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Gerald Weischede, Ralf Zwiebel: Neurose und Erleuchtung

Rezensiert von Dr. Ulrich Kobbé, 02.02.2010

Cover Gerald Weischede, Ralf Zwiebel: Neurose und Erleuchtung ISBN 978-3-608-89087-7

Gerald Weischede, Ralf Zwiebel: Neurose und Erleuchtung. Anfängergeist in Zen und Psychoanalyse. Ein Dialog. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2009. 240 Seiten. ISBN 978-3-608-89087-7. 24,90 EUR. CH: 42,80 sFr.
Reihe: Leben lernen - 226.

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Thema

„Psychoanalyse und Zen-Buddhismus sind unterschiedliche Erfahrungswege, die jedoch viele Ziele gemeinsam haben: Einsicht, Empathie und Heilung. In einem sich schrittweise vertiefenden Dialog werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet.“ (Klappentext)

Autoren

Gerald Weischede ist Gestalt- und Körpertherapeut sowie Zen-Lehrer mit 30-jähriger Praxis in Zen-Buddhismus.

Ralf Zwiebel ist Psychoanalytiker in eigener Praxis, Professor für Psychoanalytische Pädagogik an der Universität Kassel sowie meditativ Zen-Übender.

Entstehungshintergrund

Die Autoren begegneten sich (und dem gemeinsamen Schnittpunkten von Zen und Psychoanalyse) vor über 15 Jahren in Seminaren des amerikanischen Zen-Meisters Richard Baker Roshi. Ihren sich anschließenden Dialog über Ähnlichkeiten und Unterschiede beider Wege miteinander und mit Studierenden stellen sie – zumal sie in ihrem Dialog „Feuer gefangen hatten“ (S. 7) – zu einem hier in Buchform vorliegenden Reader zusammen: Ihr Wunsch ist, „die komplexe Thematik von Zen und Psychoanalyse aus unserer ganz eigenen, persönlichen Sicht darzustellen – oder besser: zur Diskussion zu stellen“ (S. 7-8).

Aufbau

Das Buch beginnt in Kapitel II – für eine Zen-Praxis durchaus üblich, für den psychoanalytischen Diskurs mit Abstinenz- und Neutralitätsregel gänzlich unkonventionell – mit einer Vorstellung beider „persönlicher Wege zum Zen“, vertieft diesen Ein- und Überblick dann mit einer sich dialogisch, fast teleskopartig weiterentwickelnden Darstellung der Praxen von Zen und Psychoanalyse (Kapitel III). Dabei werden skizzierte Zen-Praxen jeweils aus psychoanalytischer Sicht, vorgestellte Praxen der Psychoanalyse aus zen-fundierter Sicht kommentiert. Der Dialog mündet in ‚abschließende Überlegungen‘ zur ‚Dynamik von Präsenz und Reflexion‘ (Kapitel IV).

Inhalt

Um den Inhalt dieser sich dialogisch gestaltenden Progression und Erarbeitung wiederzugeben, soll zunächst auf die inhaltliche Strukturierung der Themenbereiche durch die Autoren im Kapitel III ‚Zen und die Praxis der Psychoanalyse – Vertiefungen‘ rekurriert werden:

  1. Eine kurze Einführung
  2. Literaturübersicht
  3. Praxis des Zen
    1. Grundlagen der Praxis
    2. Über das ‚Selbst‘
    3. Über Geist und Bewusstsein
    4. Über das Leiden
    5. Zum Begriff der Leerheit
  4. Praxis der Psychoanalyse
    1. Über die psychische Arbeit des analytischen Paares: Verarbeiten – Durcharbeiten – Nacharbeiten
    2. Die affektive Regulierung der therapeutischen Beziehung am Beispiel des Weinens
    3. Allein-Sein in der Gegenwart des Anderen: Die Praxis des lebendigen analytischen Kontaktes
    4. Gelingen und Scheitern: Dilemmata heutiger psychoanalytischer Praxis

Was an diesen inhaltlichen Wegmarken noch nicht deutlich wird, ist ein Verständnis der Zen-Übung als spezifisch zen-buddhistischer Weg, d. h. neben grundsätzlichen Meditations- und Erkenntnisprinzipien des Zen, wie sie auch in bspw. taoistisch, konfuzianisch, auch shintoistisch beeinflussten Zen-Entwicklungen und in verschiedenen Zen-Linien mit ihren variierenden Voraussausetzungen und Praxen gemeinsam sind, werden zugleich speziell buddhistische Inhalte – z. B. der Bedeutung, Funktion und Wirkweise eines Studiums der ‚fünf Skandhas‘ innerhalb zen-buddhistischer Meditationsprozesse – vorgestellt und diskutiert.

