Paul Nolte: Religion und Bürgergesellschaft
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 05.12.2009

Paul Nolte: Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat? Berlin University Press (Berlin, Köln) 2009. 136 Seiten. ISBN 978-3-940432-64-3. 24,90 EUR.
Religion als moralischer Mehrwert? Entstehungshintergrund und Fragestellung
Über die Gründe, weshalb in der neueren Zeit die Aufmerksamkeit der Menschen nach religiösen Angeboten wächst, wird viel spekuliert und nachgedacht. Das Erstaunen, dass die im 19. Jahrhundert einsetzenden Konflikte zwischen „liberalem Staat“ und „ultramontanem Katholizismus“ in ein „zweites konfessionelles Zeitalter“ mündeten, hat sich heute gelegt durch die Einschätzung von der Wiederkehr der Religion. Die Werte „Freiheit“ und „Religion“ schwimmen im aufgeklärten Bewusstsein abendländischer und westlicher Gesellschaften ja in der Ursuppe eines zôon politikon, eines politischen, vernunftbegabten Lebewesens, das, entweder eingebunden ist in die Gewissheit, dass menschliches Wohlergehen ohne den göttlichen Heilsplan und das Schöpfungsversprechen gar nicht denkbar sei, schon gar nicht, weil der Mensch mit seiner verschuldeten Unmündigkeit gar nicht existieren – oder dass er sich aus seiner unverschuldeten Unmündigkeit durch individuelle und gesellschaftliche Freiheit heraus holen könne; am besten in einer „Bürger- und Zivilgesellschaft“. Freilich, so lässt sich feststellen, profitieren die etablierten Religionsgemeinschaften von diesem Aufbruch (bisher) nicht; vielmehr verzeichnen sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche mehr Kirchenaustritte und weniger Kircheneintritte als jemals zuvor.
Aufbau und Autor
Als Gegenposition zur „Renaissance der Religion“ im privaten und öffentlichen Bewusstsein hat sich gleichzeitig eine ernst zu nehmende Religionskritik, bis hin zu Richard Dawkins’ Abrechnung mit Gott (Gotteswahn, 2007; vgl. dazu: Jos Schnurer, Berliner Literaturkritik, 14.12.2007), entwickelt. In dieser Kontroverse ist es durchaus angezeigt, die Frage nach der Bedeutung des Religiösen im gesellschaftlichen und politischen Leben der Menschen Hier und Heute zu stellen. Der Berliner Historiker Paul Nolte, der in seinen Analysen über die (deutsche) Gesellschaft von der „riskanten Moderne“ (2006) spricht, legt in der Reihe „Berliner Reden zur Religionspolitik“ ein Bändchen zu eben dieser Frage vor, woher denn „das neue Interesse an Religion in Europa und Deutschland“ komme. Dabei bezieht er von Anfang an eine Position, die sicherlich nicht unwidersprochen sein wird, dass nämlich „Religion auf vielfältige Weise auf die Gesellschaft im Ganzen ausstrahlt und damit … nützlich für die Bürgergesellschaft ist“. Mit dem Einführungs- und Schlussteil gliedert Nolte sein Essay in neun Teile, in denen er „das Verhältnis von Religion und Bürgergesellschaft in einigen systematischen und historischen Strichen skizzieren“ will – mehr nicht!
Inhalt
Im Kapitel „Die Rückkehr der Religion“ schaut der Autor auf die verschiedenen Erscheinungsformen einer „Rückkehr der Religionen“, diskutiert die zahlreichen Befunde, wie sie im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs vorfindbar sind und stellt, angesichts der veränderten Situationen, etwa der „Entkirchlichung Ostdeutschlands“, aber auch durch den institutionellen und moralischen Bedeutungsverlust der etablierten christlichen Kirchen in Deutschland insgesamt, Fragen nach dem Selbstbewusstsein und den (schwindenden) gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten der Glaubensgemeinschaften im Staat: „Die Gesellschaft als ganze schließlich muss Alternativen zu jenen sozialen Infrastrukturen finden, die zuvor von den religiösen Leistungsanbietern zur Verfügung gestellt worden sind“.
Im dritten Kapitel begründet er seine These, „dass das Bewusstsein für Religion und die gesellschaftliche Reflexion von Religion zunimmt, wenn die Selbstverständlichkeit von Religion erodiert“; eine paradox erscheinende Behauptung, dass dies „gerade das Indiz für das Überschreiten einer neuen Schwelle im Säkularisierungsprozess ist“. Als eine Ursache für den vorfindbaren Trend einer zunehmenden Individualisierung (oder Egozentrisierung?) sieht Nolte den Verlust von traditionellen sozialen Bindungsformen.
