Barbara Solf-Leipold: Schafft der Sozialstaat neue Klassenlagen?
Rezensiert von Dr. rer. pol. Thomas Schölderle, 02.03.2010
Barbara Solf-Leipold: Schafft der Sozialstaat neue Klassenlagen? Über Ursache, Entwicklung und Bedeutung von Versorgungsklassen.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2009.
334 Seiten.
ISBN 978-3-8300-4343-0.
88,00 EUR.
Schriftenreihe Socialia - Band 104.
Thema
Die Reform des deutschen Sozialstaates ist inzwischen seit fast zwei Jahrzehnten ein intensiv diskutierter Gegenstand öffentlicher Debatten. Wenig Beachtung fand dabei stets die Frage nach den spezifischen Auswirkungen von sozialstaatlichen Regelungen auf die Sozialstruktur der Bundesrepublik. Die vorliegende Studie versucht dieses Defizit mit Hilfe eines klassentheoretischen Konzepts zu untersuchen. Unterstellt wird, dass Unterschiede in sozialpolitischen Transfereinkommen und Unterschiede im Zugang zu öffentlichen Gütern und Diensten sowohl Versorgung, äußere Lebensstellung als auch das innere Lebensschicksal der betroffenen Personenkreise maßgeblich prägen. Daraus leitet sich die Kernfrage ab, ob der Sozialstaat zu neuen Klassenlagen führt. Konzentriert ist die Analyse dabei vor allem auf das Entstehen und die Bedeutung von sog. „Versorgungsklassen“ (Rentenbezieher, BaFöG-Studenten, Arbeitslosengeld- und Sozialhilfeempfänger) und die Anschlussfrage, ob aus der gleichgerichteten Interessenslage ein politisch bedeutsamer Organisationsgrad zur Durchsetzung der spezifischen Anliegen resultiert.
Entstehungshintergrund und Autorin
Die Studie ist eine Qualifikationsarbeit, die am Institut für Soziologie an der Universität Heidelberg erstellt wurde. Welcher Art von Qualifikation die Studie diente, geht allerdings weder aus dem Vorwort der Autorin noch aus dem Geleitwort des Erstbetreuers (Jürgen Kohl) hervor. Die Verfasserin ist diplomierte Sozialpädagogin (FH) und Soziologin (M.A.).
Aufbau
Gegliedert ist die Untersuchung in fünf Kapitel.
- An die Einleitung schließt sich im ersten Teil (25-44) eine theoretische Verortung der Fragestellung an, die in der Nachfolge der Klassenkonzeptionen von Karl Marx, Max Weber und M. Rainer Lepsius angesiedelt ist.
- Kapitel II (45-67) konzentriert sich auf die „Entstehung“ von Versorgungsklassen, während
- Kapitel III (69-233) auf die „Entwicklung“ von Versorgungsklassen in Abhängigkeit von der bundesdeutschen Sozialgesetzgebung gerichtet ist. Dieser mit Abstand umfangreichste Teil ist zugleich ein geschichtlicher Abriss über zentrale Gesetzgebungsakte der bundesdeutschen Sozialstaatsentwicklung (z.B. Rentenreformen, Hartz-Gesetze) und eine Analyse ihrer Auswirkungen auf die Konstituierung von Versorgungsklassen.
- Das vierte Kapitel widmet sich der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung der Versorgungsklassen und der Frage, ob die Klassenlage „Strukturdominanz“ erreicht, ob also die Betroffenen mit Angehörigen anderer Klassen in Konflikt geraten.
- Im abschließenden fünften Teil (267-279) wird eine synoptische Antwort auf die Titelfrage „Schafft der Sozialstaat neue Klassenlagen?“ versucht.
Ergänzt wird das Buch durch einen ausgesprochen umfangreichen Anhang (285-315), der in Tabellenform – hauptsächlich für den Zeitraum von 1984 bis 2004 – Daten zur Arbeitslosigkeit, Sozialleistungsquote oder zur Rentenentwicklung liefert.
Inhalt
Der zentrale Begriff der Studie „Versorgungsklassen“ geht zurück auf M. Rainer Lepsius, der in einem Aufsatz von 1979 („Soziale Ungleichheit und Klassenstruktur der Bundesrepublik Deutschland“) das klassentheoretische Modell von Max Weber erweiterte. Unterschied Weber innerhalb seiner Analyse der Gesellschaftsstruktur zwischen Besitz-, Erwerbs- und sozialer Klasse, so fügte Lepsius dieser Typisierung erstmals die Kategorie der „Versorgungsklassen“ hinzu. Gemeint ist damit eine soziale Gruppe, „die durch Versorgungsansprüche gegenüber dem Sozialversicherungssystem und durch Versorgungschancen über öffentliche Güter bestimmt wird“ (30 f.; zit. nach Lepsius). Versorgungsklassen gelten demzufolge als „ein neues, wohlfahrtstaatlich geschaffenes Element der Sozialstruktur“ (31; zit. nach Lepsius).
