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Alain Gresh, Jean Radvanyi et al. (Hrsg.): Atlas der Globalisierung

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 10.12.2009

Cover Alain Gresh, Jean Radvanyi et al. (Hrsg.): Atlas der Globalisierung ISBN 978-3-937683-25-6

Alain Gresh, Jean Radvanyi, Philippe Rakacewicz, Catherine Samary, Dominique Vidal (Hrsg.): Atlas der Globalisierung. Sehen und verstehen, was die Welt bewegt. taz verlags- und vertriebs GmbH (Berlin) 2009. 216 Seiten. ISBN 978-3-937683-25-6. 23,00 EUR. CH: 41,00 sFr.
Broschur (ohne CD und Karte), 13 Euro, ISBN 978-3-937683-24-9.

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Die Welt von Morgen von Heute

Die Euphorien von einer besseren Welt, wie sie von manchen neoliberalen Ökonomen verkündet werden und die Menetekel eines Weltverfalls, ökonomisch und ökologisch, die seit den 1970er Jahren mit den zahlreichen Welt(zustands)Berichten, Analysen und Prognosen vorliegen, verdeutlichen den Welt-Spagat zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Weltwirtschaftskrisen, Klima- und Umweltkatastrophen, regionale Konflikte… destabilisieren die „Weltgläubigkeit“ der Menschen, lokal und global. Die Folgen aus diesen Verunsicherungen, Machtlosigkeiten und Sinnverlusten in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (globalisierten) Welt sind bereits deutlich erkennbar: Nationalisierungs- und Abschottungstendenzen auf wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Gebieten.

Zeichen lesen, Zeichen setzen

Gegen diese Ohnmachtsempfindungen bei Mächten und Menschen hat der Verlag Le Monde diplomatique erstmals 2003 den „Atlas der Globalisierung“ heraus gegeben (blau), dem 2006 der zweite (rot) folgte, dann 2007 die erweiterte, gebundene Luxusausgabe mit CD-ROM (grau) - (vgl. dazu die Rezension). Weil Atlanten veraltern, vor allem wenn sie den Anspruch erheben, den aktuellen Zustand der Welt zu skizzieren, ist es gut, dass der Verlag Le Monde diplomatique/taz soeben eine deutsche Neuauflage der französischen Originalausgabe von 2009 heraus bringt (Redaktion der deutschen Ausgabe: Barbara Bauer, Dietmar Bartz, Tarik Ahmia, Dorothee d’Aprile, Marcus Franken, Niels Kadritzke, Nicole Liebert, u.a.). Der Verlag bietet den „Atlas der Globalisierung“ in zwei Versionen an: In Broschur, mit Papier aus 100% Altpapier (s.o.) und als Festeinband, Papier aus FSC-Mix 50%, mit CD-ROM und herausnehmbarer Karte (ISBN 978-3-937683-25-6, 23 Euro). Die unterschiedlichen Angebote – Zeitungspapier, eher für den alltäglichen Gebrauch bestimmt, und Festeinband mit widerstandsfähigerer Papierqualität als (Atlas)Nachschlagewerk – können dazu beitragen, dass mit dem „Atlas der Globalisierung“ das Wissen und die Informationen über den Zustand unserer Erde breiter vermittelt werden.

Inhalt

Im Vergleich zum ersten Globalisierungsatlas von 2003 wird deutlich, dass das Autorenteam mit dem (gelben) Atlas in besonderer Weise auf die neue Entwicklung in der Welt reagiert: Weltwirtschaftskrise, Kapitalismus in der Krise, Weltmachtverschiebungen, Verschärfung der Umweltproblematik. Im Vorwort macht der französische Journalist und Schriftsteller Serge Halimi deutlich, dass das Begreifen und die Möglichkeit der Veränderung des derzeitigen desaströsen Zustandes der Welt nur möglich sind, wenn es gelingt, dass die Menschen die Zeichen lesen können. Bei aller hoffnungsvollen Einschätzung, dass es gelingen könne, durch Information und Aufklärung auch die entsprechenden Zeichen zu setzen, bleibt die Ungewissheit, „ob die sich abzeichnenden Risse ins schwarze Loch des Chaos oder auf die Baustelle einer neuen Ordnung führen werden“.

Die insgesamt sechs Kapitel befassen sich mit den Themen:

  1. Neue Weltkunde
  2. Kapitalismus in der Krise
  3. Die Zukunft der Energie
  4. Viele Hauptstädte, viele Ansichten
  5. Kompliziertes Afrika
  6. Ungelöste Konflikte.

Jedes Kapitel wird mit einem Leitbeitrag eingeführt.

