Elsbeth Bösl: Politiken der Normalisierung
Rezensiert von Benjamin Haas, 21.04.2010
Elsbeth Bösl: Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland.
transcript
(Bielefeld) 2009.
348 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1267-7.
29,80 EUR.
CH: 49,90 sFr.
Reihe: Disability Studies - 4.
Thema
Elsbeth Bösl bestärkt mit ihrem Buch „Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland“ die Forderung Behinderung als Analysekategorie der Geschichtswissenschaft zu etablieren und trägt gleichzeitig zu einer Ausdifferenzierung der deutschsprachigen Disability Studies bei. Durch ihre historische Analyse expliziert sie die soziohistorische Konstruktion der Kategorie Behinderung sowie deren kulturwissenschaftliche Betrachtung. Die im deutschsprachigen Raum junge Forschungsperspektive der Dis/ability History wird konkretisiert indem aufgezeigt wird, inwiefern die Differenzkategorie Behinderung ähnlich wie Ethnizität oder Geschlecht zum allgemeinen Analysewerkzeug der Historiografie werden kann.
Entstehungshintergrund
Die Veröffentlichung ist 2009 in der von Anne Waldschmidt, Thomas Macho, Werner Schneider und Heike Zirden herausgegebenen Reihe „Disability Studies: Körper – Macht – Differenz“ im Transcript Verlag erschienen und wurde als Dissertation am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilian-Universität München angenommen. Das Vorhaben wurde von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert und von der Aktion Mensch unterstützt.
Zielsetzung und Methode
Ausgehend von einem Defizit an historischer Erforschung der Kategorie Behinderung verfolgt Bösl ein soziokulturelles Erklärungsmodell und beleuchtet dabei die Konstruktion gesellschaftlicher Hierarchien. Sie beabsichtigt zu verfolgen, wie in der Behindertenpolitik bis in die 70er Jahre, mit dem Ziel der (Wieder-) Herstellung von Erwerbsfähigkeit und Produktivität, auf eine funktionale Normalisierung von behinderten Menschen hingearbeitet wurde. Methodisch arbeitet die Autorin die Konstruktion von Behinderung mittels einer wissenssoziologischen Diskursanalyse heraus. Dieser historischen Betrachtung liegt ein beachtlicher Fundus an Quellen zu Grunde, der die Bereiche Politik, Wissenschaft und Medien umfasst.
Aufbau
In vier thematischen Blöcken untersucht Bösl wie Behinderung in der Bundesrepublik diskursiv hervorgebracht wurde. Sie bestimmt zuerst die diskursiven Grundlagen der Behindertenpolitik, bevor sie die dem System der Behindertenpädagogik inhärenten Thematisierungen näher beleuchtet. Anschließend wird gezeigt, wie Rehabilitation durch Erwerbsarbeit zu einer behindertenpolitischen Kernstrategie wurde. Im letzten Analyseschritt stellt die Autorin dann die sich wandelnden Möglichkeiten der Normalisierung durch Technik dar.
1. Diskursive Konstruktionen von Behinderung
In ihrem ersten Kapitel untersucht Bösl spezifische Sprachregelungen und Argumentationsmuster im wissenschaftlichen und politischen Behinderungsdiskurs der 1960er/ 70er Jahre. Sie erklärt die Erzeugung subjektiver und kollektiver Identitäten, indem verkörperte Andersheiten zu wissenschaftlichen und politischen Behinderungsbegriffen werden. Anfangs war ein individuell-medizinischen Behinderungsverständnis maßgeblich, welches eine Rehabilitation in den Arbeitsmarkt als Voraussetzung für gesellschaftliche Wiedereingliederung begriff. Expertenwissen und die damit verbundene Forschung bestimmten nachhaltig die Behindertenpolitik und wurden erst langsam durch sozialwissenschaftliche Untersuchungen revidiert. Erst diese interpretierten Behinderung als ein soziales Problem, welchem mit sozialstaatlichen Mitteln zu begegnen sei.
2. Behindertenpolitik: System und Thematisierungen
Im zweiten Abschnitt beleuchtet die Autorin Aushandlungsprozesse innerhalb des behindertenpolitischen Akteursnetzwerkes sowie spezifische Thematisierungsmechanismen. War Behindertenpolitik zunächst maßgeblich von sozialstaatlichen Rahmenbedingungen abhängig, wandelte sich dies durch das Engagement von Betroffenen und daraus resultierenden Interessenvertretungen, welche erstmals auf die geschlechtsspezifische Benachteiligung behinderter Frauen aufmerksam machten. Anhand des Contergankomplexes zeigt Bösl dann anschaulich, wie sich dessen mediale Thematisierung auf die institutionelle Förderung auswirkte und der Staat stärker in die Verantwortung genommen wurde.
