Hans U. Otto, Holger Ziegler (Hrsg.): Capabilities - Handlungsbefähigung und [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Friedhelm Vahsen, 07.01.2010
Hans U. Otto, Holger Ziegler (Hrsg.): Capabilities - Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2009. 198 Seiten. ISBN 978-3-531-16760-2. 24,90 EUR. CH: 42,50 sFr.
Ausgangspunkt und Thema
In diesem Sammelband wird der vom indischen Ökonomen und Nobelpreisträger Amartya Sen und der US- amerikanischen Philosophin Martha Craven Nussbaum ausformulierte Capabilities-Ansatz als „ein international zunehmend diskutierter, gerechtigkeitstheoretischer Ansatz“ vorgestellt, der „die Frage nach einem guten Leben bzw. einer gelingenden praktischen Lebensführung in den Mittelpunkt stellt“ (S.9). Im Capablitiy Approach von
A. Sen rückt das „Arrangement differenter Handlungs- und Daseinsweisen“ in den Fokus der Betrachtung „über das [...] unterschiedliche Menschen verfügen und damit verbunden die Frage nach ihren positiven Freiheiten, sich für ein als erstrebenswert betrachtetes Leben entscheiden zu können“ (S.9).
Bei Martha Nussbaum enthält der Capabalities Approach eine „objektive Liste“ fundamentaler Möglichkeiten und Befähigungen [...] als Grundlage eines erfüllten, gedeihlichen Lebens („human flourishing“)“ (S.9). Es geht - etwas einfacher formuliert - um die Möglichkeiten und Verwirklichungschancen eines guten, geglückten oder auch glücklichen Lebens und um die Freiheit der Menschen, sich für oder gegen eine Lebensführungsweise zu entscheiden.
Damit ist jedoch nicht gemeint, für alle allgemeinverbindlich festzulegen, was gut sei oder eine „Werde-der du- bist“ Theorie eines gelingenden Lebens zu entwickeln. Es geht vielmehr um die Selbstbestimmung und Autonomie des Einzelnen, ihnen nicht von „außen zu oktroyieren, was sie als das Gute zu verstehen hätten, noch darauf, ihren Handlungs- und Daseinsfreiraum auf dieses Ziel hin zu verengen“ (S.11).
Die Verfasser gehen davon aus, mit dieser Bestimmung und Definition von Handlungsbefähigung „sowohl pädagogisch als auch sozialanalytisch zu einem „neuen Gerechtigkeitsbegriff zu kommen, der die Zukunft der Erziehungswissenschaft maßgeblich beeinflussen kann“ (Klappentext).
Aufbau
Das Buch gliedert sich in 4 Haupteile:
- In der Einleitung wird der Capabilities-Ansatz von den Herausgebern als neue Orientierung umgrenzt.
- Im zweiten Teil werden politisch-theoretische Grundlagen dieses Paradigmas herausgearbeitet. P. Dabrock setzt sich mit der Befähigungsgerechtigkeit auseinander. J.H. Heinrichs stellt „egalitaristische Vorgaben einer Maßeinheit“ vor. H.Brighouse/E.Unterhalter greifen den Aspekt „Primary Goods versus Capabilities: Considering the debate in relation to equalities in education“ auf.
- Der dritte Hauptteil bezieht sich auf die erziehungwissenschaftlichen Perspektiven. N.Oelkers / H.-U. Otto / H.Ziegler skizzieren den Capabilities-Ansatz als alternatives Fundament der Bildungs- und Wohlfahrtsforschung. U.Steckmann umgrenzt die Perspektiven dieses Ansatzes und M. Walker sieht in ihm „a framwork for reimagining education and justice“. M. Grundmann geht auf die Handlungsbefähigung in sozialisationstheoretischer Perspektive ein. N. Ölkers / M.Schrödter spannen den Bogen der Betrachtung des Capability Approach hin zum Kindeswohl und Kindeswillen und gehen auf das Wohlergehen von Kindern ein.
- Der abschließende Teil will die Anschlüsse an Bildungstheorie und Bildungsforschung herstellen: S. Andresen / H.-U. Otto / H. Ziegler werfen einen „educational view on the Capabilities Approach“ und stellen „Bildung as Human Development“ dar.