Der Frage, was Säkularisierung heiße und bedeute, wird im vierten Teil nachgegangen. Nach Luhmann ist es die „gesellschaftsstrukturelle Relevanz der Privatisierung religiösen Entscheidens“ und die staatlich gewollte Trennung von Kirche und Staat, also einer „institutionellen Grenze“, gewissermaßen sogar die Infragestellung von „Religionsfähigkeit“ und „Religionsbedürftigkeit“ der Menschen.
In einer „postsäkularen Gesellschaft“, das wird im fünften Kapitel diskutiert, geht es dann darum, den Grenzraum gesellschaftlichen Handelns „in der Mitte des Gemeinwesens zu verankern“. Weil es dabei immer um Grenzüberschreitungen der beiden Sphären Kirche und Staat geht, bedarf es in einer demokratisch und freiheitlich verfassten Gesellschaft der Anerkennung einer religiösen Pluralität und von „religionsbewussten Bürgern…, die Grenzen der religiösen Ansprüche in der offenen, demokratischen Gesellschaft respektieren“.
Wenn es um die autonomen und engagierten Sphären des bürgerlichen Bewusstseins und Engagements geht, kommen die Modelle und Vorstellungen von „Bürgergesellschaft“ und „Zivilgesellschaft“ ins Spiel. Diese „Suche nach Ligaturen“ findet im sechsten Kapitel statt. Dabei reflektiert der Autor die verschiedenen historischen Modelle sozial-religiösen Denkens und Handelns. Weil moralische Kraft und Praxis, mit dem christlichen Begriff der „Nächstenliebe“ ausgedrückt, das tragen sollte, was im Spannungsfeld von „radikaler Privatheit“, als „Intimität des Glaubens“ verstanden und „radikaler Aufforderung öffentlich zu handeln“ steht, passt, nach Meinung des Autors, in die Standortbestimmung, wie sie eine Bürgergesellschaft erfordert.
Was denn dann der Nutzen der Religion für die Zivilgesellschaft sei, dies wird im siebten Kapitel verhandelt. Dabei wird natürlich deutlich, dass es nicht um eine religiöse Durchdringung der Bürgergesellschaft gehen kann, sondern um die Anerkennung der jeweils eigenen Aktivitäten, etwa im Netzwerk der christlichen Kirchen, das sich wie ein Modell von konzentrischen Kreisen, Einflüssen und individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen lesen lässt und von traditionellen Anlässen, über alltagssprachliche Nennungen, bis hin zu kritischen und moralischen Auffassungen über Lebenswandel und -ziel.
Im achten Kapitel schließlich wird die Frage der Fragen - „Bürgergesellschaft und religionsfreundlicher Staat“ – gestellt, nicht „oder“. Dabei arbeitet Paul Nolte heraus, dass mit dem Begriff „religionsfreundlicher Staat“ weder eine Politik verstanden wird, die selbst religiöse Attribute annimmt und in Recht setzt, noch ein Staat, der einzelne religiöse Einrichtungen und Glaubensgemeinschaften bevorzugt und damit andere benachteiligt; vielmehr muss „Religionsfreiheit“ in der Verfassungskultur richtig verstanden werden – nämlich nicht Freiheit von Religion, sondern Freiheit für Religion. Weil aber „Religion ( ) kein Steinbruch (ist), aus dem sich die Bürgergesellschaft für ihre Zwecke bequem und billig bedienen kann“, deshalb, so sein Fazit, sollte sich der Staat als religionsfreundlich verhalten.
Fazit
Das Essay stellt die Frage nach dem religionsfreundlichen, nicht nach dem religiösen Staat, in einer Bürger- und Zivilgesellschaft. Dabei steht die Behauptung im Mittelpunkt, dass die Religion einen moralischen Mehrwert produziere und den sozialen Zusammenhalt der Menschen in einer demokratischen Gesellschaft fördere. Paul Nolte argumentiert in seiner Skizze überzeugend, indem er die theoretischen Grundlagen eines Staatsdenkens und –handelns aufzeigt, sie historisch herleitet und in der aktuellen, politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung diskutiert. Dass dabei weder ein unbedingtes Pro, noch ein ausschließliches Contra Religion zustande kommt, macht den Diskussionsbeitrag zu einem wertvollen Baustein dafür, wie eine freiheitliche Bürgergesellschaft funktionieren sollte.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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