Joseph Kuhn, Jan Böcken (Hrsg.): Verwaltete Gesundheit
Rezensiert von Prof. Dr. Sylvia Greiffenhagen, 08.10.2010

Joseph Kuhn, Jan Böcken (Hrsg.): Verwaltete Gesundheit. Konzepte der Gesundheitsberichterstattung in der Diskussion. Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2009. 319 Seiten. ISBN 978-3-940529-46-6. 29,90 EUR.
Thema und Zielsetzung
Der vorliegende Band widmet sich einem Thema, ohne das Gesundheitswissenschaften und Gesundheitspolitik heute nicht mehr denkbar wären, nämlich der so genannten Gesundheitsberichterstattung. Schon am Ende des 18. Jahrhunderts hatte Johann Peter Frank die Erstellung medizinischer Topographien gefordert und damit Beschreibungen gemeint, die Aufschluss über die Lebensumstände der Menschen und ihre Krankheiten geben sollten, im Dienste einer Medizin, die entsprechend fach-, orts- und zielgruppenspezifisch ansetzen konnte. Gesundheitsberichterstattung zeigt sich damit als ein Kind der Aufklärung, als ein Instrument, mit dem sich das Gesundheitswesen sowohl rationalisieren als auch demokratisieren konnte und eine moderne staatliche Gesundheitspolitik überhaupt erst möglich gemacht hat. Der Glaube an göttliche Fügung und Schicksal verlor an Überzeugungskraft, die Lebensverhältnisse der Menschen wurden als gestaltbar erkannt. Die Gesundheit der Bevölkerung erschien nun als Teilbereich staatlicher Verantwortung für die Bürger, insbesondere auch mit Blick auf die Beseitigung oder zumindest doch Linderung von Armut als einer der wichtigsten Ursachen vieler Krankheiten.
Die Aufklärung lieferte nicht nur humanitäre Aspekte für eine auf genauer Beobachtung und Analyse basierenden Gesundheitspolitik, sondern auch das ökonomische und technische Instrumentarium dafür: „Der Merkantilismus sah in der Bevölkerung eine möglichst gut zu bewirtschaftende Quelle für den Reichtum eines Landes. Volkszählungen und Sterbetafeln waren Elemente der ‚Statistik‘, der politischen Arithmetik. Diese Motivlage findet sich auch in den medizinischen Topographien. Max Webers Definition der Bürokratie als ‚rationaler Form‘ der Herrschaft hätte in der Gesundheitsberichterstattungsbürokratie ein historisch frühes Anschauungsbeispiel gehabt. Im 19. Jahrhundert, durch Revolutionserfahrungen geprägt, kam noch das Interesse der Fürsten hinzu, Informationen über die innere Stabilität ihrer Länder zu gewinnen.“ (S. 11)
Mit diesem kurzen Rückgriff auf die Historie erschließen sich Fragestellungen und Spannungsfelder moderner Gesundheitsberichterstattung bis heute: „In den medizinischen Topographien, und das gilt gleichermaßen für die Medizinalstatistik insgesamt, findet sich also ein Amalgam aus tradierten medizinischen Ansichten sowie aus aufklärerischen, wirtschaftlichen und politischen Motiven. Diese Feststellung zielt nicht nur auf eine Archäologie vergangener Denkwege. Auch in den heutigen Gesundheitsberichten sind solche Motive präsent, allerdings vergraben unter der Oberfläche einer rationalistischen und verwaltungsorientierten Politiksprache. Dies auseinanderzulegen, ist Ziel dieses Bandes.“ (ebd.)
Entstehungshintergrund
Anlass für das Buch war ein Workshop zur Gesundheitsberichterstattung, der 2008 im Kloster Benediktbeuren stattfand. Einige Beiträge waren schon auf dem Workshop vorgetragen worden, andere wurden eigens geschrieben. Dokumentiert finden sich im Band außerdem wichtige Fragen der Abschlussdiskussion des Workshops in Benediktbeuren, zusammen mit einigen Antworten darauf, die im Nachhinein beigesteuert wurden, zum Teil in Form von kurzen Statements („Denken beim Wandern“). Das Buch setzt die Diskussion des Bandes „Gesundheit zwischen Statistik und Politik“ fort, das 2006 gleichfalls im Mabuse-Verlag erschienen ist.
Herausgeber und Autoren
An moderner Gesundheitsberichterstattung nehmen viele wissenschaftliche Disziplinen und Professionen Interesse und Anteil. Diese Heterogenität spiegelt sich in den wissenschaftlichen und beruflichen Sozialisationen der Herausgeber und Autoren des Bandes wider. Einer der beiden Herausgeber, Joseph Kuhn, arbeitet im Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, der zweite Herausgeber, Jan Böcken, ist Mitarbeiter der Bertelsmann-Stiftung. Die insgesamt 24 Autoren und Autorinnen sind Wissenschaftler an verschiedenen Hochschulen und Angehörige der Gesundheitsbürokratie in Kommunen, Bezirken und Ländern, aber auch des Robert-Koch-Instituts und der Versicherungswirtschaft. Entsprechend groß ist das Spektrum der unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema des Bandes
Aufbau und Inhalt
Der Band gliedert sich, nach einer kurzen Einführung der Herausgeber unter dem Titel „Verwaltete Gesundheit. Gesundheitsberichterstattung als Strategie der Sichtbarmachung“, in vier große Themenblöcke.
Teil 1: Historische Entwicklungslinien. Drei Beiträge berichten über frühe Gesundheitsberichte wie die Physikatsberichte im 19. Jahrhundert, die amtlichen Statistiken im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie die Jahresgesundheitsberichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland.
