinschränkende Maßnahmen in Einrichtungen der Altenhilfe – Ein Vergleich zwischen besonderer und traditionell integrativer Dementenbetreuung.

3. Versorgung

Schließlich gehen zahlreiche Autoren im dritten Teil: Gerontopsychiatrische Versorgung diesen auch in der Zukunft weiter bestehenden hochproblematischen Themenkreis an.In diesem Arbeits- und Forschungsfeld werden u.a. folgende Punkte näher beleuchtet:

  • S. Kleinstück: Die Arbeit der Demenz-Service-Zentren in Nordrhein-Westfalen;
  • L.M.Drach und B.Terner:Zur Rolle der sozialen Aktivierung in den deutschen gerontopsychiatrischen Tageskliniken.
  • Dieter Geyer:Spezifische Ansätze der Rehabilitation älterer Suchtkranker. Seit 1978 wird in der Fachklinik Fredeburg ein Alkoholentzugsprogramm speziell für altere Abhängige durchgeführt und durch die routinemäßig erhobene Katamnese auch überprüft. Gründe für die Einrichtung spezieller altersorientierter Gruppen sind die unterschiedlichen Suchtkarrieren, die unterschiedlichen lebensalterspezifischen Erfahrungen und die unterschiedliche Motivation zwischen den älteren und jüngeren Abhängigen, bei letzteren dominieren die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bzw. das Erwerbsleben, auch stehen diese an anderer Stelle im Lebenszyklus als die älteren.Kriegserfahrungen bzw. das Aufwachsen in und um Kriegszeiten herum, der Verlust naher Verwandter und Partner und die unterschiedliche Teilhabeperspektive, auch das näher rückende Lebensende, sind weitere Unterschiede. dass eine solche Unterteilung des therapeutichen settings und auch der therapeutischen Zielsetzung von Bedeutung ist, zeigt die Verteilung der Abhängigkeitskranken auf die verschiedenen Lebensalter: Immerhin weisen 17% der Männer über 64, die in Psychiatrischen Kliniken aufgenommen werden, Alkoholabhängigkeit auf (4,2% der Frauen). Zwei Drittel der Medikamente mit Abhängigkeitspotential werden an Frauen verschrieben, Gründe sind vielfach multiple körperliche Erkrankungen und die davon verursachten Beschwerden. Auch die Gründe, die in stoffgebundene Abhängigkeit führen, sind bei jüngeren andere als bei älteren Abhängigen: Viele ältere entsprechen mehr einem Typ Abhängigkeit, der weniger psychopathologische Auffälligkeiten, weniger und weniger ausgeprägte Persönlichkeitsstörungen, weniger familiäre Belastungen mit Alkohol zeigt.

Weitere Artikel stammen von

  • Johann Johannsen: Beratung und Behandlung psychisch kranker älterer türkischer Migrantinnen und Migranten,
  • von E. Brähler,Gunzelmann,Decker und Löwe: Psychische Beschwerden und Resilienz im mittleren und höheren Lebensalter. Zur Versorgung gehören auch der Umgang mit “Sturzereignissen in der Gerontopsychiatrie“ (E.Blitz und T.Gödecke-Koch) und nicht vergessen das heikle Thema des Medikamentenmißbrauches:
  • Schlaf- und Beruhigungsmittel im Alter – Wann und wie absetzen? von Dirk K. Wolter und
  • Sebastian Baum gibt ein Repetitorium zum Thema Arzneimittelwechselwirkungen im Alter.

Diskussion

Der Band vereint Aufsätze unterschiedlicher Länge und Dichte (wobei das eine nicht vom anderen abhängt). Über Depression, auch Depression im Alter, (auch) im gerontopsychiatrischen Raum zu schreiben, bricht keine Tabus und beackert keine Brache. Insofern sind die Artikel eher als erneute Betonung und weniger als Paradigmenwechsel o.ä.zu sehen. Dem Thema Demenz sind erfreulicherweise bislang weniger beachtete Aspekte gewidmet: so die Lewy-Body-Demenz, der schwierige Umgang mit der leider oft noch verkannten Frontotemporalen Demenz aber auch die psychometrischen Fallstricke bei den häufig verbal-lastigen Gedächtnisuntersuchungen, die vor allem bei Patienten mit unintegriertem Migrationshintergrund im sprachlichen Feld eine Diagnostik fast zum Ratespiel werden lassen.

Ebenso spricht der Abschnitt Versorgung viele Dilemmata an, anhand von empirischen Untersuchungen über bestimmte Ist-Zustände bei den Versorgern, z.B. in der Pflege, und auch bezogen auf bestimmte zu versorgende Erkrankte, wie z.B. die älteren Suchtkranken oder die älteren Migranten.Insgesamt sind die Themen auf den ersten Blick medizin-lastig, doch geht es bei den Komplexen Depression und Demenz noch immer mehr um die medizinische als um die psychosoziale und sozialpsychiatrische Seite. Es ist nicht unwichtig, dass sich der Medizinbetrieb auch für Lebensqualität und Versorgung stark macht, ohne tatkräftige Unterstützung und fachliche Schützenhilfe blieben die Betroffenen Erkrankten und deren Angehörige zu sehr in der Defensive.

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Fazit

Ein Sammelband überwiegend medizinisch-empirisch orientierter Arbeiten über den gegenwärtigen Stand der Probleme und Erfahrungen von Gerontopsychiatern und Gerontopsychotherapeuten in den Arbeitsfeldern Depression, Demenz und der intra- und extramuralen Versorgung,. Zahlreiche Gesichtspunkte werden von Fachleuten so erörtert, dass der Band auch als Nachschlagewerk oder Reader über den heutigen Stand hinaus aktuell bleiben wird.

Rezension von
Dipl.-Psychol. Wolfgang Jergas
Jahrgang 1951, Psychologischer Psychotherapeut, bis 2006 auf einer offenen gerontopsychiatrischen Station, 2007-2015 Gedächtnissprechstunde in der Gerontopsychiatrischen Institutsambulanz der CHRISTOPHSBAD GmbH Fachkliniken
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Es gibt 39 Rezensionen von Wolfgang Jergas.

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ISSN 2190-9245