Kurt F. Richter: Coaching als kreativer Prozess
Rezensiert von Prof. Dr. Margit Ostertag, 16.11.2009

Kurt F. Richter: Coaching als kreativer Prozess. Werkbuch für Coaching und Supervision mit Gestalt und System. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2009. 358 Seiten. ISBN 978-3-525-40156-9. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 65,00 sFr.
Thema
Mit Coaching hat sich in den letzten Jahren in der Sozialen Arbeit eine berufsbezogene Form der Beratung etabliert, die ihre Wurzeln eher im Bereich der Wirtschaft hatte. Ursprünglich aus dem Sport übernommen und zunächst als Beratungssetting für Führungskräfte eingeführt, hat sich der Coachingansatz mittlerweile deutlich erweitert und differenziert. Grundsätzlich geht es im Coaching - in weiten Teilen durchaus ähnlich wie in der Supervision - um die professionelle Unterstützung und Begleitung von Menschen in beruflichen Situationen, die mit Herausforderungen und Veränderungen verbunden sind. Im Unterschied zur Supervision umfasst Coaching neben Beratung jedoch auch Elemente von Training und Anleitung.
Mit seinem Buch „Coaching als kreativer Prozess“ hat Kurt F. Richter eine umfassende und systematische Darstellung dieses Beratungsansatzes vorgelegt, die sowohl kompetent die Spezifika des Coachings entwickelt als auch fundiert in allgemeine Beratungsgrundlagen einführt, welche übergreifend in Beratung, Supervision, Coaching und Therapie Gültigkeit haben.
Autor
Kurt F. Richter (1943-2009), Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor und Coach, war Leiter des Remscheider Instituts für Kompetenzentwicklung und Coaching (Rike) sowie über lange Jahre Leiter des Fachbereichs Sozialpsychologie und Beratung an der Akademie Remscheid.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist sehr strukturiert aufgebaut und in elf Kapitel gegliedert.
Ausgangspunkt sind in Kapitel 1: Definition grundsätzliche Überlegungen zum Konzept des Coaching mit Blick auf den Begriff, die Ziele und die Aufgaben, den Coach, den Prozess usw.
In Kapitel 2: Coaching mit Gestalt und System, ein Beratungskonzept mit Herz und Verstand entwickelt Richter die Grundlagen seines eigenen, spezifischen Coachingmodells, in das er Elemente aus verschiedenen methodischen Ansätzen integriert hat: Gestaltansatz, Systemische Beratung und Therapie, Kreativitätskonzepte, Kreative Medien und Körperarbeit sind bei ihm zu einem bzw. in einem Methodennetzwerk verbunden. Kreative Gestaltarbeit und systemische Beratung sind dabei seine Hauptbezugspunkte und bilden die Grundlage für Coaching als einen "ko-kreativen Vorgang, bei dem alle Beteiligten ihr kreatives Potential einbringen". (S. 42)
Kapitel 3: Struktur und Prozess widmet sich den Phasen und der Gestaltung des Beratungsprozesses insgesamt wie auch jeder einzelnen Sitzung. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der prozessualen Diagnostik zu.
Kapitel 4: Professionelle Beziehungsgestaltung beleuchtet die verschiedenen Dimensionen einer professionellen Arbeitsbeziehung und unterstreicht deren (prozess-) entscheidende Bedeutung: "Nur, wenn sie vertrauensvoll und tragfähig ist, kann sich der Coachee öffnen und sein Lösungspotential entfalten." (S. 93)
Kapitel 5: Person und Organisation öffnet den Blick über Coachee und die Beziehung zum Coach hinaus in Richtung Organisation, Positionen, Rollen und Professionen.
Im Mittelpunkt von Kapitel 6: Interventionswerkstatt stehen die Interventionsspirale und das Interventionskreuz. Die Interventionsspirale beschreibt den Prozess von Wahrnehmung, Hypothesenbildung und Intervenieren, in dem sich der Coach im Dialog mit seinem Coachee kontinuierlich bewegt. Das Interventionskreuz ist aufgespannt zwischen den Polen Vergangenheit und Zukunft sowie Leib-Selbst und Universelles Selbst; zentriert ist es auf die Präsenz im Hier und Jetzt. Als Gegenrichtung zum "Tiefen", dem vom Coach, Supervisor oder Therapeuten begleiteten Blick ins Innere, führt Richter hier den Begriff des "Höhens" ein. Beim "Höhen" wird die Frage nach dem Sinn, werden spirituelle Dimensionen angesprochen - eine Perspektive, die in vielen Coachingprozessen (zu) wenig Beachtung findet. Abgerundet wird das Kapitel mit einem Exkurs zur Arbeit mit Polaritäten.
Kapitel 7: Interventionstechniken beschreibt grundlegende (aktives Zuhören, zirkuläres Fragen usw.) sowie erlebnisaktivierende (Umgang mit Sprache, Inszenieren usw.) Interventionstechniken.
In Kapitel 8: Interventionsmedien führt Richter in verschiedene Interventionsmedien ein. Neben bekannteren Formen wie Arbeit mit Symbolen, Metaphern, Träumen, dem Körper, mit Aufstellungen oder dem Bildnerischen Gestalten werden auch Tiefenimagination und Trance vorgestellt. Hier wird deutlich, dass die intensive Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und deren Heilverfahren auch den Coachingansatz von Kurt F. Richter geprägt und erweitert hat. Vom Leser erfordert das eine gewisse Offenheit für unkonventionelle Verfahren.
