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Kai Hafez: Heiliger Krieg und Demokratie

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.11.2009

Cover Kai Hafez: Heiliger Krieg und Demokratie ISBN 978-3-8376-1256-1

Kai Hafez: Heiliger Krieg und Demokratie. Radikalität und politischer Wandel im islamisch-westlichen Vergleich. transcript (Bielefeld) 2009. 279 Seiten. ISBN 978-3-8376-1256-1. 24,80 EUR. CH: 44,00 sFr.
Reihe: X-Texte zu Kultur und Gesellschaft.

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Die welthistorische Paradoxie als Hoffnung?

Das Wesen des Dschihad ist das Streben nach Frieden – und qital, der bewaffnete Kampf, bisweilen der notwendige Kampf zu diesem Frieden; so legt der Islamwissenschaftler und Verfechter eines selbstbewussten und aufgeklärten Islams in Europa, Tariq Ramadan (Muhammad. Auf den Spuren des Propheten, Diederichs Verlag, München 2009), die Diskrepanz zwischen Machtstreben und Friedenssehnsucht der Menschen aus. Krieg als notwendiges Mittel zum Frieden? Das ist doch eine allzu vereinfachende Erklärung über die in der Menschheitsgeschichte immer wieder stattgefundenen und weiterhin stattfindenden gewaltsamen Auseinandersetzungen über Grenzen, Überzeugungen und Dominanz. Folgt man der ethischen und aus der griechischen Philosophie übermittelten Auffassung, dass der Mensch, weil er ein vernunftbegabtes Lebewesen ist, nach einem sittlich guten und autarken Leben strebt (eu zên, Aristoteles), dürfte es eigentlich keine Kriege geben, weder „heilige“, also mit göttlichem Befehl veranlasste, noch „weltliche“, von Ideologien und Machtmissbrauch bestimmte. Spätestens seit der Proklamation der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 als Maßstab für eine globale, allgemeinverbindliche und nicht relativierbare Ethik erlassen wurde, gilt, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ (Präambel). Friede aber, das lehrt uns die Menschheitsgeschichte, entsteht nicht alleine dadurch, dass er proklamiert wird. Es bedarf der Aufklärung und Bildung, um Frieden, lokal und global, zu schaffen. Beim Internationalen Kongress der UNESCO in Yamoussoukro / Elfenbeinküste, vom 26. 6. bis 1. 7. 1989, wurde zum Thema „Peace in the Minds of Men“ (Frieden im Denken der Menschen) neu formuliert: „Frieden heißt Ehrfurcht vor dem Leben. Frieden ist das kostbarste Gut der Menschheit. Frieden ist mehr als das Ende bewaffneter Auseinandersetzung. Frieden ist eine ganz menschliche Verhaltensweise. Frieden verkörpert eine tiefverwurzelte Bindung an die Prinzipien der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Solidarität zwischen allen Menschen. Frieden bedeutet auch eine harmonische Partnerschaft von Mensch und Umwelt“.

Thema

Der christlich-jüdische Dialog muss sich zu einem Trialog mit dem Islam entwickeln. Diese Auffassung vertritt der Politikwissenschaftler der Universität Erfurt, Kai Hafez. In seiner Vergleichsanalyse zwischen islamischen, islamistischen und fundamentalistischen Entwicklungen mit denen westlicher Demokratien weist er darauf hin, dass „auch der Westen ( ) seinen heutigen Zustand von Wohlstand, Modernität und globaler Macht nicht allein Aufklärung, Wissenschaft und Demokratie zu verdanken (hat), sondern ebenso Glaubenskriegen, Revolutionen und kolonialer Ausbeutung“. Diese Einschätzung ist nun für Kai Hafez keinesfalls Anlass, einer fatalistischen, machtlosen Resignation zu verfallen; vielmehr zeigt er in einer historischen und politischen Nachschau auf, dass der alte, von der Allgemeinheit wie von den Wissenschaften sorgsam gepflegte „Orient-Okzident-Gegensatz“, wonach der „Islam als eine mit Moderne, Demokratie und Zivilisation unvereinbare Gegenwelt“ betrachtet wurde, zumindest in den westlichen Islam- und Politikwissenschaften, längst ad acta gelegt worden ist. Er hegt „die Hoffnung, dass trotz real bestehender Risiken durch Diktaturen, Kriege, Terror und Antisemitismus auch und vielleicht gerade der politische Islam, in all seinen Facetten bis hin zum Fundamentalismus, den Weg für eine politische Inklusion der islamischen Welt in ein größtenteils konsensuales Projekt der Moderne ebnen könnte“. Die Behauptung freilich, Radikalität erzeuge neben Risiken auch Chancen für eine Demokratisierung, bedarf des Beweises, zumindest aber der Erklärung.

