Saskia Heyden: Missbrauchstäter
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 09.01.2010
Saskia Heyden: Missbrauchstäter. Schattauer (Stuttgart) 2009. 208 Seiten. ISBN 978-3-7945-2633-8. D: 34,95 EUR, A: 36,00 EUR.
Autorinnen und Überblick
Saskia Heyden ist approbierte psychologische Psychotherapeutin und arbeitet mit den Schwerpunkten psychoanalytische und tiefenpsychologische Psychotherapie in eigener Praxis in München. Kerstin Jarosch ist Redakteurin und freie Wissenschaftsjournalistin und hat zahlreiche Fachartikel in den Bereichen Medizin und Psychologie publiziert.
Den Autorinnen geht es um die Versachlichung der Diskussion um die Thematik „Sexueller Missbrauch“ und führen dazu die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema zusammen. Neben Klassifikationsversuchen unterschiedlicher Tätertypen liegt der Fokus auf den Entstehungsbedingungen von Missbrauchsverhalten, typischen Tätermerkmalen aber auch auf unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten. Aktuelle Befunde zur Frage der Gewalttransmission bei Tätern mit eigener Gewalt- und Vernachlässigungserfahrung, sowie neuere Forschungsergebnisse aus Neurobiologie, Traumatheorie und Bindungsforschung werden ebenfalls auf ihre Bedeutung für die Thematik hinterfragt. Als Täter kommen dabei Männer, Frauen, aber auch Kinder und Jugendliche in Betracht, welche in ihren Unterschieden, aber auch in gemeinsamen Merkmalen beschrieben werden. Die Autorinnen wählen für Ihre Überblicksarbeit eine doppelte Perspektive und lenken den Blick auf Opfer und Täter. So werden auch Folgen sexuellen Kindesmissbrauchs beschrieben.
Aufbau und Inhalt
Der Band ist in acht Kapitel unterteilt.
- Neben der Einleitung erfolgt in Kapitel zwei eine Annäherung an das Phänomen sexueller Missbrauch, in dem Begriffe, historische Aspekte und gesellschaftliche Bezugspunkte definiert werden.
- Kapitel drei beschäftigt sich mit der Prävalenz des sexuellen Missbrauchs: hier werden statistische Werte bezüglich Täter- und Opferzahlen vorgestellt und Überlegungen zum Dunkelfeld sexueller Missbrauchshandlungen angestellt.
- Bestimmte Tätertypologien für männliche Täter und weibliche Täterinnen sind Gegenstand des vierten Kapitels. Hier erfolgt auch die Diskussion der Problematik, die heterogene Gruppe von Sexualstraftätern in Klassen und Gruppen zu fassen.
- Die Charakterisierung von Tätereigenschaften wird im folgenden fünften Kapitel vertieft. Aspekte der Psychopathologie, der Sozialisation und des (kriminellen) Verhaltens werden hier ausführlich beschrieben.
- Im sechsten Kapitel wird der Blick auf die Situation der Opfer gelenkt: wie verarbeiten Opfer sexuellen Missbrauchs die traumatische Erfahrung der Misshandlung, wovon hängen Bewältigung und Nicht-Bewältigung ab, welche Schutz- und Risikofaktoren spielen dabei eine Rolle?
- In Kapitel sieben erfolgt die Klärung, warum eine Therapie für Sexualstraftäter notwendig ist und welche therapeutischen Strategien dafür zur Verfügung stehen; auch wird hier der Frage der Wirksamkeit unterschiedlicher Ansätze von Tätertherapien nachgegangen, sowie besondere Merkmale der oft schwierigen Arbeit mit Straftätern aufgegriffen.
- Kapitel acht greift die erst in jüngerer Zeit aufgeworfene Frage nach einem Zusammenhang zwischen eigener Gewalterfahrung und späterer Gewaltdelinquenz als destruktive Form der Bewältigung komplexer Traumaerfahrung auf.
Das Anliegen des Buches wird im Einleitungskapitel beschrieben: die Spaltung „zwischen Gut und Böse, Opfer und Täter“ soll hinterfragt werden und auf die Verantwortung hingewiesen werden, die die Gesellschaft für die Entstehung von sexuellem Missbrauch hat. Die Autorinnen möchten aufzeigen, dass Missbrauchsverhalten als Versuch zu verstehen ist, „selbst erfahrene Traumatisierung zu bewältigen. Die gesellschaftliche Verleugnung innerfamiliärer Gewalt ist aus unserer Sicht eine – von mehreren- Ursachen für die Entstehung von (sexueller) Gewalt“ (3).
