Rolf Becker (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungssoziologie
Rezensiert von Dr. Lena Becker, 16.01.2010

Rolf Becker (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungssoziologie.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2009.
500 Seiten.
ISBN 978-3-531-14794-9.
19,90 EUR.
Reihe: Lehrbuch.
Thema
Bildung ist ein Thema, das Gegenstand verschiedener Disziplinen sein kann. So beschäftigt sich die Philosophie, die Erziehungswissenschaft, aber auch die Wirtschaftswissenschaft mit Bildung. Während die ersten beiden eher in den Blick nehmen, was Bildung ist, ob sie als solche jemals erreichbar, oder eher als ateleologischer Prozess zu verstehen ist, versucht die Wirtschaftswissenschaft Bildung quantifizierbar zu machen, um für einzelne Organisationen oder das Gemeinwohl Bildungsprozesse effektiver gestalten zu können und Zertifikate, die Bildung im Sinne von Humankapital dokumentieren sollen, verlässlich und transparent gestalten zu können. Diese wirtschaftswissenschaftliche Herangehensweise an Bildung hält jedoch zunehmend auch in der Erziehungswissenschaft Einzug, aber auch in der Politikwissenschaft. Die Lernpsychologie kann weiterhin Theorien beisteuern, die die kognitive Umstrukturierung bei Bildungsprozessen beschreiben und „gehirngerechte“ Methoden hieraus ableiten. Die Entwicklungspsychologie nimmt allgemein Bezug auf die kindliche Entwicklung und auch auf die die Herausbildung kognitiver Kompetenzen. Hier hat vor allem Jean Piaget Pionierarbeit geleistet. Bildung wird also nur interdisziplinär zu einem greifbaren Begriff.
Der vorliegende Band will Einblicke in die Bildungssoziologie geben. Um einzugrenzen, was das spezifische einer soziologischen Perspektive auf Bildung ausmacht, soll zunächst von der allgemein akzeptierten Definition der Soziologie als Wissenschaft sozialen Handelns ausgegangen werden, wie sie von Weber formuliert wurde und diese auf das Forschungsfeld der Bildung übertragen werden. Es geht demnach um „Bildungsprozesse als auf Bildung bezogenes soziales Handeln und seine Folgen für die Gesellschaft, ihre Teile und Mitglieder“ (Rolf Becker :12). Bei einem solchen weitgefassten Forschungsgegenstand ist es nicht verwunderlich, dass sehr heterogene Problemstellungen darunter fallen. Der Sammelband spiegelt dies in seinen verschiedenen Beiträgen wider.
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband beinhaltet 16 Beiträge. Dabei fällt auf, dass der Herausgeber selbst bei immerhin fünf der Beiträge Autor oder Mitautor ist. Vorangestellt wird ein knappes Vorwort. Den verschiedenen Beiträgen folgt die Auflistung der Autorinnen und Autoren. Auf einige der Aufsätze wird nun im Folgenden näher eingegangen.
Bildungssoziologie – Was sie ist, was sie will, was sie kann (Rolf Becker).Dieser Beitrag des Herausgebers stellt eine Art Einführung dar. Fragestellung und Forschungsgegenstand der Bildungssoziologie und ihre Stellung innerhalb der Soziologie werden geklärt. Ausgewählte Theorien der Bildungssoziologie werden dargestellt, unter anderem auch die Humankapitaltheorie.
Meritokratie – Zur gesellschaftlichen Legitimation ungleicher Bildungs-, Erwerbs- und Einkommenschancen in modernen Gesellschaften (Rolf Becker und Andreas Hadjar).Dieser Beitrag entlarvt sehr scharfsinnig die Meritokratie als gesellschaftlich funktionale Ideologie. Durch diese werden die parallel wirksamen askriptiven Prinzipien wirkungsvoll verschleiert, Ungerechtigkeiten legitimiert und zugleich der einzelne zur Leistung motiviert. Auch wird im Beitrag die oligarchistische Tendenz und die Gefahr der Exclusion nicht „leistungsfähiger“ Gesellschaftsmitglieder bei einer imaginierten tatsächlich reinen Meritokratie theemitisiert wie die Frage, ob diese überhaupt umsetzbar wäre, angesichts der Schwierigkeit, Meriten zu bemessen.