In der Tat, das weist die Studie von Solf-Leipold nach, „hat sich die Zahl derer, die ihren Lebensalltag in Abhängigkeit sozialstaatlicher Leistungen zu bewältigen haben, im Verlaufe der Zeit kontinuierlich erhöht“ (230). Der Kreis der Leistungsbezieher ist im Vergleich zur Grundgesamtheit der Bevölkerung stetig gewachsen. Auch resultieren aus den sozialstaatlichen Regelungen stets positive wie negative Privilegierungen. Die Ausgangshypothese, dass für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung die Haupteinnahmequelle aus sozialen Transferleistungen besteht und dass ihre soziale Lage dadurch maßgeblich bestimmt wird, impliziert ferner eine daraus folgende gemeinsame Interessenslage. Ob diese allerdings auch dazu führt, dass die Klassenlage Strukturdominanz erlangt, d.h. dass die jeweiligen Versorgungsklassen ein Konfliktpotenzial im Vergleich zu anderen Klassen ausbilden, ist damit noch nicht geklärt. Die Antwort fällt höchst differenziert, in der Tendenz aber deutlich negativ aus. So kommt die Studie insgesamt zu dem Ergebnis, dass die Interessensorganisation und -durchsetzung von Versorgungsklassen höchst uneinheitlich ist. Die differenzierte Leistungsstruktur des deutschen Sozialrechts hat auch eine differenzierte Organisationsstruktur zur Folge. Daher kann, so die Autorin, auch „die Ausbildung eines alle Versorgungsklassen übergreifenden Klassenbewusstseins (…) verneint werden“ (263). Am ehesten ist noch bei der Gruppe der Rentenbezieher eine günstige Ausgangslage für die Interessensorganisation gegeben: Ihr Status ist, anders als bei allen anderen Gruppen von Sozialleistungsbeziehern, auf Dauer angelegt. Und auch die gesellschaftliche Anerkennung steht nicht in Frage, weil die Nach-Erwerbsphase in jeder Lebensbiografie grundsätzlich angelegt ist. Für den faktisch geringen Organisationsgrad und das letztlich auch dort fehlende Klassenbewusstsein ist nicht zuletzt das Äquivalentsprinzip von Beiträgen und Leistungen verantwortlich. Es führt dazu, dass Statusunterschiede aus dem Erwerbsleben auch im Rentenalter erhalten bleiben. Auch in der Gruppe der Arbeitslosengeld- bzw. Sozialhilfeempfänger gibt es nur wenig Ansatzpunkte zur Selbstorganisation. Die höchst unterschiedlichen Gründe für Arbeitslosigkeit und die Ausrichtung an der (Wieder-)Eingliederung in die Erwerbsarbeit lassen prinzipiell sehr heterogene Empfängerstrukturen entstehen.
Diskussion
Die Studie ist keine Arbeit, bei der starke Thesen dominieren oder pointiert ein Kurswechsel in der Sozialpolitik eingefordert wird. Die Diskussion über einen vermeintlich „überbordenden“ Sozialstaat wird überhaupt nicht zum Gegenstand der Analyse. Die Perspektive ist ausgesprochen empirisch und deskriptiv. Über lange Passagen referiert die Autorin Theorien der Wohlfahrtsstaatenanalyse oder zeichnet wichtige Stationen der sozialstaatlichen Entwicklung der Bundesrepublik nach.
Auch die erkenntnisleitende Fragestellung „Schafft der Sozialstaat neue Klassenlagen?“ wird letztlich sehr vorsichtig beantwortet: Ja, der Sozialstaat fördert die Entstehung von Versorgungsklassen; aber andererseits wird diese Tendenz auch durch weitere Einflussgrößen deutlich relativiert. Und wirklich bedrohlich scheint das Ganze für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu sein. Zumindest ein großes, gar revolutionäres Konfliktpotenzial erwächst daraus wohl kaum.
Der methodische Ansatz setzt prinzipiell voraus, dass sich die Sozialstruktur nach wie vor unter dem Aspekt der Klassenstruktur analysieren lässt. Für den Fortgang der Untersuchung erweist sich diese Perspektive zumindest nicht als hinderlich; sie profitiert letztlich aber auch davon, dass die Verfasserin den klassentheoretischen Ansatz (im Sinne vertikaler hierarchischer Gesellschaftsstrukturierung) mit zusätzlichen Erklärungspotenzialen (horizontaler Ausdifferenzierung) aus der neueren Ungleichheitsforschung verbindet. Dergestalt erweist sich die Anwendung der Theorie als ebenso praktikabel wie reflexiv. So führt sie einerseits zu durchaus neuen Erkenntnissen; anderseits stellen manche Resultate der Studie ihrerseits wiederum einige Prämissen der Theorie in Frage.
Fazit
Alles in allem eine ausgesprochen gründliche, konzentrierte und flüssig geschriebene Studie, die einige interessante Entwicklungen des bundesdeutschen Sozialstaates zutage fördert und deren Aussagen und Ergebnisse allesamt sorgsam abgewogen und empirisch untermauert sind.
Rezension von
Dr. rer. pol. Thomas Schölderle
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Es gibt 14 Rezensionen von Thomas Schölderle.
Zitiervorschlag
Thomas Schölderle. Rezension vom 02.03.2010 zu:
Barbara Solf-Leipold: Schafft der Sozialstaat neue Klassenlagen? Über Ursache, Entwicklung und Bedeutung von Versorgungsklassen. Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2009.
ISBN 978-3-8300-4343-0.
Schriftenreihe Socialia - Band 104.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8551.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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