Kapitel zwei greift den Umgang der Gesellschaft mit sexuellem Kindesmissbrauch auf. Die Autorinnen formulieren hier die These, dass die Ursachen dieser Missbrauchsform in Deutschland bislang weitgehend unerforscht blieben. Hintergrund dafür sei die gesellschaftlich tief verwobene Akzeptanz sexueller Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern und ein bis in die jüngere Geschichte reichendes fehlendes Problembewusstsein bezüglich kindlicher Traumatisierungsfolgen. Die aktuelle Rechtssituation wird mit Darstellung der strafrechtlichen Bestimmungen und der Unterbringungs- und Behandlungsmöglichkeiten in Straf- und Maßregelvollzug referiert. In einem eigenen Unterabschnitt beschäftigen sich Heyden und Jarosch mit dem Begriffsproblem, wenn von sexuellem Kindesmissbrauch gesprochen wird. Die Diskussion um den sprachlichen Zugang zur Thematik wird hier kurz erneut aufgerollt, ebenso die Schwierigkeiten um die Definition des Krankheitsbildes Pädophilie. Die Autorinnen verwenden schließlich einen Missbrauchsbegriff, der „jede sexuell motivierte Handlung an einem Kind“ einschließt, „da das Kind aufgrund seines Entwicklungsstandes … sexuelle Handlungen nicht wesentlich zustimmen kann“ (15). Abschließend werden noch zwei zentrale Erklärungsmodelle für Missbrauchsverhalten (Finkelhor, Marshall & Barbaree), sowie neuere feministische Erklärungsansätze vorgestellt.
Die Häufigkeit sexuellen Kindesmissbrauchs ist Gegenstand des dritten Kapitels. Unter Verweis auf die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) werden die offiziell angezeigten Werte der letzten Jahre aufgegriffen, wobei deutlich wird, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern, rein statistisch gesehen, rückläufig ist. Knapp wird die Diskussion um Dunkelfeldschätzungen und –untersuchungen und die dabei auftretenden methodischen Probleme aufgegriffen. Der Abschnitt wird mit Angaben zu sexuell missbrauchten Sexualstraftätern, einem Abschnitt zu Frauen als Täterinnen und Kinder und Jugendliche als Täter ergänzt.
Kapitel 4 beschäftigt sich mit unterschiedlichen Kategorien sexueller Missbrauchstäter. Die gängigen Typologien (Groth, Deegener, Hare, Witter, Schorsch) werden hier kurz referiert und beziehen sich auf psychodynamische, psychopathologische, soziologische und Verhaltensaspekte. Der insgesamt kurze Abschnitt listet abschließend Merkmale von Täterinnen auf, eine Diskussion, bzw. der Versuch einer integrierenden Zusammenfassung erfolgt nicht.
Im anschließenden Kapitel wird die Charakterisierung der Täter weiter vertieft. Hierzu werden zu unterschiedlichen Aspekten (Beziehungsgestaltung, soziale Defizite, Motivation, Intelligenz, kognitive Störungen, Psychopathologie, Sozialisation) nach einer kurzen Einführung ausführliche Fallbeispiele vorgestellt, welche eine Bandbreite von Charakteristika bei Sexualstraftätern verdeutlichen. Ausführlich gehen die Autorinnen auch in diesem Abschnitt auf den Umstand eigener Missbrauchserfahrungen bei männlichen und weiblichen TäterInnen ein und stellen bereits in diesem Abschnitt den Zusammenhang zwischen eigener Traumatisierung und späterer Delinquenz her. Ein eigener Abschnitt ist auch hier der Tätergruppe Kinder und Jugendliche gewidmet.
Sexueller Missbrauch und seine Folgen sind Gegenstand des sechsten Kapitels. Die Verarbeitungsmuster von Missbrauchsopfern in Abhängigkeit von Risiko- und Schutzfaktoren (Opfermerkmale, familiäre Merkmale), sowie geschlechtsspezifische Unterschiede in der Verarbeitung von Missbrauch werden hier knapp, dabei ausreichend gründlich dargestellt. Kurz gehen Heyden und Jarosch auf Wiederholungsphänomene ein: Opfer die reviktimisiert werden und Opfer, die später selbst Sexualstraftaten begehen. Der zweite Aspekt wird in einem gesonderten Kapitel (8) vertieft.
Auch wenn das Hauptanliegen des Buches nicht die Zusammenfassung von Behandlungsstrategien bei Sexualdelinquenz zum Gegenstand ist, geben die Autorinnen im siebten Kapitel einen umfassenden Überblick zur Therapie von Sexualstraftätern. Die Notwendigkeit der Behandlung begründen Heyden und Jarosch mit der präventiven Wirkung von Tätertherapien und mit generellen ethischen Überlegungen sowie der gesellschaftlichen Verantwortung, Menschen die Kinder sexuell missbrauchen nicht sich selbst zu überlassen, sondern durch geeignete Maßnahmen zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Delinquenz zu führen. Das Kapitel führt einige gängige kognitiv-behaviorale und psychodynamische Behandlungsstrategien und –methoden, Material zur Rückfallforschung und Wirksamkeitsforschung von Tätertherapien und zu therapeutischen Fragestellungen in der Tätertherapie auf. Insgesamt wird so ein orientierender Überblick zur Psycho- und Kriminaltherapie von Sexualstraftätern gegeben.
