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Jochen Wittenberg: Diebstahlskriminalität von Jugendlichen

Rezensiert von Prof. Dr. iur. Walter H. Kiehl, 21.04.2010

Cover Jochen Wittenberg: Diebstahlskriminalität von Jugendlichen ISBN 978-3-8309-2067-0

Jochen Wittenberg: Diebstahlskriminalität von Jugendlichen. Eine Überprüfung der Theorie des geplanten Verhaltens am Beispiel des Ladendiebstahls. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2009. 346 Seiten. ISBN 978-3-8309-2067-0. 34,90 EUR.
Reihe: Kriminologie und Kriminalsoziologie - Band 8.

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Thema

Die kriminalsoziologische Studie zur Ladendiebstahlskriminalität Jugendlicher fragt im Kern nach den intentionalen und motivationalen Hintergründen dieser Delinquenz. Sie analysiert dazu Datensätze von Schülerbefragungen, die zwischen 2000 bis 2003 in allen Schultypen der Städte Münster, Duisburg und Bocholt durchgeführt wurden, darunter auch personenidentische Mehrfachbefragungen in drei Schuljahren. Die Befragungen erfolgten im Rahmen des DFG-Projekts „Kriminalität in der modernen Stadt“ unter Leitung der Kriminalsoziologen Jost Reinecke und Klaus Boers, welche die der qualitativen Studie zu Grunde liegende Dissertation begleiteten. Der Soziologe Jochen Wittenberg entwickelt in seiner Studie aus der Mitarbeit an dem DFG-Projekt heraus einen eigenständigen handlungstheoretischen Analyseansatz. Mit seinen Fragestellungen der „Theorie des geplanten Verhaltens“ (TPB) wertet er die erhobenen Dunkelfelddaten zur Diebstahlsdelinquenz Jugendlicher mit dem Schwerpunkt des Ladendiebstahls systematisch aus. Zugleich nutzt er diese Auswertung zu einer Überprüfung der Leistungsfähigkeit und Präzision des dabei angewandten Analyseinstruments. In beiden Perspektiven kommt er zu aufschlussreichen Ergebnissen.

Inhalt

Zwei Themen durchziehen die gesamte Studie, nämlich einmal die forschungsmethodisch-methodologische Ebene eines neuen Forschungsansatzes auf Basis der empirisch orientierten Handlungstheorie und zum Anderen die Suche nach jugendkriminologischen Erklärungen des delinquenten Konsumverhaltens von Jungen und Mädchen im Entwicklungsalter zwischen 12 und 16 Jahren. Die gute Nachvollziehbarkeit wie der Ertrag der Darstellung verdanken sich auch den grundlegenden Zugängen, die der Autor eröffnet. Fast lehrbuchartig und doch kompakt und zielführend führt er in die theoretischen Grundlagen und Prämissen der soziologischen Handlungstheorie wie der empirisch orientierten Jugendkriminologie ein, die viele andere Studien unausgesprochen als Vorwissen der Leserinnen und Leser unterstellen.

Die moderne, in den 1970er Jahren in den USA entwickelte und in Deutschland aufgegriffene „Theorie des geplanten Verhaltens“ versucht, einen empirisch belegten und nachprüfbaren und insofern theoretisch gesicherten Beitrag zu leisten zur Erklärung der motivationalen und kognitiven Grundlagen von Entscheidung zwischen Handlungsalternativen, zur Logik der Auswahl bestimmter Handlungsoptionen. Diese Fragestellung wird hier fokussiert auf Entscheidungen für und gegen Ladendiebstahl.

Dazu spannt das 2. Kapitel den Bogen von der sozialen Makrostruktur des Marktgeschehens zu ihren kollektiven Konstitutionsakten aus strukturbezogenen Einzelentscheidungen.

In ihrer Darstellung der Theorie des geplanten Verhaltens erklärt die Studie in Kapitel 3 die einzelnen Komponenten und Effekte der Transformationsleistung von Einzelentscheidungen, nämlich bestehend aus individuellen Handlungsabsichten, Einstellungen, subjektiven Normen, aus Werthaltungen, Verhaltensgewohnheiten und – eine früher oft unterschätzte Variable – der jeweils wahrgenommenen Verhaltenskontrolle, zur Makrostruktur. Aus der Reflexion dieser Verhaltenskomponenten entwickelt die Studie dann unter Auswertung des internationalen Forschungsstandes operationalisierbare Variablen für die themenbezogenen Fragedesigns. Das Kapitel 3 schließt mit acht Forschungshypothesen, die im 6. und 7. Kapitel anhand der Anwendung des spezifischen Analyseansatzes auf die empirischen Befunde einschließlich bestimmter Dunkel- und Hellfeld-Abgleiche ausgewertet werden.

Das 4. Kapitel enthält einen aktuellen Durchgang durch die wesentlichen Hellfeld- und Dunkelfeldbefunde zur Struktur und Entwicklung der generellen Jugenddelinquenz, zur Diebstahls- und zur Ladendiebstahlsdelinqenz Jugendlicher im Besonderen sowie zum jugendkriminologischen Forschungsstand dazu. Instruktiv sind dabei – wie in der gesamten Studie – die sorgfältig interpretierten Tabellen und Abbildungen.

