Manfred Lütz: Irre - Wir behandeln die Falschen
Rezensiert von Ilja Ruhl, 25.11.2009
Manfred Lütz: Irre - Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die NormalenEine heitere Seelenkunde. Gütersloher Verlagshaus Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH (Gütersloh) 2009. 192 Seiten. ISBN 978-3-579-06879-4. D: 17,95 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 31,90 sFr.
Zu dem Titel liegt eine Leseprobe vor.
Thema
Das Thema „Psychische Erkrankungen“ spielt eine immer größere Rolle in der Öffentlichkeit. Trotz der vielfältigen Informationen, die sich z.B. in den Medien zu diesem Thema finden, begegnen viele Personen psychisch erkrankten Menschen mit Unsicherheit, Vorbehalten oder gar Vorurteilen. Der Autor hat sich zum Ziel gesetzt, mit seinem Buch den LeserInnen diese Beklommenheit zu nehmen und für Offenheit gegenüber Menschen mit psychischer Erkrankung zu werben.
Autor
Manfred Lütz, Jahrgang 1954, ist Facharzt für Nervenheilkunde, Psychiatrie und Psychotherapie, Chefarzt des Alexianer-Krankenhaus Köln sowie Diplom-Theologe. Er äußert sich im Rahmen vielfältiger Auftritte im Fernsehen und in Textbeiträgen überwiegend zu theologischen und gesellschaftlichen Themen. Seine Bücher sind Bestseller und befassen sich z.B. mit dem Gesundheitswahn oder mit der Gottesfrage.
Aufbau und Inhalt
- Unser Problem sind die Normalen. Der Autor beginnt seine „heitere Seelenkunde“ (Coverslogan) mit einem Kapitel, in dem er die These vertritt, dass das eigentliche Problem in der Gesellschaft nicht die verrückten Menschen, sondern die normalen seien. Einführend nennt er Personen wie Hitler, Stalin oder die nordkoreanischen Diktatoren als Beispiel dafür, wie viel Gefahr von den Normalen ausgeht, eben von jenen, die nicht verrückt bzw. psychisch krank sind. Diesem Unterkapitel schließt sich eine Kulturkritik des Normalen an. In dieser gesellschafts- bzw. kulturkritischen Auseinandersetzung wird vor allem die Gleichförmigkeit, der Zwang der Menschen, sich dem Mainstream anzupassen, der Hang zur Spießigkeit beklagt.
- Warum behandeln und wenn ja wie viele? Über Unsinn und Sinn von Psychiatrie und Psychotherapie. Im zweiten Kapitel stellt Lütz die Aufgaben der Psychiatrie und Psychotherapie dar. Er gibt einen knappen Überblick über die Versorgungsstrukturen (z.B. tagesklinische Angebote) und die historischen Veränderungen (z.B. Verringerung der Liegezeiten). Anschließend werden die verschiedenen Erklärungsmodelle bzw. -ansätze der psychischen Erkrankungen vorgestellt, wobei hier letztlich das integrative Modell favorisiert wird, das biologische und lebensgeschichtliche Faktoren mit einander verbindet. In einem Unterkapitel geht Lütz auch auf die von der Neurowissenschaft angestoßene Diskussion bezüglich der Freiheit des Willens ein. Das Kapitel endet mit einer Darstellung der verschiedenen therapeutischen Ansätze, wobei sich der Autor hier nicht nur auf die durch die Kostenträger anerkannten Methoden der Psychotherapie beschränkt, sondern auch weitere – wie die Systemische Therapie – vorstellt. Neben den nicht-biologischen Verfahren werden auch die psychopharmakologische Therapie sowie die Elektrokrampftherapie erörtert.
- Heitere Seelenkunde – Alle Diagnosen, alle Therapien. In diesem Kapitel gibt Lütz einen Überblick über verschiedene psychische (bzw. neurologische) Erkrankungen und erötert jeweils die gängigen Behandlungsmethoden. Zunächst erläutert er die Demenz und andere hirnorganische Störungen, um dann ausführlich auf die Alkoholabhängigkeit und ihre Therapie einzugehen. In einem weiteren Unterkapitel geht es dann um die Schizophrenie, hier wird auch ausführlich mit dem früheren Vorurteil aufgeräumt, die Mütter der Betroffenen hätten eine Mitschuld an der Erkrankung ihrer Kinder.