Inhalt und Erklärungsansatz

Der Autor gliedert seine Analyse in drei Bereiche: Moderne – Demokratie – Politische Gewalt. Im ersten Kapitel diskutiert er das Modernitätsdenken, wie es sich in den letzten 500 Jahren in der westlichen Moderne und im Islam von Heute vollzieht. Dabei verweist er auf die verschiedenen Gesellschafts- und Modernisierungstheorien, die für die politischen Analysen und Erklärungsmuster von Bedeutung sind. Dabei macht er auf die wichtige Beobachtung aufmerksam, dass im Islam„die Säkularitätsfrage nach wie vor nicht wirklich geklärt worden ist“. Diese Einschätzung versucht er dadurch zu belegen, dass er die verschiedenen Formen, wie sie sich im orientalisch-islamischen Raum entwickelt haben - säkularer Modernismus, liberaler Reformislam, konservativer Reformislam und Islamismus (Fundamentalismus) – untersucht und die verschiedenen Einflüsse analysiert Im Vergleich des orientalischen mit dem westlichen Denken über die Grundsätze der Moderne fällt auf, „dass an den Rändern der zentralen Achse des westlichen Modernisierungsspektrums – also beim Säkularismus und religiösen Fundamentalismus – heute die wohl größten Probleme der Übereinstimmung bestehen“; was bedeutet, dass die Säkularisten zwar die Gleichheit der Religionen und Geschlechter vor dem Gesetz akzeptierten, in der islamischen Welt jedoch weniger Demokraten als Vertreter oder Sympatisanten eines autoritären Staaten wären. Das Dilemma zeige sich jedoch auch darin, dass in den westlichen Demokratien in den letzten fünfhundert Jahren die hehren Werte von Menschenrechten, Autonomie und Demokratie eher nicht beachtet wurden. Die Erwartung, dass dies in den islamischen Gesellschaften als ein „Zivilisationssprung im Zeitraffer“ sich vollziehen könne, sei deshalb kulturell paradox. Hafez’ Plädoyer für die Aktivitäten der konservativen Modernisten, wie etwa für Tariq Ramadan, sind dabei unübersehbar. In verschiedenen Beispielen zeigt der Autor auf, wonach sich in islamischen Gesellschaften Formen von sozialer Rationalität und individualisierten Einstellungen entwickeln und einen kulturellen Wandel andeuten. Interessanterweise widerspricht er der Auffassung von verschiedenen Gesellschafts- und Politikwissenschaftlern, wie denen des französischen Orientalisten Giles Kepel, oder des Engländers Fred Halliday, dass der Islam in sich heterogen und mit westlichen Politiktraditionen vereinbar sei, der islamische Fundamentalismus jedoch nicht. Es sei notwendig, die Strukturen zu untersuchen, wie Meinungsbildung und religiös-politische Dogmen von fundamentalistischen Bewegungen zustande kämen. Dabei sieht er Ähnlichkeiten zum „religiösen Radikalprotestantismus“; hier wie dort soll Religion als Vehikel der gesellschaftlichen Inklusion benutzt werden.

Im zweiten Kapitel kommt er der Grundfrage nahe: „Sind Islam und Demokratie unverträglich?“. Lässt sich in den islamischen Gesellschaften ein Demokratieverständnis entwickeln, ohne Demokraten? Droht mit dem Islamismus gar ein „islamischer Faschismus“? Auf der Grundlage eines Verständnisses von Demokratie, die bestimmt sein müsse von den Prinzipien einer volkssouveränen Wahldemokratie, untersucht Hafez insbesondere die „Grauzonen“, die jenseits der offiziellen, traditionellen islamischen Macht- und Definitionssubstituten entstehen. In zahlreichen Aktivitäten vollziehe sich so etwas wie eine „Christdemokratisierung“ des Islam, wie etwa in der Türkei oder Indonesien, vergleichbar mit „jener Wandlung des europäischen Konservatismus vom Strukturkonservatismus, der auf der Basis eines christlichen Menschenbildes die autoritär-monarchistische Herrschaft abzusichern trachtete, zum Wertekonservatismus, der christliche Werte innerhalb einer säkular-demokratischen Ordnung zu verwirklichen sucht“. Mit seinen Untersuchungen widerspricht der Autor zudem der Auffassung, dass „die Einführung der Demokratie (in islamischen Ländern) erst mit fortgeschrittener sozio-ökonomischer Entwicklung und einem den westlichen Industriestaaten vergleichbaren Maß der Modernisierung möglich sei“; ebenso lehnt er die (westlich-optimistische) Einschätzung ab, dass der Reichtum eines Landes zwangsläufig zur Herausbildung der Demokratie führen müsse. Er lenkt die Aufmerksamkeit vielmehr auf die Möglichkeiten zur sozialen Mobilität und der Bildung von gruppenbezogenen Interessen, die soziale und politische Veränderungen bewirken könnten. Als Vertreter der demokratischen Transformationslehre bekennt sich Kai Hafez zu dem Dilemma, dass die islamischen Fundamentalisten aus ideologiekritischer Sicht, vor allem wegen ihrer Ablehnung des Säkularismus, zu keinem Demokratiekonsens taugen; für die Etablierung von demokratischen Rahmenbedingungen jedoch bildeten sie die entscheidende Kraft: „Der Demokratie sind die Islamisten zu Recht dubios – für die Demokratisierung sind sie möglicherweise unentbehrlich“. Welche Lösung kann es geben? Keinesfalls die dogmatische Einstellung, dass der Islam nicht zur Demokratie tauge, und damit eine (sowieso in den Zeiten der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt unmögliche) Abschottung der westlichen Demokratien von den autoritär-islamistischen Richtungen. Vielmehr sollten säkularistische und islamistische Oppositionskräfte vom Westen wahr genommen und gefördert werden; nicht im Sinne einer subversiven Infiltrations- oder Spionagepolitik, sondern als Gespräch, auch mit demokratiefeindlichen Gruppen.

