Helmut Langel: Kulte und Sekten
Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 09.04.2010

Helmut Langel: Kulte und Sekten. Gefährliche Zeiterscheinung oder moderne Religionsvielfalt? Olzog Verlag (München) 2009. 4., vollst. überarbeitete und ergänzte Auflage. 351 Seiten. ISBN 978-3-7892-8251-5. 24,90 EUR.
Thema
In der Religionssoziologie Max Webers spielen protestantische Sekten eine prominente Rolle. Neben den Weltreligionen des Buddhismus und des Hinduismus, des Konfuzianismus und des Judentums, des Islams und des Christentums stechen insbesondere die Betrachtungen und Analysen zu den Puritanern und Calvinisten, Quäkern und Baptisten u.v.a.m. bei Weber hervor. Das Ziel des Soziologen war die Aufklärung der kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung aus der protestantischen Ethik, die Kreditwürdigkeit garantierte, eine Heilsprämie auf innerweltlichen Wirtschaftserfolg setzte und diesen durch asketische Lebenspraxis nicht zum Konsum, sondern zur wirtschaftlichen Re-Investition bestimmte. Die Folge war Akkumulation von Kapital und eine Steigerung der Gewissheit, dereinst zu den Auserwählten Gottes zu gehören, die bei prinzipiell unbeeinflussbarer Prädestination mittels diesseitigem Wirtschaftserfolg berechtigte Hoffnung auf jenseitiges Heil verschaffen konnten. Die asketischen Zumutungen an die Lebensführung und die Disziplinierung durch Arbeit zum Ruhme des einen Gottes sind legendär und prägen als institutionell verselbständigte und ihrer ethischen Gehalte entleerter Praxis den Alltag des weltweit durchgesetzten Kapitalismus bis heute.
Weniger bekannt als diese Argumentation Webers ist dabei die Rolle des sozialen Kontextes, durch den der Kapitalismus seine Strukturdominanz erlangen konnte: die Sekten. Sekten im strengen soziologischen Sinne sind nach Weber religiöse Vergemeinschaftungen, die ein elitäres Bewusstsein der Auserwähltheit ihrer Mitglieder und der charismatischen Qualifikation ihrer Führer kultivieren. Sie schaffen einen scharf gegen die Außenwelt abgegrenzten Geltungsraum eigensinniger Sondermoralen, in dem die nach speziellen Kriterien rekrutierten Mitglieder durch Initiationsrituale von ihrer Vorgeschichte entkoppelt, zu Novizen degradiert und in teils schmerzlichen Konversionskarrieren zum vollgültigen Sektenmitglied gemacht werden. Die bedingungslose Unterwerfung unter den autoritären Führer oder seiner Nachfolger, die Übernahme der Dogmen des neuen Glaubens und ihre direkte „Umsetzung“ in gelebte Praxis unter den wachsamen Augen der Sektengemeinschaft sowie die Kappung aller sozialen Außenkontakte werden zur Pflicht eines jeden Sektenmitglieds. Der hermetische soziale Kontext, den eine Sektenvergemeinschaftung zur Verfügung stellt, erlaubt ein Ausmaß an Verhaltenskontrolle, der mit guten Gründen als „totalitär“ bezeichnet werden kann.
Vom Standpunkt einer demokratischen Grundhaltung sind solche sozialen Gebilde zutiefst fragwürdig, weil sie Grundwerte wie „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Selbstbestimmung“ in autoritärer Form entweder programmatisch und/oder praktisch verneinen. Vom Standpunkt einer Massenreligiosität, die in kirchlichen Anstalten organisiert ist, bilden Sekten häretische Konkurrenzunternehmungen in Sachen Seelenheil, die schon immer zu heftiger Verfolgung und blutiger Unterdrückung geführt haben. Die Kriminalgeschichte des Christentums ist voll von Grausamkeiten gegen Ketzer, die sich unter einer eigenen Spiritualität von den Kirchen abspalteten und sich als Sekten organisierten. Die Anziehungskraft der Sekten speiste sich seit je aus ihrer Alternativität zu den „dogmatischen Verkrustungen“ (Langel: 331) der Amtskirchen, die die Sinnlichkeit der Religiosität, intensives religiöses Erleben in mystischer Verzückung, intensiver Trance und orgiastischem Rausch durch ihre Priesterkasten sublimieren oder doch zu Gunsten einer moderaten und gut kontrollierbaren Massenreligiosität zu disziplinieren wussten.
Autor
Der Pastor und Sektenbeauftragte Helmut Langel geht in seiner sachhaltigen Übersicht von einer theologischen Kritik der kirchlichen Feindseligkeit gegen Sekten aus.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Teil führt er daher in die Geschichte der negativ besetzten Sektenbegriffe kirchlicher Institutionen kundig ein und wirbt für ein differenziertes Verständnis von fundamentalistischen Bewegungen wie den Evangelikalismus, die Pfingstkirchen und anderen neureligiösen Bewegungen, die sich gegen eine jahrhundertealte Quellenkritik immunisieren, streng an die Bibel als Maximensammlung für die praktischen Lebensführung halten wollen und deren Geschichten „mit der Behauptung der Tatsächlichkeit“(Langel: 29) versehen.