Im ersten Kapitel „Neue Weltkunde“ gibt der 2001 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnete Joseph Stiglitz seine optimistische Parole aus: „Damit nicht alles beim Alten bleibt“. Mit den Themenbereichen – „Das US-Imperium bekommt Konkurrenz“, „Warum die Menschheit immer älter wird“, „Migration – viele Gründe, viele Grenzen“, „Arme Länder, gute Ernten, großer Hunger“, „Der vergeudete Rohstoff-Boom“, „Der Kampf ums Wasser“, „Fundamentalisten sind überall“, „Das seltsame Innenleben der NATO“, „Rüstung bietet jeden Tod“, „Terrain für bewaffnete Gruppen“, „Cyberterrorismus – eine Gefahr, die noch keine ist“, „Das Handy drängt ins Internet“, „Die Europäische Union auf dem Weg zur Großmacht“, „USA – eine Marke ist beschädigt“, „Lateinamerika entzieht sich den USA“ und „China und Indien – zwei Riesen verändern die Welt“ – werden auf jeweils einer Doppelseite im Atlas die wichtigsten Aspekte dargestellt und mit farbig gestalteten Karten, Skizzen, Tabellen und Schaubildern erläutert. Hinweise auf Internetseiten ermöglichen für Information, Forschung und Lehre eine weitergehende Auseinandersetzung.

Die politische Korrespondentin der taz. Bettina Gaus, leitet das zweite Kapitel „Kapitalismus in der Krise“ analysiert das vorherrschende Bewusstsein und die Betroffenheit der Menschen in den Zeiten der Krisen mit der Metapher: „Viel Wut, wenig Protest“ – die zudem von der eher pessimistischen und fatalistischen Einschätzung bestimmt ist, dass in Zeiten einer Wirtschaftskrise niemand in der Gesellschaft zu den Verlieren gehören möchte und „Solidarität mit Unterprivilegierten, im eigenen Land und weltweit, ( ) im Zeichen eigener Bedrohung (schwindet)“. Die einzelnen Fragenkreise, wie „Krisen und wer dafür bezahlt“, „Versagen ohne Reue: Die Ausreden der Marktradikalen“, „Steuerzahler als Bankenretter“, “Steueroasen trocknen nicht aus“, „Kleine Wagen mit großer Zukunft“, „Eine neue internationale Arbeitsteilung“, „Welthandelsrunde im Langzeitkoma“, „Staatsfonds, die neuen Geldgeber“, „Die Krise erreicht IWF und Weltbank“, „Geld-Wechsel in der Weltwirtschaft“, „Mehr Geld als Waren in der Welt“ und „Der Neoliberalismus belohnt seine Fürsprecher“.

Sven Giegold, Mitbegründer von Attac in Deutschland und jetziger Europaabgeordneter der Grünen, führt in das Thema des dritten Kapitels „Die Zukunft der Energie“ mit der Frage ein: „Nur noch Erneuerbare?“. Er zeigt auf, dass der allenthalben scheinbare Wandel der Energie-Bestimmer, hin zu (zögerlichen und kalkulierten) Zugeständnissen für erneuerbare Energien, um gewissermaßen einen „ökologischen Kapitalismus“ das Wort zu reden, die grundlegenden Problem nicht zu lösen vermögen. Mit den Themenfeldern „Klimafaktor Mensch“, „Die Rettung ist finanzierbar“, „Kohle bleibt ein Dauerbrenner“, „Das billige Erdöl ist verbraucht“, „Der letzte Tropfen wird zu teuer“, „Europas Erdgas aus dem Osten“, „Machtkampf am Kaspischen Meer“, „Öl und Armut in der arabischen Welt“, „Afrikas Ölquellen locken alte Bekannte“, „Neue Märchen von der Atomkraft“, „Der grüne Boom trägt weit in die Zukunft“, „Europa kann sich selbst versorgen“, „Ergiebige Winde über dem Meer“ und „Die Vision vom Wüstenstrom“ wird das Für und Wider der Argumente, Auffassungen, Meinungen, gesteuerten und aufgeklärten Informationen anschaulich dargestellt.

Der Mitherausgeber des Atlas der Globalisierung und Kartograf von Le Monde diplomatique, Philippe Rekacewicz, bereichert den Atlas mit einer bemerkenswerten, anschaulichen und künstlerischen Besonderheit. Mit ausgewählten Karten und Skizzen, die er von Hand gezeichnet und mit Buntstift koloriert hat, bringt er die thematische (engagierte) Kartografie in den Diskurs von Ausdruck und Anschauung. Es gehe bei der kartografischen Darstellung nicht in erster Linie darum, „What you see is what you get“ (Was man als Landschaftsbeobachtung sieht, entspricht dem kartographischen Ergebnis, das man erhält), sondern um die Dramaturgie, mit grafischen Mitteln in Szene zu setzen, wie die Welt funktioniert“. Das Thema „Viele Hauptstädte, viele Ansichten“ umkreist die Themen: „Eine Welt mit vielen Zentren“, „Die USA spüren ihre Grenzen“, „Berlin, die neue Mitte Europas“, „Polen ist längst nicht mehr verloren“, „Das zaghafte Europa“, „Moskau blickt unsicher nach Osten“, „Die Arktis, letzte Grenze der Globalisierung“, „Stolz und Stärke in Teheran“, „Neu-Delhi übersieht seine Nachbarn“, „Peking hat die besten Karten“, „Japans unschuldige Gesichter“, „Geschwächte Macht am Nil“ und „Vertane Chancen am Kap“.

