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Gregor Straube (Hrsg.): 1-Euro-Jobs

Rezensiert von Dipl. Politologe Christian Schröder, 06.03.2010

Cover Gregor Straube (Hrsg.): 1-Euro-Jobs ISBN 978-3-643-10071-9

Gregor Straube (Hrsg.): 1-Euro-Jobs. Kritische Perspektiven. Lit Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2009. 154 Seiten. ISBN 978-3-643-10071-9. 19,90 EUR. CH: 31,90 sFr.
Reihe: Verhandlungen mit der Gegenwart - Band 3.

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Herausgeber und AutorInnen

Der Herausgeber Gregor Straube studierte Sozialwissenschaften und Geschlechterstudien in Oldenburg. Seine Schwerpunkte sind Kritische und Postmoderne Theorien. Er engagiert sich bei dem Oldenburger Verein „Denkräume“, in dessen Buchreihe der vorliegende Sammelband erschienen ist. Die AutorInnen der einzelnen Beiträge sind SozialwissenschaftlerInnen sowie ein Jurist.

Thema

Im Zentrum der Publikation steht die arbeitsmarktpolitische Maßnahme „1-Euro-Jobs“, offiziell „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“ genannt. Die 1-Euro-Jobs sind das wohl umstrittenste Instrument der Hartz-Gesetze. Sie sind zur häufigsten – und oftmals einzigen – Maßnahme geworden, welche die Arbeitsverwaltungen Erwerbslosen „anzubieten“ haben. Sie haben mit ihrer diffusen Zielsetzung zwischen Arbeitsmarktintegration und Test der Arbeitsbereitschaft einerseits kontrollierenden und disziplinierenden Charakter, andererseits haben sie die Qualität öffentlich geförderter Beschäftigung nach unten abgesenkt. Arbeitslose arbeiten seitdem zu weit schlechteren Bedingungen in Maßnahmen und Träger zu niedrigeren Standards. Im Mittelpunkt der Artikel stehen die gesamtgesellschaftlichen und individuellen Auswirkungen der 1-Euro-Jobs.

Aufbau und Inhalt

Nach dem kurzen Vorwort des Herausgebers Gregor Straube, der selbst mit keinem eigenen Beitrag vertreten ist, analysiert Peer Rosenthal, Referent für Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik bei der Arbeitnehmerkammer Bremen, die Auswirkungen von Hartz IV auf die sozialen Bürgerrechte in Deutschland. Der Autor konstatiert eine grundlegende Verschiebung vom Solidarprinzip des klassischen Sozialstaats hin zum Konzept der Eigenverantwortung im aktivierenden Sozialstaat. Er greift zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Sozialstaatlichkeit und Bürgerstatus auf das Konzept des social citizenship von Thomas H. Marshall zurück. Dazu gleicht er dessen vier Dimensionen (soziale Rechte, ökonomische Situation, gesellschaftliche Teilhabe sowie Einstellung zum Sozialstaat) mit Hartz IV und den 1-Euro-Jobs. Rosenthal kommt dabei zu einem negativen Urteil und fordert daher er eine grundlegende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Leitbild „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“.

Der Jurist Jan Gehrken sieht für seine Disziplin zwei Möglichkeiten sich kritisch mit 1-Euro-Jobs auseinanderzusetzen: einerseits Rechtsberatung für Betroffene, andererseits die Verfassungskonformität der gesetzlichen Regelungen anzufechten. Der Autor bevorzugt die zweite Variante. Er diskutiert in seinem Artikel die Frage, inwiefern die Pflicht zur Aufnahme eines 1-Euro-Jobs als Arbeitszwang im Sinne des Grundgesetzes anzusehen und somit verfassungswidrig sei. Zwar würden von einem Teil der „juristischen Praxis […] 1-Euro-Jobs als neuer Regelfall der öffentlich geförderten Beschäftigung akzeptiert“ (41). Bei einem anderen Teil sei „die Abneigung gegen verpflichtende und sanktionsbewährte Arbeitsgelegenheiten deutlich zu spüren“ (41). Nach seiner Rechtsauffassung ist der Sanktionsparagraph „jedenfalls in Teilen nicht verfassungsgemäß“ (57). Der Jurist endet mit der Feststellung, dass „ein in der Menschenwürde fußender Anspruch auf Sicherstellung des Existenzminimumms nicht von der Arbeitsbereitschaft abhängen [kann].“ (58)