Diskussion

Die Autoren führen nicht nur einen Dialog (vor), sondern stellen diesen explizit zur Diskussion. Der Rezensent ist psychoanalytisch ausgebildeter Psychotherapeut und parallel selbst auch langjährig Zen-Übender. Vor diesem Verständnis- und Praxishintergrund mit mehrfachem Erkenntnisinteresse ergeben sich eine Reihe von den Text befragenden Irritationen und ihn rezensierend diskutierenden Anfragen:

  • Weischede und Zwiebel formulieren axiomatisch, das Buch sei „der Versuch […], über zwei Selbsterforschungs- und Heilungswege in einen Dialog zu kommen“ (S. 9). Dem Aspekt der Selbsterforschung vermag der Rezensent uneingeschränkt zuzustimmen, doch suggeriert der Begriff der ‚Heilung‘ ein identisches – oder zumindest analoges – und in dieser Form problematisch erscheinendes Verständnis von Heilung als einer bewirkten Gesundung von Krankheit: Die psychoanalytische Krankheitslehre bezieht sich auf Struktur, Dynamik und Genese von Krankheitsbildern, die symptomatisch als Neurosen (Phobien, Konversionshysterien, Zwangsneurosen), als Psychosen (schizophrene, depressive, manische ~), als strukturelle Persönlichkeitsstörungen und psychosomatische Störungen – meist – psychiatrisch bedeutsam sind. Der Heilungsbegriff der Zen-Praxis jedoch bezieht sich definitiv nicht auf derartige Erkrankungen, sondern versteht unter ‚Krankheit‘ eine Verstrickung des Menschen in Selbsttäuschungen, Illusionsbildungen und Verblendungen, unter ‚Heilung‘ demzufolge ein ‚Erwachen‘ aus dieser Verhaftung in blockierenden Verengungen und Vereinseitigungen des Fühlens, Denkens, Handelns: „Zen eignet sich eindeutig nicht dazu, psychische oder neurologische Probleme zu beheben“, bringt dies die Zen-Meisterin Jiho Sargent auf den Punkt. Auch die am Ende – verspätet – vorgenommene Definition, Zen sei „eher ein Heilsweg“, Psychoanalyse aber „ein Heilungsweg“ (S. 254), rettet diesen bis dahin mitunter irreführend durchdeklinierten Ansatz nicht mehr.
  • Ähnlich irritierend ist die von Weischede und Zwiebel vorgenommene Kontrastierung von „buddhistischem“ mit „westlichem“ Denken. Wie im Titel des Buches in seiner logisch wie methodisch angreifbaren Paarung und Parallelisierung von „Neurose und Erleuchtung“ werden auch hier pauschalisierende Vergleiche höchst ungleicher Inhalte vorgenommen: Entweder müssten ‚buddhistischen‘ z. B. ‚christliche‘ Denkwege oder aber vermeintlich typisch ‚fernöstlichen‘ als speziell ‚westlich‘ vermutete Haltungen gegenübergestellt werden.
  • Neben diesen griffigen Verkürzungen muss jedoch viel grundlegender danach gefragt werden, inwiefern der Abgleich einer buddhistisch begründeten Zen-Praxis mit der Behandlungspraxis der Psychoanalyse statthaft erscheint, ob und wie also eine religiöse mit einer psychotherapeutischen Praxis verglichen werden kann … Einerseits wird ‚Psychoanalyse‘ von den Autoren auf (1) eine psychoanalytische Psychotherapie – und implizit auf (2) eine Krankheitslehre – reduziert. Dies mag der bundesrepublikanischen Subsummierung psychoanalytischer Behandlung unter eine strategische Krankenversicherungslogik und -ökonomie geschuldet sein, verkürzt ‚Psychoanalyse‘ – trotz einer Problematisierung ihrer „Einbindung […] in das gegenwärtige kassenärztliche Psychotherapie-System“ (S. 248-249) – jedoch um deren Aspekte (3) einer eigenständigen Forschungsmethode, (4) einer Metapsychologie als spezifische Erkenntnistheorie und (5) einer Subjekttheorie i. S. einer Entwicklungs- und Persönlichkeitslehre.
  • Der andere zentralere Dollpunkt der Diskussion betrifft die trotz des Verweises auf Zen-Definitionen bei Kapleau (S. 11-12 Fn 1) vorgenommene Verengungen des Zen-Weges und der Zazen-Praxis auf einen zen-buddhistischen Meditationsweg. Dem ist in seiner Generalisierung letztlich zu widersprechen: In einer aktuellen Definition skizziert Willigis Jäger, Meister (Kyo-un Roshi) der Zen-Linie Sanbô Kyôdan, Zen sei eine besondere Überlieferung außerhalb der orthodoxen Lehre des Taoismus und unabhängig von den heiligen Schriften des Buddhismus. Geradezu provokant sekundiert der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh, Zen sei zwar ursprünglich direkt von Buddha übermittelt worden, habe aber überhaupt nichts mit den buddhistischen Schriften und Lehren zu tun, da Zen sich nicht in diesen Schriften finden lasse und nicht auf Wörter oder Buchstaben gegründet sei. Konsequenter noch radikalisiert der japanische Zen-Meister Kodo Sawaki Roshi, alle buddhistischen Schriften seien nur Fußnoten zu Zazen.