Im zweiten Teil werden neureligiöse Kulte wie Scientology, Vereinigungskirche, Heimholungskirche, Transzendentale Meditation sowie die Bagwahn/Osho-Bewegung anhand einer schematisierten Darstellung dem Leser näher gebracht: „Der Weg in den Kult“, der „Kultführer“, Programm, Lehre oder Geschichte, Organisation und ein Glossar mit wichtigen Begriffen runden das Darstellungsschema ab.
Daran schließt sich ein dritter Teil über „Sondergemeinschaften mit christlich-fundamentalistischem Hintergrund“, die auch Psychokulte mit Heilungsmagie oder Reiki als Heiltechnik und Okkultimsus/Esoterik einschließt. Auch diese werden sachkundig nach vorgenanntem Schema dem Leser näher gebracht und bewertet, wobei die Bewertung dem Gebot der Fairness zu folgen versucht, die die Beitrittsmotive der Mitglieder mit den tatsächlichen Praktiken und Zielen des organisierten Kultes vergleichen, was für die Kultorganisation selbstverständlich negativ ausfällt.
Diskussion
Dieses „selbstverständlich“ mag für den Theologen irritierend und vielleicht arrogant klingen, sagt sich aber leicht angesichts einer Tradition der Soziologie, die von ihren Gründungsvätern an das Verhältnis von Ideen, Interessen und Institutionen zum Thema gemacht und sich schon seit je mit dem spannungsreichen Wechselspiel von „Struktur“ und „Kultur“ oder von „Idee“ und Organisation“ befasst hat. So z.B. im Falle des fast schon vergessenen und nur noch der Parteien- und Wahlforschung erinnerlichen Robert Michels und seiner Soziologie des Parteiwesens von 1911. Darin untersuchte er die Frage, weshalb die sozialdemokratische Partei, die doch für die Ideen der „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“ angetreten war, zu Revisionismus und Kompromissen mit dem Wilhelminischen System bereit sein konnte, die die in Anspruch genommenen Wertpräferenzen in letzter Konsequenz entscheidend schwächten, wenn nicht verrieten. Bei seinen Forschungen stieß Michels in diesem Zusammenhang auf die konservative Macht der Organisationszwänge, die er als das „eherne Gesetz der Oligarchie“ (Michels 1911: 350ff) beschrieb. Mit zunehmendem Erfolg der Parteiorganisation und ihrer Ausweitung zur Massenpartei entstand eine parteiinterne Arbeitsteilung und Ungleichheit, die zur Installation einer Führeraristokratie der Arbeiter führte, für die die ursprünglichen sozialdemokratischen Grundwerte aus Erfordernissen der Massenorganisation heraus keine direkte Verhaltensgeltung mehr haben konnten, sondern zu bloß funktionalen Mobilisierungsparolen verkümmerten. Die soziale Position, die durch die Rolle innerhalb der Organisationsoligarchie bestimmt war, bestimmte das Bewusstsein - oder noch wichtiger - das politische Handeln, und nicht mehr der Purismus von Ideen oder elementaren Bedürfnissen, auch wenn „Ideen“ immer wieder als Vehikel von Parteiabspaltungen oder – bezogen auf den hier in Rede stehenden Bereich der Religion – von Religionsabspaltungen fungieren.
Das lässt sich formalsoziologisch mühelos auf denselben Sachverhalt im religiösen Bereich übertragen: Religiöse Ideen und intensives Erlebnis dieser Ideen führen zu einer Eigensinnigkeit und primären Vergemeinschaftung, die sich gegen die vorhandenen kirchlichen Mächte behaupten muss, und sich selbst elitisieren. Hat eine solche Idee Erfolg, wächst die Gemeinschaft der Auserwählten an, so greifen entweder die von Michels für den politischen Bereich beschriebenen Tendenzen zur Oligarchisierung oder aber die eingangs mit Max Weber beschriebenen Tendenzen zum Totalitarismus des genuinen Charismatismus.
Fazit
Insofern klingt es in den Ohren des Rezensenten nach der Lektüre dieses in 4ter vollständig überarbeiteter und ergänzter Auflage erscheinenden Werkes, das bei der theologischen Diskussion des Sektenbegriffes einen beeindruckenden Scharfsinn zeigt und sich einer fairen Unvoreingenommenheit befleißigt, naiv, wenn es in der Schlussbemerkung heißt: „Es wäre dringend an der Zeit, diesen Bann falscher Religiosität zu entzaubern und authentisch zu zeigen, dass religiöse Menschen frei, kreativ und selbstbewusst sein können.“(ebd: 331) Denn diese religiöse Freiheit, Kreativität und dieses Selbstbewusstsein – sind sie noch plausibel, nachdem der Autor die oligarchischen und totalitären Tendenzen der Sekten- und Kultorganisation nachgewiesen und auf die Effekte der Nivellierung und hierokratischen Ausbeutung (von der Kirche als Tatort ist in diesem Buch nicht die Rede) ihrer Anhänger hingewiesen hat? Der Rezensent meint: „Nein“, weil er nach dem geht, was er über diese Zusammenhänge soziologisch wissen kann; der Autor hingegen meint „Ja“, weil er nach dem geht, was er über diese Zusammenhänge zu glauben wünscht.
Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
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