Die in Kapitel 5 dargestellten Methoden der Schülerbefragung und ihrer Operationalisierung (mit Fragebogen im Anhang) werden in Kapitel 6 anhand der mit ihnen gewonnenen Befragungsergebnisse ausgewertet. Das Kapitel 6 enthält insofern die empirisch gesicherte, aktuelle und teilweise neue Substanz der Dunkelfeldstudie zum Ladendiebstahl Jugendlicher. Einige Stichworte daraus:

  • Die bekannten Trenddaten über die Entwicklung der Jugenddelinquenz, nämlich ihr überwiegender Bagatellcharakter und ihre episodalen und passageren Erscheinungsformen, werden weitgehend bestätigt.
  • Der Warenwert bei Ladendiebstählen Jugendlicher liegt in über der Hälfte der Fälle unter 15 Euro. Zwei Drittel der Jugendlichen begehen nie einen Ladendiebstahl. 50% der Ladendiebstähle werden von nur 5% der Täter begangen.
  • Familienarmut ist auch, aber weniger ein Indikator für erhöhte Ladendienstahlsdelinquenz als die Frage, ob Jugendliche mit den ihnen verfügbaren finanziellen Mitteln aus Taschengeld und Jobs „auskommen“.
  • Männliche und weibliche Jugendliche sind mittlerweile an der Ladendiebstahlsdelinquenz recht paritätisch beteiligt, wobei Mädchen früher einsteigen als Jungen, aber auch früher wieder aufhören. Mädchen stehlen vorwiegend Kosmetikartikel, Jungen Getränke.
  • Die Entdeckung einer Tat schreckt offenbar wenig ab. Rein statistisch führt die Nicht-Entdeckung sogar öfter zu Abbruchraten des Ladendiebstahls, was Wittenberg zu der Erwägungen veranlasst, dass Jugendliche offenbar anders auf oder auf andere Signale reagieren, als manche durchgreifende Kriminalprävention erwartet oder postuliert.

Diskussion und Fazit

Außer dem erwähnten „Lehrwert“ der Studie kann man ihren Auswertungen wichtige und vor allem abgesicherte Daten und Einzelinformationen über Entstehungshintergründe und damit auch für mögliche Präventionsstrategien bezüglich des Ladendiebsstahls Jugendlicher entnehmen. Der Autor gibt dazu verschiedene dezente Hinweise, wo man ansetzen könnte und wo eher nicht. So widerlegt er mit den Daten beispielsweise die alltagstheoretischen Deutungsmuster, dass Ladendiebstähle aus „Gruppendruck“ oder als „Mutproben“ begangen oder zumindest begonnen würden: Nach den Befragungsergebnissen weichen Jugendliche bestehenden Bewertungsdiskrepanzen in ihrem Umfeld eher aus, als dass sie sich ihnen unterwerfen. Sie ändern eher die Bezugsgruppe als ihr Verhalten. Ladendiebstähle begehen sie überwiegend einvernehmlich in dem für sie relevanten Umfeld.

Schwächen der Studie liegen in der mangelnden Trennschärfe der beiden Hauptstränge und einer recht geringen Auswertungstiefe der „Perlen“ ihrer methodisch aufwendig erarbeiteten Dunkelfeldbefunde. Zum einen überlagern methodisch-methodologische Ausführungen vielfach die inhaltlich-thematischen Aussagen zum Leitthema des Ladendiebstahls, so dass die im Titel versprochenen Inhalte in Teilen der Studie zum Methodenanhängsel herabgestuft werden. Wer am Haupttitel festhält und sich durch das Buch hindurcharbeitet, findet die besagten „Perlen“ durchaus, aber eben nicht mühelos. Diese werden, gemessen am Stand der kritischen Fachdiskussion, eher zurückhaltend auswertet. Angesichts der vom Autor durchaus angesprochen Animationen der Konsumhandelsbranche zeigt der gesamte Forschungsansatz eine eigentümliche Akzeptanz, wenn dessen professionelle Verlockungen die beforschten Jugendlichen erst ‚kirre‘ machen und dann die provozierten, aber unerwünschten Effekte als Justizaufgabe ansehen, die diese am Einzelfall der relativ wenigen und eher zufällig Erwischten richten soll. Hier ließen sich einige Analyseergebnisse auch anders interpretieren. Das kann man aber auch dem fachlich interessierten Leserkreis der Studie überlassen.

Rezension von
Prof. Dr. iur. Walter H. Kiehl
Ehemaliger Rechtsanwalt, lehrt u.a. Strafrecht, Jugendkriminologie und Jugendstrafrecht am Fachbereich „Soziale Arbeit und Gesundheit“ der Frankfurt University of Applied Sciences Main,
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Es gibt 11 Rezensionen von Walter H. Kiehl.

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Zitiervorschlag
Walter H. Kiehl. Rezension vom 21.04.2010 zu: Jochen Wittenberg: Diebstahlskriminalität von Jugendlichen. Eine Überprüfung der Theorie des geplanten Verhaltens am Beispiel des Ladendiebstahls. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2009. ISBN 978-3-8309-2067-0. Reihe: Kriminologie und Kriminalsoziologie - Band 8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8653.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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