Sozialisation – Erziehung- Bildung: Eine kritische Begriffsbestimmung (Matthias Grundmann ). In diesem Beitrag wird anhand des anhand einer Graphik verdeutlichten „Basismodells“ des Bildungserwerbsprozesses dargestellt, wie die Vernachlässigung der Unterscheidung von Sozialisation und Selektion dazu führt, dass unter dem Diktat eines ökonomisch verkürzten Bildungsbegriffes die Begriffe von Erziehung und Sozialisation gleichfalls hierauf verengt verstanden werden. Die Engführung des Bildungsbegriffes manifestiert sich derzeit am offenkundigsten in der Bildungsforschung. Betrachtet man neben dem Einfluss der funktionalen Selektion jedoch auch lebensweltliche Einflüsse außerhalb des Schulsystems auf den Bildungsprozess, führt dies zu einer erweiterten, ideologiekritischen Sichtweise.
Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleichheiten (Rolf Becker). Zunächst wird hier die Diskrepanz zwischen dem Prinzip der Chancengleichheit und der tatsächlich bestehenden Abhängigkeit der Bildungschancen von Sozialschichten aufgezeigt. Hierzu wird zunächst der Begriff der Chancengleichheit und der Einfluss der Bildungsexpansion untersucht. Bei der Auseinandersetzung mit verschiedenen Theorien zur Erklärung der Ungleichheit der Bildungschancen wird auch mit einer Graphik und Tabellen das Wechselspiel primärer und sekundärer Herkunftseffekte nach dem Modell von Boudon verdeutlicht. Im Anschluss daran werden mit der Betonung subjektiver Kosten-Nutzung-Abwägungen gemäß des werterwartungstheoretischen Modells nach Esser vor allem die Grundlagen der Entscheidung der Eltern für die weitere Bildungslaufbahn ihrer Kinder nach Abschluss der Grundschule betrachtet. Letztlich ist das Phänomen der Ungleichheit der Bildungschancen nur unter Heranziehung verschiedener Erklärungsmodelle optimal erfassbar und es die Forschung kann an dieser Stelle noch nicht als abgeschlossen gelten.
Bildungssysteme im historischen und internationalen Vergleich (Susanne von Below ). Auf der Grundlage des neuen Institutionalismus wird hier ein Vergleich von Bildungssystemen versucht, dem eine kleine Einführung in verschiedene Typologisierungen vorangeht. Recht ausführlich wird dabei auf die historische Entwicklung der deutschen Bildungssysteme in den alten und neuen Bundesländern eingegangen, während zum internationalen Vergleich lediglich ein knapper Überblick über den Forschungsstand gegeben wird, wobei dies der Unübersichtlichkeit der Thematik im Rahmen eines Aufsatzes wahrscheinlich auch angemessen ist.
Erwartete und unerwartete Folgen der Bildungsexpansion in Deutschland (Andreas Hadjar und Rolf Becker). Dieser Beitrag gibt einen kurzen Überblick über die Bildungsexpansion der 60er/70er-Jahre. Insbesondere wird in den Blick genommen, inwieweit schichtspezifische, aber auch geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten sich verändert haben. Während die Herkunft immer noch einen großen Einfluss auf die Bildungschancen hat, hat die Bedeutung von Geschlecht tatsächlich etwas abgenommen, auch wenn hier vor allem im tertiären Bildungsbereich weiterhin Handlungsbedarf besteht und die Einteilung in typische Frauen- und Männerberufe persistiert. Weiterhin werden politische Zusammenhänge herausgestellt und die Auswirkungen auf Lebensstile in den Blick genommen.