Der Kameruner Politologe, Schriftsteller, Germanist und Begründer der Stiftung AfricAvenir, Prinz Kum’a Ndumbe III., ein „kultureller Grenzgänger“, wie er sich selbst bezeichnet, provoziert mit seiner Aussage „Was uns die Chinesen zeigen“, indem er einige Beobachtungen von chinesischen Arbeiterinnen und Arbeitern, von chinesischen Sängern und Künstlern, von chinesischen Direktoren, die in Douala, mit rund 1,4 Millionen Einwohnern die größte Stadt Kameruns, Wasserleitungen verlegen, Straßen, Krankenhäuser, Schulen und Stadtviertel bauen, immer mit dem Satz abschließt: „Diese Chinesen, was sie uns noch alles zeigen wollen“. Es geht im fünften Kapitel um „Kompliziertes Afrika“, um „Ungewisse Zukunft nach dem großen Umbruch“, „Wirtschaftswachstum, das den Armen nicht hilft“, „Soziale Proteste aus Notwehr“, „Auswandern – aber wohin?“, „Megastädte, Megaslums“, „Kontinent der Kinder“, „Machtkämpfe im ethnischen Gewand“, „Wettlauf der Religionen“. „Aufbau in zerstörten Ländern“. „UN-Einsatz in Afrika, eine gemischte Bilanz“, „Darfur, Chronologie einer Tragödie“, „Demokratische Anfänge im Kongo“, „Unstaaten am Horn von Afrika“, „Die neuen Führungsmächte“, „Im Blickfeld des Pentagon“, „Asien im Afrikafieber“, „Alte Schulden, neues Geld“ und „Der lange Weg zur Demokratie“.

Das sechste und letzte Kapitel „Ungelöste Konflikte“ leitet der Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit und geschäftsführende Vorsitzende der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Volker Perthes, mit der Aufforderung ein, „starke Strukturen für schwache Staaten“ zu schaffen, weil sich „im multipolaren System von heute ( ) regionale Konflikte immer auch auf globaler Ebene aus(wirken)“. Die Themen stellen die weltweiten Konfliktszenarien dar: „Schrecken ohne Gleichgewicht“, „Millionen Flüchtlinge erhalten keine Hilfe“, „Kosovo und Bosnien, zwei Versuche der Staatsgründung“, „Wie die Eliten des Maghreb den Terrorismus nutzen“, „In Westsahara hört die junge Generation nicht auf die alten Autoritäten“, „Aus dem Gazakrieg lernen“, „Gefährliche Ruhe im Libanon“, „Kurdistan, der Traum vom eigenen Staat“, „Unversöhnliche Gegner im Südkaukasus“, „Tschetschenien bleibt Republik von Moskaus Gnaden“, „Syriens Schlüsselrolle im Nahen Osten“, „Der Irak ist längst noch kein stabiler Staat“, „In Afghanistan kann die Nato nicht gewinnen“, „Indien und Pakistan, misstrauische Nachbarn mit Bombe“, „Sri Lanka: Kein Frieden nach dem Sieg“, „Die Volksrepublik China ist nicht für alle Völker da“, „Nordkorea, Volksrepublik unter Verschluss“ und „Bruchlinien in der Andenregion“.

Fazit

Mit insgesamt 203 Karten, Skizzen, Tabellen und Schaubildern, verfasst von 67 Autorinnen und Autoren und 8 KartografInnen und GrafikerInnen, stellt der neue „Atlas der Globalisierung“ ein beeindruckendes Werk von Zeichen, Zeigefingern, Zwiesprüchen, Zurechtweisungen, Zentrierungen und Zusammenfassungen dar, die Zugänge zu den Fragen des Zustandes in unserer Welt ermöglichen und einen Zugewinn für ein humanes Verständnis anbieten. Es wäre zu wünschen, wenn auch der neue Atlas nicht nur in den Archiven, Bibliotheken und Büchereien stünde, sondern auf den Tischen von Politikern, Schülerinnen, Schülern und all den Menschen liegen und benutzt werden würde, die daran glauben und sich dafür einsetzen, dass nur ein Perspektivenwechsel ein humanes Leben der Menschen in unserer „Einen Welt“ ermöglicht. Die beiden, materiell qualitativ verschiedenen Ausgaben – Zeitungsdruck und Atlasqualität – ermöglichen eine jeweils unterschiedliche Verwendung des Atlases der Globalisierung für die verschiedenen Benutzer; hier der schnelle, alltägliche Zugriff, dort der für Lern- und Studienzwecke besser geeignete Einsatz, einschließlich der CD.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1693 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245