Fasst man jedoch Zen als spirituelle Praxis einer „Schau des eigenen Wesens“ (Jäger), wird der Ansatz eines Abgleichs zweier Selbsterforschungswege nicht nur diskursmethodisch ‚statthaft‘, sondern zudem durchaus sinn- und verdienstvoll. In einem zen-typischen Bild werden die zwar im ‚Besitz‘ von Wissen, nicht jedoch Weisheit befindlichen Wissenschaftsgelehrten als Narren beschrieben, die den auf den Mond zeigenden Finger der leeren Hand mit diesem Mond selbst verwechseln. Weischede und Zwiebel gelingt das durchaus heikle Kunststück, der Versuchung intellektueller Fingerübungen des fixierten Zeigens auf den Mond zu entkommen. Ein Rezensent schaut dennoch zwangsläufig zunächst auch auf den Finger der Autoren. Entsprechend folgt an dieser Stelle explizit die Empfehlung sowohl der Buchlektüre als auch einer eigenständig entwickelten Ansichtsweise: Den Mond muss man selber schauen …

Fazit

Der als Reader konzipierte Dialog ermöglicht ein Mitlesen der Diskussion zwischen den zen-buddhistisch und psychoanalytisch begründeten Sichtweisen des Menschen, seiner (neurotischen) Selbstentfremdung und der möglichen Wege aus dieser Selbstblockade.

Bedauerlich ist dabei zwar die Verengung der Zen-Praxis auf spezifisch zen-buddhistische Auffassungen, doch wird dies durch die Behandlung zentraler Themenstellungen und charakteristischer Praxen beider Disziplinen prinzipiell wettgemacht. Zu Recht verweisen die Autoren darauf, dass 1957 die von Erich Fromm mit Daisetz Teitaro Suzuki und Richard de Martino initiierte Auseinandersetzung psychoanalytischer Praktiker mit Zen (und Zen-Buddhismus) abgerissen ist und reaktivierender Impulse bedarf; dies haben Weischede und Zwiebel verdienstvoll aufgenommen, gelungen i. S. komplementärer Praxisverständnisse entwickelt und einem wechselseitigen Perspektivenwechsel von Zen und Psychoanalyse zugeführt. Diese Grundlagenarbeit ist besonders da bedeutsam, wo sowohl Weischede als auch Zwiebel den Prämissen und Standards jeweiliger Diskursstrukturen in Zen-Buddhismus wie Psychoanalyse verpflichtet sind und diese mutig überschreiten: Doch nur in reflektierter Außerkraftsetzung tradierter Wissensregeln und puristischer Wissenschaftskonventionen wird ihnen diese gemeinsame Übersetzungsarbeit der jeweiligen Begriffsrepertoires und Denksysteme zu einer dialogisch-komplementären Selbstaufklärung über Grenzen und Chancen beider Erfahrungswege möglich.

Als ‚work in progress‘ verdient dieser mutige und ergebnisoffene Grenzdiskurs eine interessierte Beachtung, vorurteilsfreie Aufnahme und achtsam-kritische Begleitung nicht nur von ohnehin psychoanalytisch-psychotherapeutisch und/oder zen-spirituell involvierten, sondern gerade auch aus anderen Beweg- und Weggründen thematisch angeregten LeserInnen.

Rezension von
Dr. Ulrich Kobbé
Klinischer und Rechtspsychologe, forensischer Psychotherapeut, Supervisor und Gutachter
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Es gibt 25 Rezensionen von Ulrich Kobbé.

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ISSN 2190-9245