Im Anschluss an die Erläuterungen zur Schizophrenie beleuchtet der Autor die Depressionen und die Bipolare Störung. Unter der Überschrift „Menschliche Variationen“ befasst sich Lütz mit der Posttraumatischen Belastungsstörung, den Ess-, Dissoziativen und Persönlichkeitsstörungen.
Nach den Ausführungen zu den einzelnen psychischen Erkrankungen und deren Therapie kehrt der Autor zur Grundthese des Buches zurück und reflektiert nochmals kurz das Verhältnis von Normalität und Krankheit/Abweichung.
Diskussion
Das Buch „Irre! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen“ hinterlässt beim Rezensenten gemischte Gefühle. Einerseits hat Lütz sicherlich vielen Betroffenen und ihren Angehörigen einen großen Dienst erwiesen, wirbt er doch für mehr Verständnis und Unbefangenheit gegenüber Menschen mit psychischer Erkrankung. Auch zeichnet er ein anderes Bild der Psychiatrie, als jenes negative, das in vielen Köpfen noch weit verbreitet ist. Andererseits ist er bei der Fundierung seiner Grundthese nicht immer stringent und macht es sich bei der Darstellung der psychischen Erkrankungen und ihrer Therapien stellenweise zu einfach und trennt nicht immer die eigene Meinung von der Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Da wird die Tatsache, dass der Begriff der „Rasse“ heute nicht mehr zu Unterscheidung von Menschen verwendet wird, auf die Verbreitung der Political Correctness zurückgeführt (S. 10) obwohl dieser schon lange nur noch in der Tierzucht legitim ist. Lütz schreibt an anderer Stelle aus reiner Effekthascherei von den „nichtentmündigten Frauen“ (S. 15) und suggeriert ausgerechnet in einem Buch über psychische Erkrankungen, dass es noch die Entmündigung gibt. In Form einer Kultur- bzw. Gesellschaftskritik schwadroniert sich Lütz durch die angebliche Angepasstheit der Menschen, unterstellt allerorten vorherrschende Uniformität und die weitverbreitete Unfähigkeit, ein Buch zu lesen. Hier wird nicht immer klar, was mit einem Augenzwinkern gemeint ist (eben „heitere Seelenkunde“) und an welchen Stellen es Lütz ernst ist.
Auch dass sich der Autor einerseits giftend an der Person Dieter Bohlen und seinen Ex-Partnerinnen sowie dessen Kooperation mit „der Presse“ abarbeitet und andererseits keine Skrupel hat, sein Buch in der Bild-Zeitung zu bewerben, zeugen vom hohen Maß moralischer Flexibilität, die der Autor in sich trägt. Aber Schwamm drüber, es ist ja für den guten Zweck und der heiligt bekanntlich die Mittel.
Die Stärke des Buches liegt in der sehr gut verständlichen und kurzweiligen Beschreibung psychischer Erkrankungen und der aktuellen Therapiemethoden. Auch die selbstkritische Sicht auf die Grenzen des Fachs Psychiatrie und die Darstellung der psychiatrischen Diagnostik als hilfreiches Konstrukt verdienen Anerkennung. Großem Raum wird dem lösungsorientierten Ansatz von de Shazer eingeräumt, was sich interessant liest und den LeserInnen den Blick dafür öffnet, wie hilfreich das Denken um die Ecke manchmal sein kann. Lütz nimmt Bezug auf viele falsche Vorstellungen über psychische Erkrankungen und macht z.B. darauf aufmerksam, dass es sich bei der Schizophrenie eben nicht um eine Persönlichkeitsspaltung handelt.