3. Rehabilitation durch Erwerbsarbeit als behindertenpolitische Kernstrategie
Den Wandel der Rehabilitation von rein medizinisch über beruflich bis hin zur sozialen Rehabilitation zeichnet Bösl in ihrem dritten Kapitel nach. Dabei zeigt sie die Abhängigkeiten dieses Diskurses von der arbeitsmarktpolitischen Situation sowie spezifische infrastrukturelle Bedingungen einzelner Maßnahmen und verweist auf eine Veränderung des Konzeptes der Rehabilitation: Bestand die berufliche Integration als Hauptstrategie im Umgang mit Behinderung fort, kam es gleichzeitig zu einer graduellen Veränderung des Normalisierungsvorganges, da unter der Maxime des kulturell und sozial erfüllten Lebens die Freizeitgestaltung behinderter Menschen einen höheren Stellenwert erhielt.
4. Normalisierung durch Technik: Prothetik und Barriereabbau
Im letzten Kapitel stellt die Autorin die Auswirkungen der Auseinandersetzungen mit dem sozialen Modell von Behinderung auf ein verändertes Normalisierungsverständnis und den Einsatz technischer Errungenschaften dar. Galt im Zuge der Entwicklungen auf dem Gebiet der Prothetik der vollständige und leistungsfähige Körper als Norm, der durch individuelles Upgrading und funktionale Normalisierung zu erreichen war, so wendeten die Maßnahmen des Barriereabbaus ihren Blick ab von individuellen Verbesserungen. „Die Politiken der Normalisierung richteten sich nun auf die Umgestaltung der gebauten Umwelt“ (S. 336). Letztere war fortan durch bauliche und technische Umgestaltungen an individuelle Bedürfnisse anzupassen und somit, getreu dem Normalisierungsprinzip, nicht das Individuum sondern die Gesellschaft zu verändern. Diesen Wandel beschreibt Bösl als Prozess von der technischen Konstruktion zur technischen Beantwortung von Behinderung. Bei beiden Zugängen wurde jedoch die Lebenswelt der Nutzerinnen und Nutzer durch die „in der jeweiligen Technik materialisierten kulturellen Programmatiken der Zurichtung von Körperlichkeit“ (290) bestimmt.
Diskussion
Unter Bezugnahme auf arbeitsmarktpolitische Trends, sozialpolitische Diskussionen, wissenschaftliche Bestimmungen und Forderungen der Behindertenvertretungen zeigt Bösl, wie sich im Zuge der 1970er Jahre die Integrationstendenz eines ausdifferenzierenden Sozialstaates - teils mit unintendierten Nebenfolgen - erhöhte. Den eigentlichen Durchbruch sieht die Autorin darin, „dass erkannt wurde, dass sich mit dem Rehabilitationsparadigma allein Chancengleichheit und die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht verwirklichen ließen und Normalisierung nicht allein beim Individuum zu beginnen hatte“ (S. 347).
Auf diese Weise gelingt es Bösl deutlich, die Historizität des Behinderungsbegriffes herauszuarbeiten. Im Vergleich zur bisherigen sozialgeschichtlichen Betrachtung von Behinderung ist dieser Arbeit positiv anzurechnen, dass auch das Engagement behinderter Akteurinnen und Akteure umfassende Beachtung findet. Außerdem ist es der Autorin gelungen, ein umfassendes Geflecht an politischen und wissenschaftlichen Entwicklungen zu berücksichtigen und miteinander in Verbindung zu setzen. Dies wird besonders deutlich, wenn die Autorin auf Parallelen zwischen dem medizinischen und dem sozialen Modell von Behinderung mit entsprechenden gesellschaftspolitischen Trends verweist.
In Anbetracht der inhaltlichen Stärke des Werkes beschränkt sich die Kritik lediglich auf geringfügige Aspekte. So sollte meines Erachtens die Formulierung ‚Menschen mit Behinderung‘ durch ‚behinderte Menschen‘ ersetzt werden. Dies ist im Sinne eines durch die Gesellschaft behindert werden zu verstehen und könnte der unglücklichen Verobjektivierung dieser Gruppe durch den Zusatz ‚mit Behinderung‘ entgegenwirken (vgl. Jantzen 2005:1). Im Sinne der besseren Lesbarkeit wären einzelne Zwischenüberschriften hilfreich. Die aus dem umfangreich dargestellten Datenmaterial gezogenen Schlüsse fallen leider etwas kurz aus.
Fazit
Insgesamt stellt Bösl die soziohistorische Konstruktion der Kategorie Behinderung sehr detailliert dar. Sie verweist gleichzeitig auf deren kulturelle Abhängigkeit und bekräftigt das von den Disability Studies geforderte kulturwissenschaftliche Erklärungsmodell von Behinderung. Da dieses in der Einleitung mit seinen gesellschaftspolitischen Implikationen umfassend erörtert wird, eignet sich das Buch für eine breite Zielgruppe und ist, neben behindertenpolitischen Interessenvertretungen, Allen mit einem Interesse an Zeitgeschichte, Behindertenpädagogik, Disability Studies und Dis/ability History mit Nachdruck zu empfehlen.
LiteraturJantzen, Wolfgang (2005): Gewalt ist der verborgene Kern von geistiger Behinderung.
URL: http://basaglia.de/Artikel/Olten%202002.htm, letzter Abruf: 05.04.2010
Rezension von
Benjamin Haas
Lektor für den Bereich Inklusion im Jugendalter an der Universität Bremen
Es gibt 4 Rezensionen von Benjamin Haas.