Im dritten Kapitel richtet Kai Hafez den Blick auf das wohl sensibelste und umstrittenste Feld in diesem Politikvergleich: Politische Gewalt; und zwar der vom autoritären Staat ausgeübten Unterdrückung von Freiheitsrechten der Menschen. Dabei freilich macht er es sich nicht so einfach, mit dem drohenden Finger auf die Unterdrücker zu zeigen; vielmehr analysiert er die politischen Systeme in der islamischen Welt auf Formen wie den Autoritarismus, und zwar mit der Autoritarismustheorie. Damit zeigt er auf, dass Formen und Kennzeichnungen wie „Islamofaschismus“ und „Antisemitismus“ diktatorisch und nationalistisch sind. Keinesfalls relativierend, sondern erklärend weist er darauf hin, dass es auch die „autoritären Verlockungen der Demokratie“ Hannah Arendt) wären, die Formen von politischer Gewalt erzeugten. Besonders nach dem 11. September hätten sich imperiale Positionen entwickelt, die von den westlichen demokratischen Staaten, wie von den islamischen, als hegemoniale Ansprüche formuliert werden. Im scheinbaren Paradoxon der „Diktatur des Liberalismus“, wie dies der französische Humanist Jean-Christophe Rufin, ausdrückt, liege möglicherweise eine Erklärung dafür: Eine Demokratie benötigt als Gegenwert für ihr hohes Maß an innenpolitischem Pluralismus ein außenpolitisches Feindbild. Es ist die Falle, in die Demokratiebefürworter allzu leicht tappen und den Islam mit dem islamistischen Terrorismus gleichsetzen. Die Frage nach den Ursachen von Terrorismus muss dringend gestellt werden. Auch wenn es keine einzige, allgemeingültige Antwort darauf gibt, so lässt sich doch aufzeigen, dass terroristisches Denken und Handeln nicht selten strukturell bedingt ist. Und als Gegenargumentation gegen die westlichen, vereinnahmenden und hegemonialen Positionen stellt Hafez Aktivitäten vor, die von den westlichen Medien und der Demokratiediskussion kaum wahrgenommen, es sei denn, unterstützt werden. Es handelt sich um Formen des gewaltfreien Widerstandes im Selbstverständnis des politischen Islam. Er zeigt es an mehreren Beispielen auf, etwa des palästinensischen Widerstandskampfes. In der westlichen Wahrnehmung wird übersehen, dass in der islamischen Welt eine reiche Tradition des gewaltfreien Widerstandes, der friedlichen und zivilen Streitschlichtung vorherrsche.

Fazit

Eine selbstgerechte Weltsicht, die davon ausgeht, dass die westlichen Demokratien das Gute, Vollkommene und Gerechte verkörperten, und der politische und fundamentalistische Islam das Böse und Undemokratische darstellten, führt nicht zu einer Befriedung in unserer Welt. Die Einsicht, dass „politische Gewalt ( ) heute gleichermaßen in der islamischen Welt wie im Westen präsent (ist)“, und dass es einer Verständigung hin zu einem pazifistischen und demokratischen Denken und Handeln bedarf, wäre ein Weg, „heilige Kriege“ zu überwinden und Demokratie im Leben der Menschen zu etablieren: „Weder beseitigen militärisches Handeln die Ursachen des Terrorismus, noch ist die terroristische Gewalt eine ethische oder auch nur erfolgversprechende Strategie der Bewältigung politischer und sozialer Probleme“. Hafez will der gängigen Prognose nicht zustimmen, dass die islamische Welt vor einer Periode entfesselter Glaubenskriege stehe – im Vergleich zu der Entwicklung im westlichen Zeitalter von der Reformation bis heute; vielmehr will er mit seine Analyse deutlich machen, dass das Abrutschen der islamischen Welt in ein Zeitalter religiös motivierter Gewalt keinesfalls unausweichlich sei. Insofern sieht er es als seine Aufgabe an, mit dem Vergleich zwischen den politischen Entwicklungen der Weltregionen eine „intellektuelle Sensibilisierung“ zu bewirken. Ein Unterfangen, das notwendig und sinnvoll ist, trotz oder gerade wegen der derzeit eher pessimistischen Einstellungen. Die Hoffnung bleibt – wenn Hoffnung gelebt wird!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1685 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 30.11.2009 zu: Kai Hafez: Heiliger Krieg und Demokratie. Radikalität und politischer Wandel im islamisch-westlichen Vergleich. transcript (Bielefeld) 2009. ISBN 978-3-8376-1256-1. Reihe: X-Texte zu Kultur und Gesellschaft. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8667.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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