Das inhaltlich abschließende achte Kapitel beschäftigt sich mit Missbrauchsverhalten als destruktiver Form der Bewältigung komplexer Traumatisierungen. Den Autorinnen gelingt es hier, den aktuellen Stand der Diskussion um Gewalttransmission bei Missbrauchsopfern darzustellen. Die Auswirkung früher Gewalt- und Missbrauchserfahrungen auf die Persönlichkeitsentwicklung, neurowissenschaftliche Aspekte der Traumatisierung (v. a. hinsichtlich der Hirnentwicklung), und Wiederholungsmechanismen werden in ihrer Wirksamkeit bezüglich der Ausbildung von Delinquenz ausführlich beschrieben und bilden den Hintergrund für ein abschließendes Plädoyer, das die gesellschaftliche Verantwortung für einen aufdeckenden und behandelnden Umgang mit Opfern von Gewalt- und Missbrauchshandlungen unter dem Aspekt der Prävention von Sexualdelikten einfordert. Die Autorinnen beenden das Kapitel mit knappen Überlegungen zu Bindung und sexuellem Missbrauch, insbesondere zu Bindungsstörungen, wobei Grundkenntnisse zur Bindungstheorie vorausgesetzt werden.
Diskussion
Heyden und Jarosch zielen mit ihrem Buch „Missbrauchstäter“ auf eine Versachlichung der Diskussion um sexuellen Kindesmissbrauch. Dazu geben die Autorinnen einen guten Überblick über die Geschichte sexuellen Missbrauchs, die Entstehungsbedingungen der Sexualdelinquenz und seine Häufigkeit, Tätertypologien, Behandlungsstrategien und zum Zusammenhang zwischen Traumatisierung und Ausbildung von Missbrauchsverhalten (als destruktive Bewältigungsform). Der Anspruch, einen umfassenden Überblick zur Thematik zu verfassen, konnte nicht in allen Kapiteln umgesetzt werden. So kommt in Kapitel zwei die Darstellung des aktuellen Forschungsstandes und die Zusammenführung unterschiedlicher Erklärungsansätze zur Entstehung von Sexualdelinquenz zu kurz. Die einführenden Überlegungen zu Missbrauchsfolgen und die Darstellung der Behandlungsstrategien von Sexualstraftätern sind ausreichend, um die zentralen Überlegungen zur Prävention vor Missbrauchstaten zu fundieren. Im Kapitel zur Charakterisierung von Missbrauchstätern erreicht das Buch durch die Verknüpfung zwischen theoretischen Ausführungen und Fallbeispielen Lehrbuchcharakter. Die Darstellungen zur Gewalttransmission von Missbrauchserfahrungen als Entstehungshintergrund für Sexualdelinquenz im abschließenden achten Kapitel führen das hierzu vorliegende wissenschaftlich fundierte Wissen adäquat zusammen und machen es so erstmals komprimiert zugänglich. Das Anliegen des Buches, einen Beitrag zu leisten für ein gesellschaftliches Bewusstsein darüber, wie Missbrauchsverhalten entsteht, wird vollständig umgesetzt. Mit dem Band werden so Grundlagen dafür geschaffen, Tätern benötigte Hilfe zu ermöglichen um so den Kreislauf von Traumatisierung-Delinquenz-Traumatisierung zu durchbrechen.
Zielgruppe
Der Band wendet sich an alle, die mit Sexualstraftätern und Missbrauchsopfern in Beratung und Therapie, aber auch in Forschung und Politik arbeiten. PraktikerInnen aus der Tätertherapie werden die einführenden Kapitel zur Genese der Sexualdelinquenz, Tätertypologien, Missbrauchsfolgen und Behandlungsstrategien wenig Neues, jedoch einen gründlich recherchierten und aktuellen Überblick bringen. Mit der Thematik nicht vertraute LeserInnen erhalten eine fundierte und durchweg gut lesbare Einführung. Das Kapitel zu Missbrauchsverhalten als (destruktive) Form der Bewältigung selbst erlebter Traumatisierungen führt die bislang losen Enden Opferbehandlung, Tätertherapie und Delinquenzprävention zusammen und ist damit ein Gewinn für alle an der Thematik Interessierte.
Fazit
Heyden und Jarosch legen mit dem Band „Missbrauchstäter“ eine gute Einführung in die Thematik vor. Die Autorinnen haben offensichtlich viel Arbeit und Sorgfalt in die Recherche gesteckt. Ein kleiner Teil des umfassenden Literaturapparats wurde im Buch publiziert, der weit größere Anteil steht auf der Website des Verlags zum Download bereit. Die Autorinnen haben eine Vielzahl von empirischen Forschungsergebnissen zu Tätermerkmalen, sowie zu Erkenntnissen aus dem Bereich der Neurowissenschaften und der Traumaforschung verarbeitet. Damit kann der vorliegende Band auch als Nachschlagewerk für im Arbeitsfeld Tätige verwendet werden. Die Ausführungen zur Gewalttransmission bei sexuell selbst missbrauchten Tätern bieten Anlass für eine grundsätzliche Diskussion der Thematik.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 09.01.2010 zu:
Saskia Heyden: Missbrauchstäter. Schattauer
(Stuttgart) 2009.
ISBN 978-3-7945-2633-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8620.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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