Gala Rebane, Katja Bendels et al. (Hrsg.): Humanismus polyphon
Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 02.03.2010
Gala Rebane, Katja Bendels, Nina Riedler (Hrsg.): Humanismus polyphon. Menschlichkeit im Zeitalter der Globalisierung.
transcript
(Bielefeld) 2009.
287 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1172-4.
35,80 EUR.
CH: 61,00 sFr.
Reihe: Der Mensch im Netz der Kulturen - Band 2.
Thema
Die Entwicklung des Humanismus in einer zunehmend globalisierten Welt zu erkunden – darin besteht das Ziel von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Sie kommen aus verschiedenen Regionen dieser Welt und erforschen – gefördert durch die Mercator-Stiftung – in interdisziplinärer Hinsicht vielfältige Themen wie ´Dichtung bei Humboldt´, ´Tanz und Kulturkritik´ oder ´Meinungen aus der pan-arabischen Tageszeitung al-Hayat zum Themenkomplex ´Demokratie, Freiheit und Menschenrechte´´ etc.
Mit dem Titel wird an eine große Tradition des abendländischen Denkens angeknüpft. Es geht hier um eine Ortsbestimmung der Kultur im Spiegel zentraler Fragen der geistigen Orientierung. Zu diesen Fragen gehört der Humanismus.
Der bekannte KWI-Direktor Claus Leggewie sieht den Nutzen des über vier Kontinente verteilten und vier Jahre dauernden Projektes in einem „reichen und lebendigen, interkulturellen Austausch“ des Humanprojektes. Der seit 2009 emeritierte Historiker Jörn Rüsen leitete das Projekt, dessen Ziel seiner Ansicht nach darin besteht, „durch konkrete Zusammenarbeit in aktiv geführten Dialogen kulturelle Konfrontationen abzubauen und neue, gemeinsame Einsichten und Anerkennungspotentiale im Verhältnis der Kulturen zu erschließen“.
Herausgeberinnen
Die Herausgeberinnen Gala Rebane und Niena Riedler sind seit 2006 Mitglieder/Promovierende des Graduiertenkollegs im Humanismus-Projekt am KWI. Die Herausgeberin Dr. Katja Bendels arbeitet als Lektorin beim Suhrkamp Verlag Frankfurt und promovierte an der Universität Duisburg-Essen.
Entstehungshintergrund
Das vorliegende Buch ist das erste einer ganzen Reihe von geplanten Veröffentlichungen. ´Mehr als 20 Bände sind in Arbeit. So erscheinen im Jahr 2010 u.a. „Traces of Humanism in China“ und „Europa-Antike-Humanismus“´. Bereits erschienen ist ein für die historisch-politische Bildung bestimmter Band: „Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen“ (vgl. Rezension https://www.socialnet.de/rezensionen/8537.php).
Die mit dem Adjektiv ´Humanismus´ versehene Bildungsidee geriet im Verlaufe des 19. und 20. Jahrhunderts in die Kritik. An ihre Stelle traten/treten elitäre, biologistische und genetische Ideen. Aber: Die Frage nach dem Menschen und seiner Stellung in der Welt ist nie verstummt. Wohl aber ist – vorübergehend – der Blick auf und die Suche nach überzeugenden Antworten abhanden gekommen.
Gerade deshalb brauchen wir den Humanismus als Grundlage für politisches Handeln und für politische Herrschaft, für geltungsstarke kulturübergreifende Prinzipien der menschlichen Handlungsorientierung, als inter- und intrakulturelle Zielbestimmung unseres Lebens und als nach wie vor inspirierendes Bildungsideal, als auch in der Vergangenheit verwurzelte und zukunftsträchtige Idee des sich vereinigenden Europas und im Bereich der Wirtschaft als Grundlage für die Anstrengung, die Dynamik des Kapitalismus mit menschlichen Zügen auszustatten (frei nach Jörn Rüsen).
Aufbau und Inhalt
Aus den 15 allesamt beeindruckenden Artikeln des Bandes möchte ich im folgenden einige herausgreifen. Die Auswahl ist rein subjektiv, d.h. sie ist keinesfalls nach Qualitätskriterien ausgerichtet, sondern basiert auf eigenen persönlichen Interessen und Neigungen.
Wilhelm von Humboldt (1767-1838) ist insbes. als Bildungstheoretiker und Sprachphilosoph in die Geschichte eingegangen. Asli Aymaz, Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung und – wie alle folgenden Verfasserinnen auch - assoziiertes Mitglied im Graduiertenkolleg des Humanismus-Projektes, beschäftigt sich mit der letzten Lebensphase Humboldts, einer Phase der ´schöpferischen Einsamkeit in Berlin-Tegel´, in der Humboldt etwa 1000 Gedichte (vor allem Sonette) verfasste. Sie versucht in ihrem Beitrag, auf einfühlsame Weise anhand praktischer Beispiele (eben der Gedichte) nachzuvollziehen und zu verstehen, welche Antriebe Humboldt zum Dichten bewogen haben.
