Thomas Hertling: Jungen und Männer heute
Rezensiert von Angela Schmidt-Bernhardt, 13.01.2010

Thomas Hertling: Jungen und Männer heute. Die erschwerte männliche Sozialisation in der modernen Gesellschaft und ihre Folgen.
Lit Verlag
(Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2008.
208 Seiten.
ISBN 978-3-8258-1602-5.
24,90 EUR.
CH: 38,90 sFr.
Reihe: Reform und Innovation - Band 9.
Thema
Thomas Hertling widmet sich den
gegenwärtigen Realitäten und Schwierigkeiten männlicher
Identitätsfindung und setzt sich kritisch mit der sozialen
Konstruktion von Männlichkeit auseinander. Er fokussiert
Verluste und Einschränkungen, die das Mann-Sein in den
derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen mit sich bringt, und die
die männliche Identitätskonstruktion mit
beeinflussen.
Hierzu gehören die Überbetonung der
männlichen Erwerbsarbeit ebenso wie die Abwesenheit des Vaters
bei der Kindererziehung und die fehlenden männlichen
Bezugspersonen in Kindheit und Jugend.
Der Autor plädiert
vehement für die Vision pluraler männlicher Identitäten
und skizziert notwendige politische, pädagogische und
gesellschaftliche Transformationen. So arbeitet er die erforderliche
Veränderung in den Elternrollen heraus und richtet den Blick auf
notwendige schulische Veränderungen, insbesondere hinsichtlich
einer reflexiven Koedukation. Die Vision einer emanzipierten
Männlichkeit bildet den Abschluss seiner Ausführungen.
Aufbau und Inhalt
Interessant an der Lektüre ist weniger der weitgehend bekannte Rundumschlag in der Kritik an der Perpetuierung des traditionellen Männerbildes, sondern vielmehr das Entdecken von Ansätzen emanzipierter Männlichkeitsvorstellungen in der Gegenwart. Walt Disneys ‚Fluch der Karibik‘ und Nintendos ‚Pokemón‘ werden als gelungene Beispiele von Männlichkeitsdarstellungen analysiert, denen es gelingt, kreativ Geschlechtsstereotypen zu überwinden. Ebenso entdeckt Hertling im Umgang mit dem Körper Ansätze zur Überwindung der vorherrschenden Geschlechtsstereotypen. So erkennt er eine Tendenz zur Androgynisierung durch Kleidung und Styling bei der aktuell heranwachsenden Generation junger Männer und arbeitet dies insbesondere am Phänomen des metrosexuellen Stils heraus.
Während die Reflexionen zur
notwendigen Veränderung elterlichen Erziehungsverhaltens wenig
neue Erkenntnisse oder Anstöße bringen, sind die
Überlegungen zu Veränderungen im koedukativen
Schulunterricht durchaus interessant. Hertling rekurriert auf
Ansätze zur ‚reflexiven Koedukation‘: „Das
Ziel reflexiver Koedukation besteht (…) darin, jegliche
Geschlechterstereotypisierung in der Schule abzubauen und die
Potenziale von Jungen und Mädchen in jedem Fach bestmöglich
zu fördern. Ohne zu stereotypisieren sollten hierbei die derzeit
infolge der Sozialisation teils geschlechtsabhängig auftretenden
unterschiedlichen Interessen und Erfahrungen der Kinder ebenso
berücksichtigt werden wie deren individuelle Lernbedürfnisse.“
(S.157). Er verweist als positives Beispiel auf den österreichischen
Lehrplan für die höhere allgemeinbildende Schule, in dem
auf die Notwendigkeit geschlechtsspezifischer Reflexion seitens der
Lehrkräfte und auf ‚bewusste Koedukation und
geschlechtssensible Pädagogik‘ (S.157) hingewiesen
wird.
Die Vision des emanzipierten Mannes und der
geschlechtergerechten Beziehungen beinhaltet – so der Autor –
eine Welt, in der dem Mann eine uneingeschränkte Identifikation
mit seinen Gefühlen möglich ist.
Hier siedelt er die
Aufgabe geschlechtsbewusster Jungenarbeit an, indem sie „eine
Erweiterung des männlichen Handlungsspektrums um weiblich
konnotierte Kompetenzen als Bereicherung auffasst und dementsprechend
zu vermitteln versucht“ (S.180).
Die Aufhebung der
Geschlechterpolarisierung vertritt der Autor als vorrangiges Ziel,
als Voraussetzung und Möglichkeit einer hierarchiefreien
Begegnung der Geschlechter und dementsprechend als Voraussetzung
gelingender Beziehungsgestaltung.
Fazit
Lesenswert ist Hertlings Buch
für mit der Thematik noch nicht Vertraute, beispielsweise als
Einführung in die Thematik der Koedukation für
Pädagogikstudierende. Bedauerlicherweise fehlt weitgehend eine
vertiefte theoretische Auseinandersetzung mit der Problematik. Indiz
dafür ist das Literaturverzeichnis, das mehr Lücken
aufweist als es Lücken schließt. Eine kritische –
auch selbstkritische – Herleitung und Einordnung der
konstruktivistischen Position wäre wünschenswert gewesen.
Etwas mehr theoretisches Fundament hätte den Ausführungen
nicht geschadet.
So lässt sich das Buch vor allem als
eindringlicher – und durchaus überzeugender - Appell zum
Umdenken und zur Veränderung in Familie und Schule verstehen.
Rezension von
Angela Schmidt-Bernhardt
wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Philipps-Universität Marburg im Fachbereich Erziehungswissenschaft
Mailformular
Es gibt 8 Rezensionen von Angela Schmidt-Bernhardt.