Inhalt
Steckmann arbeit in seinem Beitrag die Entstehung des Capability Approach in den 1980er Jahren im interdisziplinären Kontext von Entwicklungspolitik und Entwicklungsökonomie heraus: „Der Capability Approach verfolgt eine Ethik und Politik der Menschenrechte, die sich grundsätzlich an den systematischen Vorgaben der Moralphilosophie Kants bzw. am Neokantianismus der Rawls-Schule orientiert.[…]. Der Begriff der positiven Freiheit steht im konstruktiven Zentrum des Capability Approach, was erkennbar darin zum Ausdruck kommt, dass der Begriff „capabilty“ sich nicht ohne Bezug auf einen positiven Freiheitsbegriff definieren lässt“ (S.98f.) Damit wird angenommen, dass keine äußeren Beschränkungen der Realisierung der „der Befähigung entsprechenden Funktionen (functioning)“ vorliegen, aber auch „angenommen, dass „das Können der Person hinreichend ausgebildet ist“ und zudem geeignete Rahmenbedingungen zur Realisierung vorliegen (S.98).
Dies schließt nicht aus, das es „Szenarien der Deformation personaler Selbstverhältnisse“ gibt, „eine Person kann sich also wohlmöglich in Unkenntnis darüber befinden, worin ihre wirklichen Bedürfnisse bestehen“ (S.100). Hier wird der Begriff der „adaptiven Präferenzen“ von J. Elster eingeführt. Personen passen sich depravierten Lebensverhältnissen an, „unerreichbar erscheinende Ziele [werden[] aus dem Horizont des Wünschbaren ausgeschlossen oder die gegenwärtige Lebenssituation wird in einer unverhältnismäßigen Weise positiv bewertet“ (ebd.). Adaptive Präferenzen bedeutet die Deformation personaler Selbstbestimmungsfähigkeit. Allerdings besteht das Problem der Bewertung der adaptiven Präferenzen als negativ. „Die Anpassung der eigenen Präferenzstruktur an veränderte Lebensumstände kann beispielsweise auch, worauf Elster ausdrücklich hinweist, das Resultat einer überlegten Entscheidung sein“ (S.103).
Doch was sind die „wahren“ Bedürfnisse? Sen und Nussbaum greifen hier auf die Aristotelische Ethik zurück, die auf eine objektive Bestimmung dessen zielt, was für ein menschliches Wesen gut sei. „Die der menschlichen Natur inhärenten Zwecke lassen sich zumindest „umrisshaft“ in eine Konzeption des Guten bestimmen (siehe Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1098a: 20ff.)“ (S.194).
Nussbaum listet folgerichtig zehn Grundbefähigungen als Liste der capabilities auf.
P. Dabrock stellt diese in seinem Beitrag zur Befähigungsgerechtigkeit insbesondere auch unter Bezug auf die Inklusion der „Schwächsten der Schwachen“ dar.
„Nussbaum [...] vertritt die These, dass die Menschenwürde über rein formale Versicherungen hinaus nur dann effektiv geachtet und geschützt und dieser Anspruch nicht bloß formal versichert wird, wenn ihre Liste von zehn Grundfähigkeiten berücksichtigt wird“ (S.29).
Diese Liste soll nach Nussbaum „ways of realizing a life with human dignity, in the different area of life with which human beings typically engage“ (S.30) darstellen. Damit wird dieser Ansatz, dies betonen Dabrock und Steckmann gemeinsam, vor allem auch zu einem dezidierten Ansatz der Einbindung in ein soziales Miteinander als „human flourishing“.
Dies betrifft insbesondere Behinderte und „wird durch den wiederholten Hinweis auf das zu Grunde liegende Menschenbild mit seiner Sensibilität gegenüber Vulnerabilität und Schwachheit, aber auch seiner Rückbindung an Kommunikabilität und Responsivität deutlich“ (S.39).