Die ArbeitsmarktsoziologInnen Natalie Grimm und Kai Marquardsen fragen in ihrem Beitrag „1-Euro-Jobs: Ein unmoralisches Angebot“ nach den subjektiven Gründen für die Annahme eines 1-Euro-Jobs. Denn die „Sichtweisen und Einschätzungen der Personengruppe, die von dieser arbeitsmarktpolitischen Maßnahme (potentiell) betroffen ist“ (64) wurden bisher fast vollständig ausgeblendet. Sie stellen erste Ergebnisse aus zwei Forschungsprojekten vor, in welche die AutorInnen involviert sind und in deren Mittelpunkt Interviews mit Arbeitslosengeld-II-EmpfängerInnen stehen. Die Antworten auf die Frage, warum Erwerbslose ein solches „Angebot“ annehmen oder ablehnen, offenbart unterschiedliche Motive: finanzielle Aspekte die hohe Orientierung an einem Normalarbeitsverhältnis und die damit zusammenhängende Anerkennung, Identität und sozialen Kontakte sowie erhoffte Zukunftsperspektiven. Die AutorInnen stellen fest, dass „Erwerbsarbeit nach wie vor der zentrale Modus der gesellschaftlichen Integration“ (88) in den Argumentationsmustern der Befragten ist. 1-Euro-Jobs seien daher als „unmoralisches Angebot“ zu bewerten, da sie „nicht geeignet sind, die gegenwärtigen Probleme zu lösen“, sondern im Gegenteil die „Ausgrenzungserfahrungen der Erwerbslosen eher noch verstärken“ (93f). Denn nach Abschluss der Maßnahme erwartet die TeilnehmerInnen nur in Ausnahmefällen ein reguläres Arbeitsverhältnis, der Regelfall sei Enttäuschung und Arbeitslosigkeit.

Cornelia Aping bewertet 1-Euro-Jobs ebenfalls aus Teilnehmersicht. Sie berichtet von einer quantitativen Befragung von Betroffenen in Bremen – von der man leider nicht erfährt, wer sie wann durchgeführt hat oder wie viele Menschen befragt wurden. Zunächst erläutert sie knapp das System der 1-Euro-Jobs in Bremen, die dort beschönigend „In-Jobs“ heißen. Weniger erstaunlich ist, dass 1-Euro-Jobs vor allem bei Menschen mit geringen Chancen auf dem Arbeitsmarkt „beliebt“ sind. Überraschend ist aber, dass etwa 70 Prozent der Bremer 1-Euro-Jobber „freiwillig“ an dieser Maßnahme teilnehmen und ein hohes Maß an Eigeninitiative bei der Suche nach einem 1-Euro-Job aufweißen. Zwar sind viele TeilnehmerInnen meist zufrieden mit ihrem 1-Euro-Job und können diesem positiven Aspekte abgewinnen, hinsichtlich einer möglichen Integration in den regulären Arbeitsmarkt tritt allerdings während der Maßnahme eine deutliche Ernüchterung ein. Die Autorin zieht deshalb das wenig überraschende Fazit, dass „eine große Lücke zwischen den vom Gesetzgeber formulierten Zielen des 1-Euro-Jobs und den Wünschen und Bedürfnissen der Teilnehmer“ (123) klafft.

Der Sozialwissenschaftler Christian Girschner bewertet in seinem Beitrag „Zur politischen Ökonomie der 1-Euro-Jobs“ die Hartz-Gesetze und 1-Euro-Jobs aus kapitalismuskritischer Perspektive. Er ordnet die Hartz-Gesetze in ihren „gesellschaftlichen bzw. herrschaftlichen und ideologischen Kontext“ (131) ein. Der Autor erläutert die Veränderungen im gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnis, die Hartz IV ermöglicht und „ein völlig neues Verhältnis zwischen dem Staat und den Arbeitslosen“ (133) konstituiert haben. Er beschreibt das System der „parasitäre[n] 1-Euro-Job-Ökonomie“ (136) und bewertet sie als „ein neuartige Variante des Keynesianismus für die Kommunen und die diversen Nutznießer, die den Vorteil besitzt, die erwerbslosen und entrechteten Lohnabhängigen ohne Bezahlung ausbeuten zu können“ (146).

Zielgruppe und Fazit

Der Sammelband richtet sich an Menschen, denen die arbeitsmarktpolitische Diskussion vertraut ist, da von den AutorInnen stillschweigend zahlreiche Begriffe und wissenschaftliche Konzepte vorausgesetzt werden.

Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes sind unterschiedlichen Niveaus und lavieren zwischen allgemein theoretischen Einschätzungen und konkreten empirischen Forschungsergebnissen. Vor allem die Artikel, in denen die Sichtweise der TeilnehmerInnen der 1-Euro-Jobs eingenommen wird, eröffnen einen interessanten Blick „von unten“ auf die Arbeitsmarktreform und die 1-Euro-Jobs. Diese Perspektive ermöglicht fernab von „Eingliederungsbilanzen“ und „Integrationserfolgen“ zu erfahren, wie Menschen „am unteren Rande des Arbeitsmarktes“ selbst arbeiten möchten.

Natürlich kann auch dieser Sammelband nicht alle Lücken schließen: von den arbeitsmarktpolitischen und gesellschaftlichen Folgen der 1-Euro-Jobs angefangen über deren Auswirkungen für die Träger von 1-Euro-Jobs bis hin zu Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, die nicht angesprochen werden. Zugute halten kann man dem Herausgeber Gregor Straube, dass er die eigenen Leerstellen in seinem Vorwort nicht verschweigt.

Rezension von
Dipl. Politologe Christian Schröder
Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB)
Website

Es gibt 17 Rezensionen von Christian Schröder.

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Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 06.03.2010 zu: Gregor Straube (Hrsg.): 1-Euro-Jobs. Kritische Perspektiven. Lit Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2009. ISBN 978-3-643-10071-9. Reihe: Verhandlungen mit der Gegenwart - Band 3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8688.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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