Diana Brenscheidt gen. Jost beschäftigt sich mit dem modernen Tanz (´Ausdruckstanz´), wie er zu Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA mit Isadora Duncan und in Deutschland seinen Ausgang nahm. Die Aufbruchbewegung hin zu Luft, Körper und Bewegung um diese Jahrhundertwende herum muss gewaltig gewesen sein. In der Lebensphilosophie und in den Schriften Nietzsches findet sie eine wichtige Unterstützung aus dem Bereich der Wissenschaft. Der Tanz wurde damals für viele Menschen zu einer rettenden Insel, die es dem modernen, von der Zivilisation und ihren Folgen geschädigten Menschen ermöglichte, zu seiner „eigenen Ganzheit, wenn nicht sogar zum Weltganzen zu finden“ (S. 62).
In eben dieser Zeitenwende zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert wurden „bestimmte Elemente des klassischen Humanismus aufgegriffen … und (fanden) einen neuen Platz in antihumanistischen Denktraditionen. Nina Riedler konkretisiert diese Entwicklung in ihrem Beitrag „Der Niedergang des Humanismus“ am Beispiel des Werkes von Gabriele D´Annunzio (1863-1938). Sie schreibt: „In der literarischen Strömung des Renaissancismus spielt der Gedanke der Perfektion des Selbst eine zentrale Rolle. Ergänzt durch das Konzept des Übermenschen, wie Nietzsche ihn entworfen hat, entwickeln sich die Charaktere des Renaissancismus zu blutgierigen Machtmenschen…“ (S. 72)
Einen sehr interessanten Beitrag aus der arabischen Welt liefert die Geografin Shadia Husseini. Sie erforscht, wie die in öffentlichen Diskussionen im Westen als humane Konzepte, die ein friedvolles Miteinander ermöglichen, behandelten Werte Demokratie, Freiheit und Menschenrechte in der bedeutenden transnationalen Tageszeitung al-Hayat behandelt werden. Sie kommt zu dem Resultat, dass diese Werte in al-Hayat zwar bejaht werden, aber davon ausgegangen wird, dass ihre Verwirklichung nur „von Innen heraus“, und nicht von Aussen erzwungen werden kann (S. 103).
Zu den weiteren Beiträgen gehört u.a. jener von Dr. Katja Bendels, die anhand ausgewählter Prosa weißer Autoren die literarische Darstellung der aktuellen Debatte über eine Neuorientierung und -positionierung weißer Südafrikaner nach dem Ende der Apartheid verfolgt oder die Arbeit zum Thema ´Humanes Kapital und Humane Werte´ von Maren Borggräfe, die eine empirische Untersuchung der Unternehmenswerte der 30 im Deutschen Aktienindex DAX notierten Unternehmen präsentiert und nach deren Verknüpfung mit einer ´Ethisierung der Wirtschaft´ fragt.
Diskussion
Die Frage zu stellen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, wird in der heutigen von schnellem technischen Wandel und materiellem Denken geprägten westlichen Welt stark vernachlässigt. Es ist das große Verdienst von Björn Rüsen und seinen ´MitstreiterInnen´, diese Frage wieder aufgebracht und in moderne Kanäle gelenkt zu haben. Durch das Graduiertenkolleg in Essen gelang dies aus meiner Sicht auf hervorragende Weise. Das Ergebnis der Arbeit im Graduiertenkolleg ist nicht nur aus Sicht der Geisteswissenschaften faszinierend. Junge Menschen aus der ´ganzen Welt´ hatten Zeit und Gelegenheit, sich mit prägenden physischen, psychischen, moralischen und kulturellen Merkmalen des Menschseins zu beschäftigen.
Die Leserschaft dieses Sammelbandes kann sich freuen. Über die Vielseitigkeit der Themen unter einer ´Klammer´ (nämlich der des Prozesses des ´sich bildenden´ Menschen) und über die hohe Qualität der einzelnen Beiträge. Viele der im Rahmen des Humanismus-Projektes gehaltenen Vorträge wurden übrigens aufgezeichnet und sind im Internet verfügbar.
Fazit
Ein überaus gelungenes und interessantes Buch.
Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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Zitiervorschlag
Joachim Thönnessen. Rezension vom 02.03.2010 zu:
Gala Rebane, Katja Bendels, Nina Riedler (Hrsg.): Humanismus polyphon. Menschlichkeit im Zeitalter der Globalisierung. transcript
(Bielefeld) 2009.
ISBN 978-3-8376-1172-4.
Reihe: Der Mensch im Netz der Kulturen - Band 2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8725.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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