Steckmann betont, dass die Nussbaum´sche Liste der Befähigung nicht herunterzubuchstabieren sei, es gelte Menschen mit geistiger Behinderungen oder Demenzerkrankung „so nah wie möglich an die Entwicklungsziele der menschlichen Lebensform heranzuführen“ (S.111).
Diskussion
Theoriekonjunkturen unterliegen Schwankungen. Der Capability Approach oder auch Capabilties Approach genannt Ansatz als Theorie des Guten ist „trotz der inhaltlichen Bestimmung der für menschliche Wesen erstrebenswerten Entwicklungsziele als formal zu betrachten, weil die inhaltliche Ausfüllung des Rahmens der mit der Befähigungsliste aufgespannt wird, den Individuen überlassen bleibt“ (S.112).
Gesellschaftliche Entfremdungszustände sollen sich auflösen können durch die prinzipielle Rückbindung an das Axiom der Menschenwürde, das die soziokulturelle und kommunikative Einbindung selbst Schwerstbehinderter fordert und Wahlmöglichkeiten offen lässt. Dies grenzt sich strukturell von einem Agency-Ansatz ab, der zwischen Förderungswürdigen und –willigen und den Adressaten von Suppenküchen - wie Marx es sagen würde -, dem nichtförderungsfähigen Lumpenproletaritat, unterscheidet (Lutz 2008).
Der Ansatz ragt auch über den jüngst in die Debatte gebrachten „Bewältigungs- und Gestaltungsansatz“ als „realized capacity of people to act upon their world“ (Holland u.a,. 1998: 42; zit. nach Homfeld/Schröer/Schweppe 2007: 245) hinaus.
Der capabilty approach beansprucht frei von metaphysischen Spekulationen zu sein. Dennoch erscheint die im aristotelischen Menschenbild begründete Figur des Guten nur als eine Möglichkeit theoretischer und praktischer Orientierung.
Gerechtigkeit, Menschenrechte, Menschenwürde oszillieren in ihrer Bedeutung, ihrem inhaltlichen Bezug und Verstehen-Werden durchaus um gemeinschaftsbezogene, unterschiedliche Ansichten und Werte einzelner Kulturen und religiöser Gruppierungen. „Die Explikation des anscheinend unhintergehbaren normativen Selbstverständnis der Angehörigen der menschlichen Lebensform könnte sich [...] [deshalb, F.V.] als unzureichend oder sogar irreführen erweisen“ (S. 113). Dennoch zielt dieser Ansatz darauf ab, den Rahmen für eine Grundorientierung zu schaffen, die den Einzelnen respektiert, um den realen Personen „als fallible Wesen moralische Rücksicht entgegenzubringen“ (S.113).
Die Nussbaum’sche Liste der capabilities umgrenzt individuelle Befähigungen, doch auch die sind vage und müssten, Kopenhagen lehrt uns dies, präzisiert werden. So bezieht sich der Punkt 8 der Liste auf die Umwelt: Other Species. Beeing able to live with concern for and in relation to animals, plants, and the world of nature (S.30). Was bedeutet dies faktisch für das Verhalten des Subjekts?
Fazit
Das Buch regt zum Nachdenken über gängige, disziplinäre Paradigmen und ihres Stellenwerts an. Ob der Capability–Approach aber eine Erweiterung des Denkens und vor allem auch des (sozial)pädagogischen Handelns bietet, dies bleibt jedoch offen. Die Breite und Vielfalt der dargestellten Überlegungen geben jedoch einen systematischen Überblick über die Intentionen dieses Ansatzes. Offen bleibt letztlich jedoch auch die Analyse der Verwirklichungschancen des Befähigungsansatzes im Kontext gesellschaftlicher Strukturen und deren „häufig ungerechten Struktur“ - wie in den Milieustudien von Bourdieu bis Vester herausgearbeitet (Oelkers/Schroeder, S.159).
Rezension von
Prof. Dr. Friedhelm Vahsen
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Zitiervorschlag
Friedhelm Vahsen. Rezension vom 07.01.2010 zu:
Hans U. Otto, Holger Ziegler (Hrsg.): Capabilities - Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2009.
ISBN 978-3-531-16760-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8703.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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