Kapitel 9: Systemcoaching trägt der Tatsache Rechnung, dass Coaching inzwischen nicht nur mit Einzelpersonen, sondern auch mit Teams und Gruppen stattfindet.
Mit Kapitel 10: Balancecoaching wird Coaching in den größeren Zusammenhang von Lifebalance bzw. Lebenskunst gestellt. Mit Stress, Burnout, Mobbing etc. werden Themen in den Blick genommen, die dazu führen, dass Menschen aus der Balance geraten. Zu den elementaren Grundlagen der Balancekunst gehören Loslassen- und Zulassen-Können als wesentliche Dimensionen von Gelassenheit. "Gelassenheit ist ein lebendiges Mitschwingen mit den Widersprüchen des Lebens und gleichzeitig ein Ruhen in sich selbst." (S. 288)
Kapitel 11: Selbstcoaching führt den Gedanken der Lifebalance fort und verbindet ihn mit dem Begriff der Achtsamkeit. Die Idee, einen "inneren Berater zu installieren" (S. 313), führt konsequent zum übergeordneten Ziel von Coachingprozessen: "Ziel ist, vom Coaching zum Selbstcoaching, von der Fremd- zur Selbstunterstützung und Selbstleadership zu gelangen." (S. 59)
Am Ende der einzelnen Kapitel finden sich zahlreiche themenbezogene Übungen, die im Anhang in einer Gesamtübersicht zum Nachschlagen aufgeführt sind. Die differenzierte Beschreibung ist identisch strukturiert nach den Kategorien: Erfahrungsfeld, Ziel, Material, Modus, Medium, Zeitbedarf, Durchführung, Auswertung. Was fehlt, ist der ausdrückliche und generelle Hinweis darauf, dass die stimmige Auswahl und der kompetente Einsatz von Übungen (orientiert an Coachee, Thema, Setting und Coach) eigene Erfahrungen mit verschiedenen Medien und Methoden sowie eine grundständige Beratungsausbildung voraussetzen. Andernfalls können - was fahrlässig wäre - Themen angestoßen und eröffnet werden, deren Bearbeitung einen unerfahrenen Coach oder Berater möglicherweise überfordern. Oder aber der unstimmige Einsatz von Methoden ruft Widerstände bzw. Blockaden hervor und verstellt den Coachees dauerhaft den Zugang zu den jeweiligen Methoden und Medien. Deutlich geworden sollte sein, dass es sich bei den dargestellten Übungen nicht um eine beliebig einsetzbare "Spielesammlung" handelt, sondern um situativ hoch wirksame, kreative Methoden für beraterische Kontexte, die einen kompetenten und achtsamen Umgang unbedingt erfordern.
Diskussion und Fazit
Das Buch dokumentiert eine Fülle an systematisierter Erkenntnis, in die mehr als drei Jahrzehnte Coaching-, Supervisions-, Therapie- und Ausbildungserfahrung eingeflossen sind. Getragen ist es von höchster Kompetenz und einer Haltung bedingungsloser Wertschätzung und Menschenfreundlichkeit. An etlichen Stellen nimmt Richter kenntnisreich auf andere Theorien Bezug (z.B. Johari-Fenster, Kommunikationsmodell nach Schulz von Thun…), konkretisiert diese in Anwendung auf den Coachingprozess und entwickelt sie teilweise weiter. Hervorzuheben ist nicht zuletzt die überaus klare und präzise Sprache des Buches, die immer wieder auch mit sehr anschaulichen Bildern arbeitet.
Insgesamt ist „Coaching als kreativer Prozess“ deutlich vor einem pädagogisch-psychologischen Hintergrund geschrieben und betont damit eine Perspektive, die im bunten Durcheinander der oft auch soziologisch-wirtschaftlich orientierten Literatur zum Thema Coaching nicht immer die Bedeutung erfährt, die ihr von der Sache her zukommt.
Angehende Coachs und andere am Thema Interessierte finden in dem Buch eine systematische und sehr verständliche Einführung in Coaching als Beratungsmodell. Zugleich bietet der Ansatz von Kurt F. Richter aber auch erfahrenen Coachs, Supervisoren, Beratern und Fortbildnern zahlreiche Möglichkeiten und Dimensionen - die spirituelle zum Beispiel -, ihr Verständnis von Coaching zu erweitern und zu vertiefen. Alle genannten können mit der differenzierten Sammlung von Übungen - immer den notwendigen fachlichen Hintergrund vorausgesetzt -, ihren persönlichen Methodenkoffer ganz erheblich erweitern.
Mit dem frühen Tod von Kurt F. Richter im Juli 2009 hat die Coaching- und Supervisionsszene einen ihrer herausragenden Vertreter verloren. Bleibt nun zu hoffen, dass seine Gedanken in der Fachdiskussion lebendig gehalten werden und über das Buch eine breite Leserschaft erreichen.
Rezension von
Prof. Dr. Margit Ostertag
Dipl.-Päd., Dr. phil., Supervisorin (DGsV),
Coach (DGfC), Evangelische Fachhochschule Nürnberg, Fachbereich Sozialwesen
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