Dieter Hildebrandt: Politiker-Märchen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 05.12.2009
Dieter Hildebrandt: Politiker-Märchen. Die schönsten Lügen aus 60 Jahren Bundesrepublik.
Diederichs
(München) 2009.
ISBN 978-3-424-35007-4.
17,95 EUR.
CH: 36,90 sFr.
CD. Ca. 48 Minuten.
Lügen haben kurze Beine – und viele Worte
60 Jahre Bundesrepublik. Das muss gefeiert werden! Bis auf einige (zu vernachlässigende?) Ausnahmen, ist die 60-jährige Geschichte der Bundesrepublik Deutschland doch eine Erfolgsgeschichte, oder? Zu den vielen Blumensträußen und Lobreden, den gesellschaftlichen und politischen Analysen, sind es die Kabarettisten, die in die Hochstimmungen ein paar (nachdenkenswerte!) Schattenbilder werfen. Nun: Gibt man in die web-Suchmaschine den Begriff „Politikerlügen“ ein, erhält man dazu rund 16.100 Eintragungen. Sie reichen von dokumentierten Aussagen von Politikern, die sich als Lügen und Falschinformationen heraus stellen, bis hin zu Erklärungen, dass Irrtümer keine Lügen seien und der Aussage, dass (alle?) Politiker lügen, unterstes Stammtischniveau sei. Natürlich ist klar, dass nicht alle Politiker lügen! Auch, dass manche Äußerungen und Aussagen von Politikern nicht mit der Absicht ausgesprochen werden, zu lügen, sondern aus „strategischen“ Gründen etwa so und so ausgedrückt werden können…
Thema und Autor
Dieter Hildebrandt, Jahrgang 1927, ist in Deutschland eine Größe. Der Mitbegründer der „Münchner Lach- und Schießgesellschaft“, seine Fernsehserien „Notizen aus der Provinz“ und „Scheibenwischer“, haben den Schauspieler zu einer beliebten und gleichzeitig gefürchteten Institution beim Aussprechen von gesellschaftlichen Wahrheiten gemacht. Aus Anlass der Feiern und Gedenkveranstaltungen zum Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland (1949 – 2009), hat das „politische Gedächtnis der Nation“ und „Kabarett-Urgestein“ ausgewählte Politikermärchen aus den 60 Jahren gesammelt und auf einer CD kommentiert. Es sollen „die schönsten Lügen aus 60 Jahren Bundesrepublik“ sein, die von Politikern in die Öffentlichkeit gebracht worden sind. Die einzelnen Statements (Lügen) werden jeweils eingeleitet durch unterschiedliche (schräge, melodische, leise, laute, passende…) Intonationen der Anfangstakte der deutschen Nationalhymne.
Inhalt
Dieter Hildebrandt serviert die Tondokumente der Mitschnitte aus Fernseh- und Rundfunknachrichten chronologisch; jedenfalls beginnt er mit Konrad Adenauer (1949), gefolgt von Franz Josef Strauß 1962), Hans Filbinger (1978), der Flick-Affaire (1984), Uwe Barschel (1987), Helmut Kohl (1990), Roland Koch (2000), Norbert Blüm (2001), Andrea Ypsilanti (2008). Immer geht es um den Verdacht, dass da Menschen am Werk sind und in der politischen Arena agieren, mit dem Anspruch, die „absolute Wahrheit“ zu vertreten. Das aber, so lehrt uns die alte und neue Menschheitsgeschichte, ist immer von Übel und baut auf Lügengebäuden auf und mündet ein in das, was auch als „Arroganz der Macht“ bezeichnet wird. Hildebrandt beginnt sein „Politiker-Märchen“ denn auch mit: „Es war einmal…“ ein Volk, das auserwählt wurde von einem Kaiser, einem Führer…; und als dann die große Zeit der Amnesie, äh, Amnestie anbrach, als der Krieg zu Ende war und Deutschland in Schutt und Asche lag, da „hatten die Opfer beim Neubeginn keine Chance gegen die Täter“. Und so kamen dann viele von denjenigen (wieder) an die Macht, deren politisches Denken und Handeln wurzelte in den vergangenen, autoritären, monarchistischen und faschistischen Strukturen – eine notwendige Erinnerung angesichts der Schnellvergessenheit der Zeit und Geschichte.
Fazit
Natürlich wird es Widerspruch geben gegen die tönende Erinnerung; natürlich der Hildebrandt, der Linke, werden die einen sagen. Die Auswahl zeigt es ja: Bis auf den „Ausrutscher“ Ypsilanti, alles Konservative und Rechte. Die „Bösewichter“ werden von dem kabarettistischen Gauckler lautstark und unfair vorgeführt, wird es heißen. Und dann folgt (vermutlich) die Biertisch-Parole: „Alle Politiker lügen, … sind korrupt, … unehrlich, … unglaubwürdig… Die Anderen aber, die im Kabarett eine wichtige und notwendige Korrektur gegen politische Manipulation, Lügen und Machtmissbrauch erkennen (und das ist hoffentlich die Mehrheit der Bevölkerung!), werden, mit Genuss, einem Schmunzeln und einem Kopfnicken, dankbar sein für das Hervorholen von vielleicht vergessenen und verdrängten Sprüchen, die Lügen waren und bleiben. Sicherlich will Hildebrandt mit seinem Werk keine Retourkutschen fahren, auch kein „Ätsch-Ätsch“ ist dahinter zu vermuten; und schon gar kein erhobener Zeigefinger. Es ist eher der Versuch, „aus Lügen zu lernen“ und dabei mitzuhelfen, dass in unserer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft, die mittlerweile 60 Jahre hält, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit gegen Lügen, Manipulationen, Irrtümern und vermeintlichen politischen Strategien siegen und zum alltäglichen, politischen und gesellschaftlichen Umgang miteinander werden. Das könnte ein Wunsch und ein Ziel sein für den 60. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland, sicherlich auch im Sinne von Dieter Hildebrandt. Kabarettisten mit wachen Augen und Ohren und kritischem Blick brauchen wir weiterhin!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 05.12.2009 zu:
Dieter Hildebrandt: Politiker-Märchen. Die schönsten Lügen aus 60 Jahren Bundesrepublik. Diederichs
(München) 2009.
ISBN 978-3-424-35007-4.
CD. Ca. 48 Minuten.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8675.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.
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