Teil 2: Praxisaufbrüche. Dieser umfangreichste Themenschwerpunkt des Bandes versammelt insgesamt zehn Texte, die unterschiedliche Aspekte zeitgenössischer Gesundheitsberichterstattung in den Blick rücken. Nachdem historisch im Lauf der Jahrzehnte ein breit gefächertes Spektrum an Aktivitäten entstanden war, bietet sich für die heutige Gesundheitsberichterstattung eine Fülle von Anknüpfungspunkten, aber auch bewussten Absetzungstendenzen. Das gesundheitspolitische Potential der Berichte ist nach Auffassung der Herausgeber und Autoren bisher erst ansatzweise erschlossen, und die Berichterstattung entwickelt sich „in einer Koevolution mit anderen gesundheitspolitischen Instrumenten und Institutionen“ dementsprechend auch kontinuierlich weiter“ (S. 12). Mehrere Autoren befassen sich mit dem Verhältnis zwischen Gesundheitsberichterstattung und den so genannten Gesundheitszielen oder auch den Präventionszielen der gesetzlichen Krankenversicherung. Ein Autor überprüft die Beziehung von Qualitätsberichterstattung und Gesundheitsberichterstattung. Einige Autoren widmen sich aktuellen Gesundheitsberichten oder den Vorüberlegungen und Konzeptionen dafür, wie den Bertelsmann-Gesundheitsmonitor oder den Alternativen Weltgesundheitsbericht. Ein Autor setzt sich mit der Frage auseinander, inwieweit der Rezipientenkreis von Nichtfachleuten bei der Erstellung der Berichte mitbedacht und berücksichtigt wird. Ein anderer Autor fragt nach der Möglichkeit einer Integration von Gesundheitsberichten in eine allgemeine, insbesondere in die kommunale Sozialberichterstattung. Zwei Beiträge befassen sich schließlich mit den strukturellen Voraussetzungen für Gesundheitsberichterstattung und der Ausbildungssituation für künftige Gesundheitsberichterstatter.
Teil 3: Reflexionen. In diesem Teil finden sich Beiträge rund um die Ambivalenzen der Gesundheitsberichterstattung. Problematisiert werden insbesondere ihre ‚politikrationalisierenden Ansprüche“, die sowohl aus theoretischer als auch aus empirischer Sicht relativiert werden müssen: „Stellt man die Gesundheitsberichterstattung in die Tradition der Aufklärung – und was bliebe normativ die Alternative – so übersieht man schnell, was schon Max Weber in seiner Formel für die Bürokratie als rationaler Form der Herrschaft hervorgehoben hat: Bürokratie, und das gilt auch für die verwaltete Gesundheit, hat zwei Charakteristika – Rationalität und Herrschaft. Die Verschwisterung von Vernunft und Herrschaft ist eine Spur, die von Nietzsche bis Foucault immer deutlicher herausdestilliert wurde. Diese Spur lässt sich, auf evidenten wie auf eher verborgenen Ebenen, auch in der Gesundheitsberichterstattung verfolgen. Gesundheitsberichterstattung ist kein herrschaftsfreier Diskurs.“ (S. 16) Vier Beiträge zu diesem Thema aus unterschiedlichen wissenschaftlichen und beruflichen Perspektiven nehmen die teilweise schon früher im Buch zur Sprache gekommenen Aspekte in kritischer Reflexion noch einmal auf und komplettieren den Band unter Gesichtspunkten wie ‚Normalität und Abweichung‘, ‚Konsens‘, ‚Interessen‘, ‚politische Macht‘ und ‚Legitimität‘
Teil 4: Denken beim Wandern. Dieser Abschnitt des Buches versammelt einige kurze Statements, die Antworten auf die während des Benediktbeurener Workshops formulierten Fragen zu geben versuchen. Thema ist insbesondere die Zukunft der deutschen Gesundheitsberichterstattung.
Diskussion und Fazit
Der Band bietet eine Sammlung verschiedenster Aspekte und Fragestellungen im Kontext des Themas Gesundheitsberichterstattung. Er ist die Fortsetzung eines früheren Bandes im gleichen Verlag und wird die Diskussion auch sicher noch lange nicht abschließen. Die Herausgeber benennen die Notwendigkeit eines vertieften Diskurses auch in der Zukunft mit den folgenden Sätzen, denen die Rezensentin nur beipflichten kann: „Der aufklärerische Anspruch der Gesundheitsberichterstattung und sein foucaultscher Schatten, die Interessen der beteiligten Akteure, die halbierte Integration der Berichterstattung in die Entscheidungsabläufe des Gesundheitswesens, das Eigenleben der medialen Formen der Berichterstattung: all das spricht dafür, dass die Diskussion um die Gesundheitsberichterstattung auch in Zukunft interessant bleibt.“ (S. 18)
Für ein interessiertes Fachpublikum ein wichtiger, nützlicher Band, der hoffentlich weitere Debatten anstößt.
Rezension von
Prof. Dr. Sylvia Greiffenhagen
Die Rezensentin hat bis zu ihrer Pensionierung Politikwissenschaft mit Schwerpunkt auf Sozial- und Gesundheitspolitik an der Evangelischen Hochschule Nürnberg im Fachbereich Soziale Arbeit gelehrt.
Es gibt 24 Rezensionen von Sylvia Greiffenhagen.
Zitiervorschlag
Sylvia Greiffenhagen. Rezension vom 08.10.2010 zu:
Joseph Kuhn, Jan Böcken (Hrsg.): Verwaltete Gesundheit. Konzepte der Gesundheitsberichterstattung in der Diskussion. Mabuse-Verlag GmbH
(Frankfurt am Main) 2009.
ISBN 978-3-940529-46-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8544.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.
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