Insgesamt unterlaufen dem Autor in der Darstellung der Krankheiten und Therapien nur selten kleinere Schnitzer oder gröbere Ungenauigkeiten. So wird das Nebenwirkungsspektrum heutiger Psychopharmaka ziemlich verharmlosend dargestellt und behauptet, die aktuellen Medikamente (Neuroleptika und Antidepressiva) hätten viel weniger Nebenwirkungen als ihre Vorgänger (S. 76) was schlichtweg falsch ist. Tatsächlich haben die heutigen Präparate – zumindest was die Neuroleptika betrifft – andere Nebenwirkungen, nicht unbedingt weniger oder weniger schwerwiegende. Auch das der Verzicht auf eine psychopharmakologische Behandlung ein Kunstfehler sei (S. 73), ist so nicht haltbar. Solche Aussagen sind sicherlich dem Umstand geschuldet, dass in einem Buch für eine große Leserschaft die aktuelle Debatte im Fach Psychiatrie nicht einerseits nachvollziehbar und andererseits leicht lesbar zu erläutern ist.
Unwissenschaftlich ist die Behauptung, dass „der Zusammenbruch der Esskultur [eine] wichtige Ursache für die Zunahme von Trunk- und Esssucht“ (S. 106) sei. Auch für die vom Autor beschriebene Zunahme der Borderline-Störung (S. 173) gibt es keine Belege. Lütz verwechselt hier die Häufigkeit der diagnostizierten Fälle mit der tatsächlichen Verbreitung der Störung in der Bevölkerung. Lediglich in Bezug auf die Depressionen mehren sich die Hinweise auf eine tatsächliche Zunahme. Für weitere psychische Erkrankungen bzw. Störungen gibt es unter strenger Beachtung der epidemiologischen Standards diesbezüglich keine Anhaltspunkte.
Gewünscht hätte ich mir persönlich noch ausführlichere Informationen zur Borderline-Persönlichkeitsstörung, da diese in den Medien in der jüngsten Vergangenheit häufig im Zusammenhang mit Kindesmisshandlung bzw. -verwahrlosung genannt wurde und zu befürchten ist, dass hier ein schiefes Bild in der Bevölkerung entsteht. Auch wird nach meinem Geschmack insgesamt der Alkoholabhängigkeit im Vergleich zu den anderen dargestellten Erkrankungen und insbesondere gegenüber den Persönlichkeitsstörungen zu viel Raum gegeben.
Fazit
Lütz ist mit seinem Buch „Irre! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen“ insofern ein großer Wurf gelungen, als er in gut verständlicher Form und überwiegend kurzweilig eine Einführung in die einzelnen psychischen Erkrankungen sowie ihrer Therapie gibt. Für die Betroffenen, die Angehörigen und für die Psychiatrie selbst ist es sicherlich ein Segen, dass er seine Popularität als Bestseller-Autor nutzt, um die Leserschaft über ein vorurteilbelastetes Gebiet zu informieren. Seine Grundthese, das Problem seien in der Gesellschaft nicht die Irren, sondern die Normalen hat Charme und wird vom Rezensenten auch nicht grundsätzlich zurückgewiesen. Die Ausrichtung der Argumentation erinnert aber doch zu häufig an andere aktuelle kulturpessimistische Publikationen und lässt den Eindruck entstehen, dass der Autor die gesellschaftliche Vielfalt im „Normalen“ nicht wahrnimmt oder bewusst unterschlägt. Empfohlen sei das Buch aber trotzdem als besonders lesenswert jenen, die sich als Laien für die Thematik „Psychische Erkrankung“ interessieren. Betroffene und Angehörige können sicher von Büchern, die die spezifische Erkrankung erläutern, mehr profitieren. Profis werden nicht viel Neues lesen, aufschlussreich ist aber die positive, nicht selten selbstkritische professionelle Haltung des Autors, die immer wieder durchblitzt. Hier finden sich verschiedene Anregungen, die helfen, die eigene Arbeit und das Grundverständnis des Handelns als Profi im psychiatrischen Bereich zu hinterfragen.
Rezension von
Ilja Ruhl
Soziologe M.A.
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Zitiervorschlag
Ilja Ruhl. Rezension vom 25.11.2009 zu:
Manfred Lütz: Irre - Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die NormalenEine heitere Seelenkunde. Gütersloher Verlagshaus Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
(Gütersloh) 2009.
ISBN 978-3-579-06879-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8569.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
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