Bildung und Lebensverlauf – Bildung im Lebensverlauf (Steffen Hillmert). Im Beitrag wird versucht, die Bedeutung des Lebenslaufparadigmas für die Bildungssoziologie herauszustreichen. Hierbei sollen Rückschlüsse vom empirischen Bildungsverläufen auf institutionelle Strukturen hergestellt werden. Da die lebenslaufstrukturierende Eigenschaft des Bildungssystems vermehrt in der Vordergrund an Relevanz gewinnt und die Forderungen nach „lebenslangem Lernen“ und individueller Eigenverantwortung immer häufiger gestellt werden, sind individuelle Bildungsverläufe besonders dafür geeignet, um etwa die Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit aufzudecken. Längsschnittuntersuchungen sind jedoch mit einem erheblichen Aufwand verbunden und fehlen weitgehend.
Hochschulbildung und soziale Ungleichheit (Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler). Die Autorengruppe beschäftigt sich vor allen mit Ursachen und Folgen der Hochschulexpansion, insbesondere im Hinblick auf soziale Ungleichheiten und führt sie einige relevante Daten an. Desweiteren wird die Struktur des deutschen Hochschulsystems beschrieben. Aus den angeführten Daten wird die Hypothese bestätigt, dass postsekundäre Bildungsentscheidungen vor allem auf sekundäre Herkunftseinflüsse zurückzuführen sind, jedoch die häufig vorgefundene Hypothese eher verworfen, dass soziale Selektionsprozesse nun vorwiegend im höheren Bereich des Bildungssystems stattfinden würden. Schwache Evidenz findet sich für die Hypothese, dass soziale Selektion über die Wahl besonders oder weniger vorteilhafter Studienfächer stattfindet. Die Auswirkungen des Bologna-Prozesses bleiben Gegenstand weiterer Forschung.
Ausgewählte Klassiker der Bildungssoziologie (Rolf Becker) Der Autor führt hier in die Ansätze von Durkheim, Weber, Coleman, Bourdieu und Sørensen ein und lotet deren Beitrag für die heutige Bildungssoziologie aus. Diese Ausführungen können als Ausgangspunkt weiterer Lektüreverwendet werden. Becker weist auch auf die Unvollständigkeit und Subjektivität exemplarisch gewählten Klassiker hin und nennt noch weitere Koryphäen. Hier wäre mindestens ein Hinweis auch auf Adorno wünschenswert gewesen, auch wenn klar ist, das in diesem Fall eine knappe Einführung schwierig ist und sein Werk zum sonst eher phänomenologischen Tenor des Sammelbandes vielleicht nicht ganz passt. Sein Beitrag und andere Beiträge der Frankfurter Schule zur interdisziplinären Bildungssforschung sind jedoch m.E. zu erheblich, um sie gänzlich unerwähnt zu lassen.
Diskussion
Das Buch liefert einen sehr guten Überblick über die verschiedenen Bildungsbereiche und ist Ausgangspunkt weiterer Problemstellungen. Es wäre allerdings interessant, die dargestellten Ergebnisse der bildungssoziologischen Forschung mit mehr qualitativen Daten zu verknüpfen. Ansonsten bleibt es bei einem quantitativen Abbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit, das verschiedene Theorien stützt oder verwirft, jedoch den Begriff der Bildung ähnlich wie in der erziehungswissenschaftlichen Forschung gemäß der Humankapitaltheorie tendenziell ausdünnt, wobei der Beitrag von Grundmann hier eine gewisse Ausnahme bildet. Etwa mittels der Objektiven Hermeneutik wäre qualitative Bildungsforschungauch auf institutioneller Ebene möglich.
Fazit
Das Buch kann einen guten Einstieg bieten, auch um sich dann an der ein oder anderen Stelle tiefergehend mit der bildungssoziologischen Forschung zu befassen.
Rezension von
Dr. Lena Becker
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Zitiervorschlag
Lena Becker. Rezension vom 16.01.2010 zu:
Rolf Becker (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungssoziologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2009.
ISBN 978-3-531-14794-9.
Reihe: Lehrbuch.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8505.php, Datum des Zugriffs 03.06.2023.
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